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Herausforderungen in der Präventionsarbeit
"Die Stunde (der Auferstehung) wird nicht kommen, bis die Muslime gegen die Juden kämpfen. Die Muslime werden sie töten, bis sich der Jude hinter Stein und Baum verbirgt, und Stein und Baum dann sagen: Muslim, Oh Diener Gottes! Da ist ein Jude hinter mir. Komm und töte ihn!"
Dieser Ausspruch, den die überwiegende Mehrheit islamischer Theologen dem Propheten Mohammed zuschreibt, ist für alle, die sich mit Islamismus in Deutschland befassen, ein guter alter Bekannter: Deutsche "Hassprediger" zitieren ihn regelmäßig, wie beispielsweise Ahmad Armih in einer Berliner Moschee im Rahmen eines Vortrags, oder Ibrahim Abou-Nagie.
Angesichts der hiesigen aufgeheizten Debatte über Antisemitismus bei Musliminnen und Muslimen ist es zunächst wichtig zu differenzieren zwischen (deutschen) Musliminnen und Muslimen, die religiös oder wenig bis gar nicht religiös sind, und (deutschen) Islamistinnen und Islamisten, die eine Islamisierung der Gesellschaft anstreben und unter Umständen bereit sind, dafür Gewalt einzusetzen. In diesem Beitrag geht es um Funktionen dieses islamistischen Antisemitismus‘ und Auswirkungen auf die pädagogische Arbeit mit Jugendlichen. Zweifelsohne verbreiten sich jedoch antisemitische Narrative aus islamistischen Bewegungen auch bei Musliminnen und Muslimen, die dem Islamismus entschieden entgegenstehen und ihn verurteilen. Darüber hinaus finden diese Narrative auch unter Nicht-Musliminnen und Nicht-Muslimen Anklang, denn der Islamismus ist eine Ideologie und Bewegung, die unabhängig von Religion und Herkunft Attraktivität ausstrahlt.
Grundsätzlich ist es relevant, den islamistischen Antisemitismus als "eine Variation des europäischen"
Ein alter Konsens: Feindbild Israel und die Juden
Theologisch begründeter, israelbezogener und antizionistischer Antisemitismus ist ein fester und gänzlich unstrittiger Bestandteil der islamistischen Ideologie. Zwar agierten und lebten islamistische Bewegungen und deren Vordenker bereits vor der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948, jedoch präzisierte beziehungsweise kontextualisierte sich die Feindschaft gegen Juden, die für Islamisten als Ungläubige gelten, neben den theologischen Begründungen zunehmend über den Hass auf Israel.
Um aktuelle Erscheinungsformen des Antisemitismus im Islamismus zu verstehen, ist ein knapper historischer Abriss hilfreich: Der Islamismus
Islamistische Organisationen und Akteure in islamischen, insbesondere arabischen Ländern, erlangten eine neue Volksnähe. Sie erreichten unterschiedliche gesellschaftliche Schichten und machten aus dem Islamismus auch eine antiimperialistische und antikapitalistische Bewegung. Nennenswert ist hier die Gründung der Vereinigung der Muslimbruderschaft 1928 durch den Ägypter Hasan al-Banna (1906-1949), deren wesentliche Agenda eine islamische öffentliche Ordnung und Antikolonialismus war. Schon kurze Zeit nach der Gründung verbreiteten sich die Ideen der Muslimbruderschaft unter anderem im damaligen Palästina. Die im Dezember 1987 gegründete Hamas entstand aus dem palästinensischen Zweig der Muslimbruderschaft.
Ein weiteres entscheidendes Moment, das neben der Dekolonialisierung die Ohnmachts- und Opfernarrative in der arabischen Welt stärkte und somit für islamistische Akteure und Ideen gute Voraussetzungen der Verbreitung bot, war das, was wir heutzutage unter dem Stichwort Nahostkonflikt subsummieren würden, und zwar mit seiner gesamten historischen Genese. Insbesondere die Staatsgründung Israels 1948
Der Hass und der erklärte Kampf gegen Juden und/oder Israel lässt sich bei nahezu allen führenden Ideologen und Bewegungen des Islamismus finden. Neben dem Großmufti Amin al-Husseini hatte der ägyptische Muslimbruder Sayyid Qutb (1906-1966) einen großen Einfluss auf die Ideen und Konzepte des Islamismus, unter anderem mit seiner Schrift "Unser Kampf mit den Juden" von 1950, in der er die ewige Feindschaft zwischen Juden und Muslimen theologisch herleitet. In der Charta der Hamas werden "die Juden" als politische Gegner definiert, die die Weltherrschaft erlangen möchten. In seiner Kriegserklärung gegen die USA und ihren Verbündeten Israel erklärte Osama bin Laden, der Gründer des islamistischen Netzwerks Al-Qaida, dass ein Boykott amerikanischer Produkte die "Allianz der Zionisten" beenden könne. Die islamistische Hisbollah-Bewegung aus dem Libanon, die 1985 mit der Veröffentlichung ihres Manifests offiziell die Bühne des politischen Geschehens betrat, änderte in ihrer revidierten Fassung von 2009 nicht die grundsätzliche Ablehnung des Staates Israel.
Antisemitische Narrative: Kontinuitäten bis heute
Das Feindbild "Israel und die Juden" ist bis heute en vogue in islamistischen Kreisen. Ein genauerer Blick auf Inhalte der professionellen Propaganda aktueller islamistischer Bewegungen in Deutschland und Europa zeigt, wie subtil und explizit zugleich Antisemitismus insbesondere im radikalen Salafismus
Auch werden klassische antisemitische Stereotype eingesetzt, wie die des unehrlichen und verräterischen Juden, der nur auf eigene Vorteile setzt: Juden hätten „mit billigen Tricks“ die Menschen betrogen, indem sie sich tagsüber als Muslime bezeichneten und nachts wieder Juden waren. Hier wird das Bild des unsichtbaren und hinterhältigen Juden reproduziert, das auch in nationalsozialistischen und rechtsextremen Ideologien bekannt ist. Dieser hinterhältige, später als Apostasie gedeutete Akt verpflichte zum Töten – so sei der Befehl Allahs, woraus auch eine erneute explizite Aufforderung, gegen Juden vorzugehen, hergeleitet wird.
Wie in der Blütezeit des Islamismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfüllt auch heute der Hass und erklärte Kampf gegen Israel im Islamismus vielfältige Funktionen. Israelbezogener Antisemitismus ist auch in Deutschland eine der meistverbreiteten Formen des Antisemitismus.
Eine Differenzierung zwischen Juden und dem Staat Israel findet nicht immer statt. Tatsächlich ist oft die Rede von Israel und "den Zionisten", um zu betonen, es ginge nicht um Juden. Diese Verschiebung wird in der Forschung als "Umwegkommunikation" bezeichnet, da in Bezug auf Israel und Zionismus antisemitische Einstellungen offener kommuniziert werden.
Auch hier fallen Analogien zu nicht-islamistischen Bewegungen auf, nämlich zur Argumentation der internationalen, auch in Deutschland aktiven Bewegung Boycott, Divestment and Sanctions (kurz: BDS), die Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren will und ebenfalls darauf pocht, dass dies nicht gegen Juden gerichtet sei, sondern lediglich gegen den Staat Israel.
Unterdrückung und Ohnmacht: Das palästinensische und das eigene Leiden
Kriege und Feindschaften zwischen Israel und arabischen Staaten stellten einen Nährboden für islamistische Bewegungen dar und sind bis heute für sie relevant. Empathie, Mitleid und Solidarität für Palästinenserinnen und Palästinenser waren ein Leitgedanke beziehungsweise -prinzip der islamistischen Bewegungen im 20. Jahrhundert. Die Verantwortung für die Situation der Palästinenserinnen und Palästinenser wird dabei nur der israelischen Seite zugeschrieben – auch ein Bild, das im hiesigen gesellschaftlichen Diskurs weit verbreitet ist.
Beispielhaft dafür ist ein Beitrag von "Generation Islam", eine nicht militante islamistische Gruppe, die in sozialen Medien sehr präsent ist und insbesondere das Opfernarrativ der "unterdrückten Muslime in Europa" reichlich bedient. Im Mai 2019 reagierte "Generation Islam" auf Auseinandersetzungen in Gaza: "Die Muslime im Gazastreifen haben sich auf den Ramadan gefreut, doch das unmenschliche zionistische Regime wollte den gescholtenen Menschen in Gaza die Freude des Ramadan nehmen, in dem sie zig unbewaffnete Personen – darunter schwangere Frauen, Kleinkinder und Babys – ermordet haben. Die Muslime in Gaza lassen sich nicht unterdrücken und hoffen auf den Tag der Befreiung. Möge Allah alle Unterdrückten weltweit befreien."
Mit einem Video wendet sich dieselbe Gruppe an die "deutsche Bevölkerung", um diese dafür zu gewinnen, etwas gegen die Ausgrenzung und Benachteiligung der deutschen Musliminnen und Muslime zu tun. Das Video "Der neue Jude: Der ewige Moslem" stellt in wenigen Minuten unter anderem die Diskriminierung gegen Musliminnen und Muslime dar und vergleicht diese mit den Anfängen des nationalsozialistischen Antisemitismus in den frühen 1930er-Jahren – der Titel und Inhalte des Videos spielen mit dem nationalsozialistischen Propagandavideo "Der ewige Jude" von 1940. Angeprangert wird die vermeintliche "Doppelmoral" seitens Politik und Öffentlichkeit, die dem Antisemitismus deutlich eine Absage erteile, aber bei der Benennung von Diskriminierung der Musliminnen und Muslime von Meinungs- und Pressefreiheit spreche.
Das Narrativ der sogenannten Opferkonkurrenz ist ein oft genutztes Mittel, um die eigene Ohnmacht und die konstruierten Differenzlinien zwischen "den Deutschen" und "den Muslimen" hervorzuheben. Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen von Musliminnen und Muslimen werden für islamistische Zwecke instrumentalisiert – dabei ist es zweitranging, ob diese auch selbst erlebt wurden. Im Vordergrund stehen die sekundär nachempfundenen Diskriminierungserfahrungen von Menschen, die zu dem imaginierten Kollektiv der "Muslime" gehören. Die Situation der Palästinenserinnen und Palästinenser ist in diesem Kontext praktisch der Siedepunkt und dient symbolisch dafür, wie "der Westen" mit Musliminnen und Muslimen umgeht.
Attraktivität von Antisemitismus
Nun stellt sich vielleicht die Frage: Warum die Juden? Warum gilt der Staat Israel als Feind? Die bessere Frage ist eher: Welche Funktion erfüllt Antisemitismus? Was bietet das antisemitische Weltbild? Jean-Paul Sartre schrieb 1946 dazu, der Antisemitismus sei keine Denkweise, sondern eine Leidenschaft. Denn, "wenn es keinen Juden gäbe, der Antisemit würde ihn erfinden." Für die Radikalisierungsprävention im Themenbereich Antisemitismus ist diese sozialpsychologische Perspektive für die pädagogische Arbeit hilfreich, wenn auch mit Einschränkungen. Denn Antisemitismus ist tatsächlich nicht nur als ein Vorurteil gegen Juden zu verstehen, sondern auch als Ausdruck einer Projektion von eigenen inneren Konflikten, die scheinbar nicht zu bewältigen sind. Das Feindbild "Jude" oder "Israel" fungiert dann als Welterklärung und Erklärung der eigenen Ohnmacht oder Niederlage. Der Erfolg des Antisemitismus liegt insbesondere darin, dass es eine Gruppe beziehungsweise ein Kollektiv braucht, um das Freund-Feind-Schema zu etablieren.
Das antisemitische Weltbild ist dualistisch und simpel: Es gibt das Gute und das Böse. Im Islamismus ist das Gute dann die quasi völkisch agierende umma, die Gemeinschaft der Gläubigen (Muslime), und alles, was dagegen und böse ist, wird nach außen projiziert. Diese recht simpel erscheinende Vorstellung ist ein stärkendes Element des Kollektivs, der eigenen Gemeinschaft, die dann wie die gute und heile Welt wirkt. Genau das ist ein Wesensmerkmal von extremistischen Gruppen, die durch ihre einfachen, dualistischen Weltbilder und Konstruktionen insbesondere auf Jugendliche eine große Anziehungskraft ausüben. Das antisemitische Weltbild kann für Jugendliche eine Erklärung für die Welt geben: Es erklärt, warum es Unglück und Böses gibt und verpflichtet letztlich zum Widerstand.
Pädagogische Arbeit gegen Antisemitismus
Dennoch ist es wichtig, die Funktion von Antisemitismus nicht nur als Projektion eigener scheinbar unüberwindbarer Konflikte zu verstehen. Denn diese Erklärung birgt die Gefahr, Jugendliche und junge Erwachsene, die sich antisemitisch äußern, zu pathologisieren. Antisemitische Äußerungen müssen nicht zwangsläufig der Ausdruck eines verfestigten antisemitischen Weltbildes sein. In der Arbeit mit der Zielgruppe ist es wichtig, nicht entlarvende und nicht identifizierende Pädagogik gegen Antisemitismus einzusetzen. Jugendlichen und jungen Erwachsenen muss ein Raum gegeben werden, ihre Anliegen, Erfahrungen und Motivationen zu äußern, ohne direkt sanktioniert zu werden. In Anlehnung an die aus der Reflexion und Kritik antirassistischer Bildungsarbeit entwickelte "rassismuskritische Perspektive"
Antisemitismuskritische Bildungsarbeit erfordert von den pädagogisch Verantwortlichen das Wissen über verschiedene Ausdrucksformen von Antisemitismus sowie dessen Spezifika in relevanten Milieus. Da Antisemitismus nicht immer leicht zu erkennen ist, müssen Motivationen hinter antisemitischen Äußerungen differenziert betrachtet werden. Denn nicht immer steckt hinter einem antisemitischen Argument eine antisemitische Absicht, da Stereotype und Vorurteile auch unbewusst übernommen werden können. Eine qualitative Befragung von Jugendlichen brachte verschiedene Motivationen für Antisemitismus hervor: Antisemitismus kann aufgrund einer gefestigten Ideologie und einer geschlossenen Weltanschauung in Erscheinung treten oder in Form eines Fragments. Antisemitische Äußerungen oder Verhalten können Ausdruck (unbewusster) antisemitischer Stereotype sein, Ausdruck jugendkultureller Rhetorik oder als Mittel zur Provokation dienen.
Umgang mit islamistischem Antisemitismus im pädagogischen Raum
Die Wahrnehmung der eben beschriebenen unterschiedlichen Motivationen hinter antisemitischen Ansichten ist wesentlich für die Entwicklung von verschiedenen Handlungsstrategien gegen Antisemitismus. Eine gefestigte Ideologie ist nicht durch rationale Argumentationen zu irritieren, jedoch ist eine Intervention gegen jede Form von antisemitischer Aussage notwendig, unabhängig davon, von wem sie wann geäußert wird. Präventionsarbeit gegen Islamismus ist gleichzeitig Präventionsarbeit gegen Antisemitismus.
Ein Problem in aktuellen Bildungs- und Präventionsprogrammen ist, dass sich diese insbesondere an (männliche) deutsch-muslimische Jugendliche richten, indem sie als Hauptzielgruppe identifiziert werden. Dieser Fokus ist zum einen problematisch, weil dadurch die gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen des Antisemitismus ausgeklammert werden. Zum anderen reproduziert der Fokus weit verbreitete antimuslimische Ressentiments, wie beispielsweise, dass muslimische Jugendliche besonders gewaltbereit und antisemitisch seien. Es sollte deutlich geworden sein, dass die Anziehungskraft und Attraktivität des Islamismus unabhängig von Religion, Herkunft und Geschlecht wirkt. Der Islamismus ist eine radikale Bewegung und Ideologie, die für Muslime und Nichtmuslime attraktiv sein kann, da sie bezüglich ihrer Strukturmerkmale wie andere Extremismen funktioniert, etwa über den Absolutheitsanspruch, das dualistische Weltbild und über die identitäre Forderung nach einer homogenen Gesellschaft. Antisemitischen Äußerungen, die im islamistischen Kontext zu verorten sind, sollte man selbstverständlich wie allen Ausdrucksformen von Antisemitismus immer entgegentreten.
Wie die eigenen Erfahrungen in der Bildungsarbeit mit Jugendlichen zeigen, drückt Antisemitismus sich in verschiedenen Formen aus: von theologischen Bezügen über die Feindseligkeit zwischen Juden und Muslimen, über eine stark ausgeprägte Solidarität mit den "palästinensischen Brüdern und Schwestern", die den Staat Israel dämonisiert und das Existenzrecht Israels infrage stellt, den Einfluss und die Macht "der Juden" in Politik und Wirtschaft in der ganzen Welt herausstellt oder sogar als Phantasma einer "jüdischen Weltverschwörung". Es sind dominante Narrative, die sich nicht nur im islamistischen Antisemitismus finden, sondern die auch in anderen Milieus und Bevölkerungsgruppen verbreitet sind.
Auf diese Äußerungen muss im pädagogischen Raum eingegangen werden, ohne entlarvend zu sein oder die Jugendlichen bloßzustellen. Es ist wichtig, dass Jugendliche die Möglichkeit erfahren, ihre Bilder, Vorurteile und Vorstellungen in einem geschützten Raum zu teilen – auch wenn diese krude und absurd wirken mögen. Vor allem in Lernräumen gibt es die Möglichkeit, über dialogische Interventionen vorhandene Bilder zu irritieren, Neues zu lernen und Altes zu verlernen. Der rigiden Vorstellung in extremistischen Gruppen, es gäbe immer ein "richtig" und "falsch", muss entgegengewirkt werden, indem Jugendlichen die Kompetenz der Ambiguitätstoleranz vermittelt wird, sprich: die Fähigkeit, Unsicherheiten, Ungewissheiten sowie Widersprüche auszuhalten.
Interveniert werden muss auch, wenn es zu sogenannten Opferkonkurrenzen kommt: Wem geht es schlechter? Wer "leidet mehr"? Dieses Thema wird von islamistischen Gruppen immer wieder aufgegriffen. In vielen von der Autorin geleiteten Diskussionen über Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen kam es vor, dass von den Teilnehmenden statt des Antisemitismus dann Rassismus gegen Musliminnen und Muslime zum Thema gemacht wurde. Es hieß dann, man könne nicht über antisemitische Narrative unter Muslimen sprechen, denn diese seien selbst betroffen von Rassismus. Dass Jugendliche sich ungerecht behandelt fühlen und ihre eigene Ausgrenzungserfahrung als schlimmer und dringender empfinden, sollte nicht gleich sanktioniert werden, sondern im Gegenteil: Diese Selbstoffenbarung sollte in pädagogischen Räumen ernst genommen werden.
Eine Diskussion aus einem Workshop der Bildungsstätte Anne Frank macht dies deutlich: Es ging um ein Meme zu dem Karikaturenstreit im Mai 2018, als die Süddeutsche Zeitung nach der Veröffentlichung einer Karikatur, die von vielen Akteuren als antisemitisch wahrgenommen wurde, die Zusammenarbeit mit ihrem langjährigen Zeichner Dieter Hanitzsch beendete. In sozialen Medien kursierte schnell ein Vergleich mit dem Karikaturisten Kurt Westergaard aus Dänemark, der 2005 zwölf Karikaturen von Mohammed angefertigt hatte und deshalb Morddrohungen erhalten hatte und gleichzeitig den Potsdamer Medienpreis für seinen Mut erhielt. Das schnell erstellte und einfach zu verstehende Meme, das beide Karikaturisten zusammenbrachte, wurde sowohl von islamistischen als auch rechtsextremen Seiten geteilt und genutzt – als Beleg für die antisemitische Vorstellung, die Juden kontrollierten die Medien.
Während den Jugendlichen die Nutzung des Memes im rechtsextremen Kontext nicht gefiel, wurde die "Doppelmoral" beziehungsweise "doppelte Standards" im Umgang mit den beiden Karikaturen moniert. Dazu wurden weitere Beispiele eingebracht: Nach dem islamistischen Attentat auf Mitglieder der Redaktion von Charlie Hebdo in Paris im Januar 2015 reisten aus Solidarität mehrere Staatsvertreterinnen und -vertreter nach Paris. Nach dem rechtsextremen Attentat auf eine Moschee in Neuseeland im März 2019 hatten die Jugendlichen weniger Solidarität und weniger Empörung wahrgenommen.
Klar ist: Antisemitismus und Rassismus müssen bekämpft werden, aber unpassende Vergleiche zwischen den betroffenen Gruppen erschweren diesen Kampf. Grundsätzlich ist Empörung über eine (vermeintliche, gefühlte oder reale) Ungleichbehandlung gut und wichtig. Denn Jugendliche sollen Selbstreflexion und Hinterfragen erlernen. Dabei können, dürfen und sollten sie sich empören. Entscheidend sind die Art und Sprache der Intervention seitens der Pädagoginnen und Pädagogen, die möglichst zuschreibungs- und diskriminierungssensibel sein sollten. Die Voraussetzung hierfür ist, dass sich Pädagoginnen und Pädagogen kontinuierlich und tiefergehend mit der eigenen Haltung, mit eigenem Wissen und Vorurteilen über Antisemitismus und Rassismus auseinandersetzen
Hilfreich sind hier Gegen-Narrative, die die Jugendlichen irritieren und herausfordern, ihre Bilder zu hinterfragen. Bei den Beispielen der Karikaturen oder der fehlenden Solidarität lassen sich viele andere Beispiele finden, die dem empörten Narrativ widersprechen. Denn gerade weil die Phase der Adoleszenz eine so brüchige ist, muss diese von Widersprüchen geprägt sein, und sowohl Irritation als auch Gegenirritation sind wirkungsvolle Instrumente in der pädagogischen Arbeit gegen Antisemitismus. Daher muss von Pädagoginnen und Pädagogen anerkannt werden, dass sich die Gefühle und Einstellungen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ändern können. Die Pädagoginnen und Pädagogen müssen diejenigen sein, die über die Beziehungsarbeit mit den Jugendlichen ihre Entwicklung beeinflussen und dadurch die Möglichkeit und eine Mitverantwortung haben, problematischen und antidemokratischen Tendenzen entgegenzuwirken.
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