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Diskriminierung als Radikalisierungsfaktor?
‚Radikalisierung‘ steht im Mittelpunkt zahlreicher gesellschaftlicher, wissenschaftlicher und politischer Debatten und ist ein bedeutsames Schlagwort unserer Zeit.
Der Blick auf die Forschungslandschaft zu Radikalisierungsphänomenen in diesem Feld zeigt, dass diese äußerst komplex und vielschichtig sind; dies gilt auch für ursächlich wirkende oder beeinflussende Bedingungen und Faktoren. Letztlich lässt sich wohl nur über eine Berücksichtigung des Zusammenspiels verschieden gelagerter Einflüsse eine adäquate Einschätzung erreichen.
Als ein Faktor – neben anderen –, dem im Zusammenhang mit Radikalisierungsprozessen eine große Bedeutung zugeschrieben wird, wird wiederkehrend das Erfahren von Diskriminierung sowie Benachteiligung und Ausgrenzung benannt.
Doch wie lassen sich solche dynamischen Entwicklungen verstehen? Wie genau kann dies in der ganz konkreten Lebensrealität von Menschen einen Niederschlag finden? Auf diese Fragen möchte ich vertiefend eingehen – unter Bezugnahme auf biografische Skizzen zur 18-jährigen Lina, mit der ich im Rahmen meines Promotionsprojekts
Lina, 18 Jahre: Diskriminierung und Ausgrenzung als alltägliche Erfahrung
Seit ihrer Geburt lebt Lina in einer deutschen Großstadt. Zur Türkei als dem Land, aus dem ihre Eltern nach Deutschland migriert sind, hat sie kaum Bezüge. In ihren ausführlichen Darstellungen zur eigenen Biografie wird deutlich, dass (rassistische) Diskriminierung und Ausgrenzung etwas sehr Negatives und Alltägliches für sie darstellen. Die Gründe hierfür sind unterschiedlich. Zum Teil wird sie wegen einer sprachlichen Besonderheit (sie stottert) immer wieder – meist von Gleichaltrigen – beleidigt und ausgegrenzt. Daneben wird sie aufgrund diagnostischer Urteile, die Assoziationen zu struktureller Diskriminierung durchscheinen lassen,
Diskriminierungsrelevante Erfahrungen finden in besonders expliziter Weise dann aber vor allem ab Linas elftem Lebensjahr als etwas immer bedrohlicher Werdendes ihren biografischen Niederschlag – als sie sich an den Frauen in ihrer familiären Umgebung orientiert und – gegen den Widerstand der Eltern – beginnt, ein Kopftuch zu tragen. Dieses, so sagt sie, habe sie damals unbewusst getan und eigentlich nie so richtig gewusst, warum. Zum Zeitpunkt des Anlegens des Kopftuchs verfügte Lina über kein Wissen darüber, "was es heißt, ein Kopftuch zu tragen" – sowohl in religiöser Hinsicht als auch hinsichtlich der Reaktionen der Umwelt, die nicht lange auf sich warten ließen und sich in der Folge zu einem zentralen Thema für sie entwickelten.
Anfeindungen durch und Auseinandersetzungen mit Lehrkräften, Mitschülerinnen und Mitschülern und gänzlich unbekannten Personen im Alltag, bei denen sie auf das Tragen des Kopftuchs reduziert wurde, spiegeln sich facettenreich in ihren biografischen Erzählungen wider. Im Zentrum der Erfahrungen Linas steht, dass ihr wiederkehrend eine selbstverständliche Zugehörigkeit zur bundesrepublikanischen Gesellschaft und damit ein Gefühl von Normalität verwehrt wird. Sie wird in sozialen Kontexten – um einen Ausdruck aus der rassismuskritischen Forschung zu verwenden – kontinuierlich ‚ge-andert‘
Es sind vor allem rassismusrelevante Adressierungen als ‚Kopftuchträgerin‘, die mit bestimmten Assoziationen verknüpft werden. So wird sie als ‚Unterdrückte‘ oder auch als ‚gefährliche Muslima‘ imaginiert und diskriminiert. Lina sieht sich in ihrem Alltag ständig einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, wieso sie ein Kopftuch trägt – und auch bei der Suche nach einem Nebenjob wird dieses zum zentralen Gegenstand von Problemen. Lina, die es leid ist, hinsichtlich beruflicher Tätigkeiten nur auf muslimische Kontexte angewiesen zu sein, schildert, wie sie nach langer Suche eine Tätigkeit in einem Supermarkt gefunden hat. Überschwänglich gibt sie im Interview an, es sei ein "Traum" gewesen, endlich einen Nebenjob gefunden zu haben. Jedoch hagelte es in der Folgezeit, so Lina, "ganz viele Beschwerden", die sich darauf bezogen, dass die junge Frau Kundinnen und Kunden durch das Tragen des Kopftuchs "abschrecke". Lina, die nicht erkennt, dass nicht sie als Person es ist, auf die sich die Beschwerden beziehen – sondern vielmehr das rassismusrelevante Bild ‚der (gefährlichen und/oder unterdrückten) Kopftuchträgerin‘ – versucht, durch das Ändern der Kopftuchfarbe und andere Wickeltechniken ("hab auch extra mein Kopftuch immer von hinten gemacht so wie n Turban, damit das nicht auffällt") ‚weniger abschreckend‘ zu wirken. Aber was sie auch tut, mit ihren Bemühungen scheitert sie und so stellt sie fest:"irgendwie egal was man macht, man hat keine Chance".
Hinwendung zur Religion
Mehr und mehr reagiert Lina im biografischen Verlauf abwehrend auf die subtilen oder expliziten Zuschreibungen von Fremd- oder Andersartigkeit. Sie sagt, sie sei dessen überdrüssig, sich mit ihren Selbstverständlichkeiten dem Druck ausgesetzt zu fühlen, sich rechtfertigen zu müssen: "1000 Mal erklären, erklären, erklären". Mit der Zeit sei es ihr "dermaßen zu viel geworden". Sie verweist darauf, wie stark es sie belastet, dass ihr nicht neutral oder bestenfalls mit grundlegendem Respekt begegnet wird.
Die prozesshaften Entwicklungen, wie sie sich bei Lina nachzeichnen lassen, zeigen, dass sie wiederkehrend in totaler Weise als ‚Muslima‘ – und zwar als Prototyp ‚der Muslima‘ – identifiziert wurde. Sie wurde also nur über eine einzige Dimension ihrer multiplen Zugehörigkeiten adressiert.
Wo ihr Religionsbezug über viele Jahre kaum eine Relevanz für Lina hatte, stellt sich in Reaktion auf die skizzierten Erlebnisse eine Veränderung ein. Lina setzt sich zunehmend mehr mit der Religion auseinander – auch und anfänglich vor allem aus dem Grund, "damit mich nicht Leute fertig machen können, warum du das Kopftuch trägst, damit ich was entgegenbringen kann". Religion wird mehr und mehr zum zentralen Aspekt ihrer Selbstdefinition und -identifikation. Von zunehmender Wichtigkeit werden in diesem Zusammenhang muslimische Bezugspersonen und -gruppen, die ähnliche Erfahrungen teilen –"Menschen genau wie ich". Den Austausch mit und den Kontakt zu ihnen beschreibt Lina als Prozess des Empowerments. Hier nimmt sie wahr, dass sie einfach die sein kann, als die sie selbst sich sieht und dass sie nicht angefeindet wird oder sich gezwungen fühlt, sich rechtfertigen zu müssen. Die sich nach Normalität und selbstverständlicher Zugehörigkeit sehnende Lina findet hier eine Hilfs- und Solidargemeinschaft.
‚Ende gut, alles gut?‘
Keineswegs – und das in zweierlei Hinsicht. Zum einen dokumentiert sich in Linas Entwicklungen in dramatischer Weise, welche biografische Wirkmächtigkeit Diskriminierung und Rassismus entfalten können. Wiederkehrend erfährt die 18-Jährige das Gefühl, von der Gesellschaft nicht angenommen und akzeptiert zu werden. Dem Schutzraum, den ihre muslimischen Bezugsgruppen ihr ermöglichen, kommt in diesem Zusammenhang eine wichtige Bedeutung zu. Es verbietet sich, derartige Schutzräume aufgrund ihrer Bedeutung für Menschen mit Diskriminierungserfahrungen in einer sie diskriminierenden Umwelt generell zu problematisieren. Aber mit Blick auf die Frage, wie sich die Gruppe zusammensetzt, lässt sich eine mögliche Antwort auf Zusammenhänge zwischen Radikalisierung und Diskriminierung formulieren.
Islamistische oder neosalafistische Akteurinnen, Akteure und Gruppen können vor dem Hintergrund von Erfahrungen des Ausschlusses, wie Lina sie gemacht hat, sehr attraktiv erscheinen. Auf der einen Seite vermitteln sie das Gefühl von (exklusiver) Gemeinschaft, von Zugehörigkeit und Anerkennung, bieten Eindeutigkeiten und Handlungsmöglichkeiten, die mit dem Versprechen verbunden sind, Unsicherheiten zu reduzieren und Problemlagen zu bewältigen.
In Linas muslimischen Bezugsgruppen wird so z. B., wie sie berichtet, über die zentrale (Selbst-)Wahrnehmung der Beteiligten als Adressatinnen und Adressaten von Rassismus und Diskriminierung auf das Narrativ einer globalen, unterdrückten Gemeinschaft ‚der Musliminnen und Muslime‘ rekurriert. Vermengt werden hier subjektive Erfahrungen mit Diskriminierungen und Wahrnehmungen der tatsächlichen oder vermeintlichen Marginalisierung von Musliminnen und Muslime weltweit. Bei Lina zeichnet sich zum Zeitpunkt des Interviews eine affirmative Übernahme derartiger Deutungsangebote ab. Die Wahrnehmung eines ‚Wir‘ und die Selbstverortung in diesem ist über die Konstruktion von Freundbildern unmittelbar mit Feindbildern verbunden. Anschlussfähig zeigen sich hier u. a. antiamerikanische und antisemitische Vorstellungen.
Fazit
Wenn Rogers Brubaker
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