Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Zwischen Religionsfreiheit und möglicher Kindeswohlgefährdung | Infodienst Radikalisierungsprävention | bpb.de

Radikalisierungsprävention Islamismus Nach Berufsgruppen Schule & pädagogische Praxis Politische Bildung Jugendarbeit & Soziale Arbeit Wissenschaft & Forschung Sicherheitsbehörden & Justiz Verwaltung & Politik Beratung & Ausstieg Kinder- & Jugendhilfe Journalismus & Medien Hintergrund-Beiträge Grundlagen: Begriffe & Konzepte Islamismus, Salafismus, Dschihadismus Salafismus – was ist das überhaupt? "Politischer Islam" Die Begriffe Radikalisierung, Deradikalisierung und Extremismus Zum Konzept der Prävention Was ist antimuslimischer Rassismus? Debatte: Politische Bildung & Primärprävention Islamismus: Gruppierungen, Ideologie & Propaganda Zahlen zur islamistischen Szene in Deutschland Die salafistische Szene in Deutschland "Legalistischer Islamismus" als Herausforderung für die Prävention Die Hizb ut-Tahrir in Deutschland Die Furkan-Gemeinschaft Mädchen und Frauen im Salafismus Antisemitische Narrative in deutsch-islamistischen Milieus Antimuslimischer Rassismus als islamistisches Mobilisierungsthema Monitoring von islamistischen YouTube-Kanälen Salafistische Online-Propaganda Das Virus als Mittel zum Zweck Dschihadistinnen. Faszination Märtyrertod Gewalt als Gegenwehr? Ausdifferenzierung der islamistischen Szene in Deutschland LGBTIQ*-Feindlichkeit in islamistischen Social-Media-Beiträgen Gaming und islamisch begründeter Extremismus Radikalisierung: Gründe & Verlauf Radikalisierung – eine kritische Bestandsaufnahme Islamistische Radikalisierung bei Jugendlichen erkennen Psychosoziale Aspekte von Radikalität und Extremismus Interview mit Ex-Salafist Dominic Musa Schmitz Wie sich zwei Teenager radikalisierten Welche Rolle spielt Religion? Diskriminierung und Radikalisierung Erfahrungen von Rassismus als Radikalisierungsfaktor? Radikalisierung bei Geflüchteten Faktoren für die Hinwendung zum gewaltorientierten Islamismus Wer sind die "IS"-Unterstützer? Deutschsprachiger Islamkreis Hildesheim: Geschichte einer Radikalisierung Anzeichen von Radikalisierung Prävention & Politische Bildung Ansätze der Prävention mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen 20 Thesen zu guter Präventionspraxis Religion – eine Ressource in der Radikalisierungsprävention? Emotionen in der Präventionsarbeit Counter Narratives Gender-reflektierte Präventionsarbeit Die Bedeutung innermuslimischer Salafismuskritik für die Radikalisierungsprävention Rechtsextremismus und Islamismus - Was ist übertragbar? Phänomenübergreifende Jugendkulturarbeit Museen & Extremismusprävention Paradies – Hier, Jetzt, Später? Muslimische Jugendarbeit Muslimische Institutionen & Prävention Politische Bildung im Jugendstrafvollzug Politische Bildung in der Untersuchungshaft Prävention in Gefängnissen Jugendquartiersmanagement Interview: Polizei und Extremismusprävention in Mannheim Videos und soziale Medien: Prävention im Internet Online-Streetwork gegen Extremismus Aufsuchende Sozialarbeit in Social Media Online-Projekt: Fragen zum Glauben Phänomenübergreifende Radikalisierungsprävention Polizei NRW: Kontaktbeamte für muslimische Institutionen Beratung & Fallmanagement Interview: Die Rolle der Angehörigen in der Radikalisierungsprävention Der rechtliche Rahmen für die Präventionspraxis Datenschutz in der Präventionsarbeit Religionsfreiheit vs. Kindeswohlgefährdung Psychische Störungen im Zusammenhang mit Radikalisierung Beratung in Zeiten von Corona Risk Assessment im Phänomenbereich gewaltbereiter Extremismus BAMF: Prävention im Flüchtlingsbereich Mit Kommunaler Fachberatung zu einer nachhaltigen, lokal verankerten Radikalisierungsprävention Deradikalisierung & "IS"-Rückkehrende „Rückkehrer:innen radikalisierten sich meist in Gruppen" Pädagogische Ansätze zur Deradikalisierung Zur Rolle von Psychotherapie in der Ausstiegsbegleitung und Deradikalisierung Ausstiegsarbeit und Psychotherapie Distanzierung vom Salafismus Wie "ZiVI-Extremismus" Beratungsstellen für Deradikalisierung unterstützen kann Praxisbericht: Deradikalisierung im Strafvollzug Wie das BAMF den Umgang mit Rückkehrenden koordiniert Interview: Zurück aus dem "Kalifat" Rehabilitation von "IS"-Rückkehrerinnen und ihren Kindern Rückkehrende und Strafjustiz Rückkehrer und "Homegrown Terrorists" Pädagogische Ansätze zur Deradikalisierung Islamismus & Prävention in Schule & Jugendarbeit Diskutieren mit radikalisierten Schülerinnen und Schülern Globale Konflikte im Klassenzimmer Umgehen mit Kindern aus salafistisch geprägten Familien Kinder in salafistisch geprägten Familien Radikalisierung an Schulen früh erkennen FAQs zum Sprechen über Anschläge Mohammed-Karikaturen im Unterricht Schweigeminuten: Möglichkeiten & Fallstricke Salafismus als Herausforderung für die Offene Kinder- und Jugendarbeit Radikalisierungsprävention in der Schule Interview: Wie können Schulen reagieren? „Die Kids sind auf TikTok und wir dürfen sie dort nicht allein lassen" Akteure, Netzwerke & Internationales Serie: Islamismusprävention in Deutschland BAG religiös begründeter Extremismus Das KN:IX stellt sich vor Radicalisation Awareness Network RAN aus Praxis-Sicht Hass im Netz bekämpfen Bundesprogramm gegen Islamismus Soziale Arbeit und Sicherheitsbehörden Zusammenarbeit Beratungsstellen & Jugendhilfe Kommunale Radikalisierungsprävention Netzwerkarbeit vor Ort: Augsburg "Prevent", die Anti-Terrorismus-Strategie Großbritanniens Interview: Vilvoorde – vom "belgischen Aleppo" zum Vorbild Frankreich: Was hilft gegen Dschihadismus? Forschung & Evaluation Übersicht: Forschung zu Islamismus Übersicht: Evaluation von Präventionsprojekten modus|zad: Zwischen Forschung und Praxis Umfrage: Phänomenübergreifende Perspektiven gefordert, Islamismus weiterhin relevant Partizipative Evaluationen Evidenzbasierte Prävention (Neue) Evaluationskultur? Evaluation neu denken Das "Erwartungsdreieck Evaluation" Evaluation von Präventionspraxis Angemessene Evaluationsforschung Weitere Themen Das Sprechen über den Islam Gesetze und Plattformregeln gegen Online-Radikalisierung MasterClass: Präventionsfeld Islamismus Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz Türkischer Ultranationalismus als pädagogisches Arbeitsfeld Hintergrund-Beiträge chronologisch Schwerpunkt-Themen: Serien "Legalistischer" Islamismus Psychologie & Psychotherapie Antimuslimischer Rassismus Rechtlicher Rahmen Kooperation von Präventionsakteuren Umgang mit Anschlägen in der Schule Evaluationen Materialsammlungen Wie umgehen mit dem Nahostkonflikt? – Eine Übersicht für Schulen und Bildungseinrichtungen Handreichung: Schule und religiös begründeter Extremismus Handreichung: Umgang mit Anschlägen Pädagogische Materialien Sekundarstufe Grundschule Medien für den Unterricht Publikationen für die Schule Jugendbücher & Unterrichtsmaterialien von dtv Fachbeiträge für Schule und Pädagogik im Kontext Islamismus und Prävention Video & Audio Video: Dokumentationen, Filme & Erklärvideos Podcast-Serien und Radiobeiträge Veranstaltungen: Vorträge, Podiumsdiskussionen & Fachgespräche Islam & muslimisches Leben Bücher & Zeitschriften Fachbücher Sachbücher Biografien & Autobiografien Romane Fachzeitschriften Broschüren, Handreichungen & Online-Portale Service Newsletter: Abo & Archiv Newsletter-Archiv Datenbank: Beratung & Angebote vor Ort finden FAQ Infodienst-Publikationen Infodienst-Journal Aktuelle Termine Termin-Rückblick 2023 Termin-Rückblick 2022 Termin-Rückblick 2021 Termin-Rückblick 2020 Stellenangebote Über den Infodienst & Kontakt Verlinkung mit dem Infodienst

Zwischen Religionsfreiheit und möglicher Kindeswohlgefährdung Aufwachsen in salafistischen Familien – Herausforderung für die Jugendhilfe

Nora Fritzsche Anja Puneßen

/ 7 Minuten zu lesen

Wachsen Kinder in salafistisch orientierten Familien auf, stellt dies die Jugendhilfe vor große Herausforderungen. Wie soll sie umgehen mit einem vielschichtigen Phänomen zwischen Religionsfreiheit und einer möglichen Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII? Welche Konfliktpunkte bestehen? Wie sehen die sorgerechtlichen Möglichkeiten aus?

Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & Hintergrund-InfosNewsletter zu Radikalisierung & Prävention abonnieren

Bleiben Sie auf dem Laufenden im Arbeitsfeld Radikalisierungsprävention! Termine, Stellen, News, Materialien, Videos & neue Hintergrund-Beiträge des Infodienst Radikalisierungsprävention – alle sechs Wochen per E-Mail.

Interner Link: → Zum Newsletter-Abonnement

Dieser Beitrag ist Teil der Interner Link: Infodienst-Serie "Rechtlicher Rahmen".

Der zeitgenössische Salafismus bildet seit einigen Jahren den Ausgangspunkt einer zwar kleinen, aber schnell wachsenden Jugendsubkultur in Deutschland. Als solche erfährt er mittlerweile viel Aufmerksamkeit. Im Brennpunkt der Wahrnehmung stehen dabei zumeist Jugendliche, die sich eigenständig und meist gegen den erklärten Willen ihrer Eltern radikalisieren.

Salafismus

Der Begriff Salafismus kommt vom arabischen as-salaf as-salih (dt. Die ehrwürdigen Altvorderen) und bezeichnet eine fundamentalistische Strömung im Islam, die nur einen wortwörtlich verstandenen Koran, die Prophetentradition und die Lebensweise der Altvorderen als Quellen eines authentischen Islam anerkennt. Damit einher geht ein absoluter Wahrheitsanspruch und die Ablehnung anderer Glaubensrichtungen – muslimischer wie nichtmuslimischer.

Gewaltbereit ist dabei nur ein kleiner Teil der Szene. Hier unterscheidet man zwischen dem puristischen, politischen und dschiihadistischen Spektrum. Puristen leben ihre religiösen Überzeugungen im Privaten und verfolgen keine politischen Ziele. Politische Salafisten fordern eine Anwendung ihrer Glaubenssätze auf das öffentlich-politische Leben. Lediglich die kleine Gruppe der Dschihadisten ist jedoch bereit, dies auch mit Gewalt durchzusetzen. Die Konfliktpunkte aus Sicht des Kinder- und Jugendschutzes sind je nach Strömung sehr unterschiedlich.

Das starke Anwachsen der Szene in den letzten Jahren und die Ausreise- und Rückkehraktivitäten ganzer Familien legt aber immer stärker auch die Frage nach der Situation von Kindern und Jugendlichen in salafistischen Familien nahe. "Salafisten erziehen Hass-Kinder" titelten dazu im vergangenen Jahr zahlreiche Zeitungen. Der Leiter des Staatsschutzes der Frankfurter Polizei, Wolfgang Trusheim, berichtete von Einzelfällen, in denen Kinder Terroristen in Kampfmontur gemalt oder vom Leben als Dschihadist fantasiert hätten. "Sie bekommen zu Hause eingetrichtert, dass sie andere Kinder nicht akzeptieren sollen, weil sie Ungläubige seien", zitierte ihn die Hessenschau. Forderungen richtete er an Jugendämter; sie seien in der Verantwortung, solche Kinder in Obhut zu nehmen. Auch die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder und FDP-Vize Wolfgang Kubicki forderten, von allen sorgerechtlichen Möglichkeiten Gebrauch zu machen und salafistisch orientierten Eltern das Sorgerecht für ihre Kinder zu entziehen. Doch wie sehen die rechtlichen Möglichkeiten hier überhaupt aus? Welche Familienverständnisse und Erziehungsstile findet man in salafistischen Familien vor und wo liegen Konfliktpunkte aus Sicht des Kinder- und Jugendschutzes?

Diese Fragen fanden in der Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Salafismus bisher wenig Aufmerksamkeit. Sie sind aber gerade für den Kinder- und Jugendschutz natürlich von zentraler Bedeutung und werden von dieser Stelle (sowie aus dem Bereich der frühkindlichen Bildungseinrichtungen) seit einigen Monaten verstärkt gestellt. Das hat die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (AJS) NRW zum Anlass genommen, diesen Aspekt genauer – und differenzierter – in den Blick zu nehmen. Im Februar 2017 fand dazu im Rahmen des landesweiten Präventionsprojekts Plan P. eine erste Fachtagung statt. Sie beleuchtete und diskutierte mit Fachkräften aus ganz NRW vorherrschende Familienverständnisse und Erziehungsstile in salafistischen Familien sowie mögliche Konfliktpunkte aus Sicht des Kinder- und Jugendschutzes. Einige erste Ergebnisse soll dieser Artikel sammeln und darstellen, um sorgerechtliche Möglichkeiten im Kontext Salafismus auszuloten. Dafür ist es zunächst notwendig, sich mit den zugrundeliegenden Rechtsbestimmungen zu beschäftigen.

Elternautonomie

Artikel 6 des Grundgesetzes bestimmt Elternautonomie als das Recht und die Pflicht von Eltern zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder.

Art. 6 Abs. 2 GG

"Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft."

Er berechtigt sie also, ihre Kinder frei von staatlichen Eingriffen und nach ihren Vorstellungen zu erziehen. Aus der Erfahrung des Nationalsozialismus heraus, der Erziehungsstile im Sinne der politischen Ideologie vorschrieb, hat die elterliche Autonomie heute einen hohen Stellenwert. Eltern können "grundsätzlich frei von staatlichen Einflüssen und Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten" (BVerfG 59, 360). Dem liegt die Annahme zugrunde, dass "in aller Regel Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution" (BVerfGE 59, 360). Dies gilt auch im religiösen Kontext, hier gewähren Art. 4 GG und § 1 des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung entsprechende Freiheiten und Rechte.

Aus dem Elternrecht nach Art. 6 GG resultiert aber auch eine Pflicht, die Elternverantwortung, über deren Betätigung die staatliche Gemeinschaft wacht. Eltern sind als Garanten für die Förderung, die Versorgung und den Schutz ihrer Kinder verantwortlich (Möller, Praxiskommentar SGB VIII, § 8a, Rn. 1). Das Elternrecht findet daher dort seine Grenzen, wo Eltern in dieser Rolle versagen oder ihre elterliche Sorge missbrauchen.

Kindeswohlgefährdung

Voraussetzung für jede Art von staatlichem Eingriff in die Elternautonomie ist die Gefährdung des Kindeswohls auf seelischer und/oder körperlicher Ebene und die fehlende Gefahrenabwehr durch die Eltern. Von Kindeswohlgefährdung spricht man im Falle einer "gegenwärtige[n], in einem solchen Maß vorhandene[n] Gefahr, dass sich bei weiterer Entwicklung ohne Intervention eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt" (BVerfG in FamRZ 15, 112; BGH in FamRZ 16, 1752). Jeder Fall bedarf also einer individuellen Einschätzung nach Art der Gefährdung, der Erheblichkeit der Schädigung und der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts. Dieser muss nicht bereits eingetreten, aber begründet vorhersehbar sein.

Das heißt: Bei Maßnahmen im Kontext einer Kindeswohlgefährdung geht es nicht um einen wie auch immer definierten Erziehungsstil, sondern darum, eine ganz konkrete Gefahrensituation abzuwenden. Diese muss nicht körperlicher Art sein. Gefährdungen des Kindeswohls können auch in Entwicklungsrückständen, Verwahrlosung, psychischen Schwierigkeiten wie der Neigung zur Gewalt, sozialer Unverträglichkeit oder in einer Traumatisierung Ausdruck finden. Zudem lässt sich eine Kindeswohlgefährdung selten an einer singulären Situation oder einem isolierten Tatsachenmerkmal festmachen, sondern beschreibt in der Regel ein umfassendes Versagen der Elternverantwortung oder einen Missbrauch der elterlichen Sorge.

An dieser Stelle tritt der Schutzauftrag des Jugendamtes in Kraft (§ 8a SGB VIII), das Maßnahmen zur Abwendung der Gefahr zu treffen hat. Dies beinhaltet in der Regel zunächst den Versuch, Eltern zur Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung zu bewegen. Die Entziehung des Sorgerechts und die Inobhutnahme ist das letzte und härteste Mittel. Es gelten der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Vorrang von Leistungen vor Eingriffen. Dies gilt auch im Kontext des Themas Salafismus.

Salafismus und Kindeswohlgefährdung

Es lässt sich hier zunächst festhalten, dass das Aufwachsen im Salafismus nicht per se eine Kindeswohlgefährdung darstellt. Zwar besteht im Salafismus auch abseits einer Militanz durchaus das Risiko einer potentiell konfliktträchtigen Erziehung, jedoch muss auch hier eine ganz konkrete und gegenwärtige Gefährdung des Kindeswohls im Rahmen einer Einzelfallprüfung festgestellt werden, bevor staatliche Eingriffe gerechtfertigt sind. Insoweit lassen sich Parallelen zum Aufwachsen im rechtsextremen Spektrum sowie sogenannten Sekten ziehen. Beides rechtfertigt nicht per se ein Eingreifen in die elterlichen Befugnisse.

Mögliche Merkmale

Abgesehen von extremen Fällen, wie einer bevorstehenden Ausreise in ein Kriegsgebiet zum Zweck der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, können – angelehnt an die Erfahrungen aus dem Themenfeld der sogenannten Sekten – folgende Verhaltensweisen in salafistischen Familien das Kindeswohl möglicherweise gefährden:

  • beträchtliche gesellschaftliche Isolation und Außenseiterrolle,

  • Unterdrückung persönlicher Bindungen, zum Beispiel zu Andersgläubigen (nach dem salafistischen Grundsatz al-Walā' wa-l-barā, Loyalität und Lossagung)

  • Kontrollpraktiken und Beschwörung von Schuldgefühlen,

  • stark angsterzeugende Erziehungsstile durch dämonische Bilder,

  • überzogene Verhaltensregeln,

  • Einschränkung der kindlichen Autonomie,

  • Zwangsehen beziehungsweise Kinderehen, die nicht unbedingt typisch sind, aber in bestimmten salafistischen Milieus vorkommen können,

  • körperliche "Züchtigung" von Kindern und/oder Zeugenschaft häuslicher Gewalt gegen Frauen, die ebenfalls in einigen salafistischen Milieus als religiös legitimiert angesehen werden können,

  • dauerhafte Konfrontation mit Gewaltdarstellungen (beispielsweise in Terrorpropaganda oder der Darstellung von Kriegsgräuel).

Auch aus dem Bereich rechtsextremer und völkischer Familien lassen sich einige Parallelen ziehen. Hier werden neben den bereits genannten Punkten noch überfordernde Loyalitätskonflikte und autoritäre, auf Gehorsam und Unterwerfung abzielende Erziehungsstile genannt. All diese Punkte können in salafistisch geprägten Familien auftreten, müssen es aber nicht. Auch hier gilt es also genau hinzuschauen, wie die konkrete Erziehungssituation aussieht.

Fazit

Radikale religiöse Überzeugungen oder sogar die Zugehörigkeit der Eltern zu extremistischen Strömungen sind keine ausreichenden Merkmale einer Kindeswohlgefährdung. Erziehungsleitbilder sind den Eltern überlassen. Auch daraus resultierende Nachteile für das Kind, die im Falle salafistisch orientierter Erziehung bestehen können, müssen hingenommen werden, soweit sie keine konkrete Kindeswohlgefährdung darstellen.

Staatliche Institutionen haben weder die Pflicht noch das Recht, für jedes Kind die bestmögliche Förderung oder auch nur eine gute Erziehung zu gewährleisten. Sie haben lediglich das Recht, sie vor dem Schlimmsten zu bewahren. Diese Lage kann frustrieren, wenn im Falle sogenannter Sekten Kinder in ihrer freien Entwicklung beeinträchtigt werden oder wenn rechtsextreme Eltern eine Ideologie der Ungleichwertigkeit und des Hasses vermitteln. Und eben auch im Themenfeld salafistischer Erziehungsstile, die für Kinder erhebliche Konflikte und Nachteile mit sich bringen können.

Für sie muss es stets alternative und emanzipatorische Einflüsse außerhalb des Elternhauses geben; andere Lebensentwürfe, demokratische Werte, Gleichberechtigung und Pluralität müssen in ihrem Leben sichtbar sein. Die Schulpflicht spielt hier als ausgleichender Faktor eine ganz entscheidende Rolle. Aber auch die Jugendhilfe muss auf die Konfrontation mit solchen Eltern vorbereitet und entschlossen sein, mit ihnen einen gemeinsamen Weg zu finden und sie beispielsweise zur Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung zu motivieren, so schwierig dies in salafistisch orientierten Familien auch im Einzelnen sein mag.

Gerade in Familien im lediglich streng religiösen Spektrum besteht die Chance, das Vertrauen der Eltern zu gewinnen. Denn auch hier gilt: Die salafistischen Eltern gibt es nicht. Auch hier werden Erziehungsziele ganz unterschiedlich umgesetzt. Wie bereits 1996 die Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" feststellte: "Faktisch ist von einer großen Streubreite des Umgangs mit Kindern und der Qualität der Eltern-Kind-Beziehung auch in diesen neuen religiösen Milieus auszugehen." Daran zu appellieren, dass auch viele dieser Eltern das subjektiv Beste für ihr Kind wollen, kann helfen, ihnen die nötigen Hilfen zukommen zu lassen.

Dieser Artikel ist in gekürzter Form zuerst im Externer Link: AJS FORUM 03/17 erschienen.

Dieser Beitrag ist Teil der Interner Link: Infodienst-Serie "Rechtlicher Rahmen".

Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (AJS)

Die Externer Link: Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (AJS) Landesstelle NRW e.V. ist die landesweit tätige, überkonfessionelle Fachstelle zur Förderung des gesetzlichen und erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes in NRW. Ähnliche Fachstellen gibt es in 12 Bundesländern. Sie agiert als Servicestelle für Eltern und Fachkräfte der Jugendhilfe und bietet unter anderem Beratung, Weiterbildung, Fortbildung, Materialien sowie Referententätigkeiten. Dabei deckt sie eine große Bandbreite an Themen ab: den gesetzlichen Jugendschutz und Jugendmedienschutz, Themen des erzieherischen Jugendschutzes wie die Gewalt- und Suchtprävention, die Themen Jugendkriminalität und Extremismus, die Prävention sexualisierter Gewalt, Medienpädagogik und Medienkompetenzförderung sowie das Thema der sogenannten Sekten. Seit 2015 ist in der AJS das landesweite Präventionsprojekt "Plan P. – Jugend stark machen gegen salafistische Radikalisierung" angesiedelt.

Infodienst RadikalisierungspräventionMehr Infos zu Radikalisierung, Prävention & Islamismus

Das Online-Portal Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb bietet Hintergrundwissen, pädagogische Materialien, einen Newsletter und eine Übersicht mit Beratungsangeboten.

Interner Link: → Zur Infodienst-Startseite

Quellen / Literatur

El-Mafaalani, Aladin; Toprak, Ahmet (2012): Migrationssensible Wahrnehmung des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung, in: Schone, Reinhold; Tenhaken, Wolfgang (Hrsg.): Kinderschutz in Einrichtungen und Diensten der Jugendhilfe. Weinheim.

Lang, Kati 2010: Kindeswohl im Spannungsfeld von (neo)nazistischen Familien und staatlichem Fürsorgeanspruch, in Klei, Alexandra/ Nattke, Michael (Hg.) 2010: Elternarbeit im Spannungsfeld Rechtsextremismus. Erfahrungen und Perspektiven, Kulturbüro Sachsen e. V., Dresden.

Raack, Martin 2006: Wie sind religiös geprägte Erziehungs- und Sozialisationspraktiken im Hinblick auf Kindeswohlgefährdungen einzuschätzen?, in Heinz Kindler (Hg.): Handbuch Kindeswohl-gefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD), Deutsches Jugendinstitut, München, S. 145-148.

Schonke, Reinhold/ Tenhaken, Wolfgang (Hg.) 2015: Kinderschutz in Einrichtungen und Diensten der Jugendhilfe. Ein Lehr- und Praxisbuch zum Umgang mit Fragen der Kindeswohlgefährdung, 2. Auflage, Weinheim/Basel.

Spürck, Dieter 2006: Wie ist die Zugehörigkeit von Eltern/Sorgeberechtigten zu sog. "Sekten" und "Psychogruppen" in Bezug auf Kindeswohlgefährdung einzuschätzen? in Heinz Kindler (Hg.): Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD), Deutsches Jugendinstitut, München, S. 148-152.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hier ist zu bedenken, dass Jugendliche ab dem 14. Lebensjahr uneingeschränkt religionsmündig sind. Bereits vorher gesteht die Gesetzgebung Kindern und Jugendlichen jedoch ein Mitbestimmungsrecht in religiösen Fragen zu.

  2. Hier liegen jedoch bisher keine Präzedenzfälle vor. Einem Fall, in dem einen salafistisch orientierten Vater 2013 das Sorgerecht entzogen wurde (OLG Köln Urteil mit Az. 25 UF 9/13) lag vor allem der begründeten Befürchtung zugrunde, er könne das Kinder entgegen dem Willen der Mutter außer Landes bringen.

  3. Darüber hinaus können selbstverständlich auch andere (nicht Salafismus typische) Arten der Kindeswohlgefährdung wie Vernachlässigung, körperliche und sexualisierte Gewalt, seelische Misshandlung etc. in salafistischen Familien auftreten.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Nora Fritzsche, Anja Puneßen für bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und der Autoren/-innen teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

Weitere Inhalte

Radikalisierungsprävention Islamismus

Rechtlicher Rahmen Präventionspraxis

Welche rechtlichen Regeln gelten für das Handeln von Präventionsakteuren? Welche Handlungen von Klienten sind strafbar? Wo beginnt Kindeswohlgefährdung? Welche Gesetzte gibt es für Social Media?

Infodienst Radikalisierungsprävention

Radikalisierungsprävention

Der "Infodienst Radikalisierungsprävention – Herausforderung Islamismus" behandelt die Themen Islamismus, Prävention und (De-)Radikalisierung: mit Hintergrundinfos, Materialien, Terminen & Newsletter

Infodienst Radikalisierungsprävention

Kinder in salafistischen Familien

Was kennzeichnet einen salafistisch geprägten Erziehungsstil? Welche möglichen Risiko- und Schutzfaktoren ergeben sich daraus für Kinder salafistisch geprägter Familien?

Infodienst Radikalisierungsprävention

Umgehen mit Kindern aus salafistisch geprägten Familien

Worauf sollten Lehrkräfte achten? Wen können sie um Rat fragen, wenn sie den Verdacht haben, dass das Kindeswohl gefährdet sein könnte? Wie kann die Resilienz von Kindern gestärkt werden?

Infodienst Radikalisierungsprävention

Pädagogische Materialien

Materialien für Sekundarstufe & Grundschule, Medien für den Unterricht sowie Hintergrundinfos für pädagogische Fachkräfte.

Infodienst Radikalisierungsprävention

Prävention & Politische Bildung

Was ist wichtig für erfolgreiche Präventionsarbeit? An welchen Orten kann Prävention stattfinden und wer kann tätig werden? Wie geht Prävention im Internet?

Nora Fritzsche ist Politik- und Religionswissenschaftlerin, Fachreferentin für Radikalisierungsprävention in der Externer Link: AJS NRW .

Anja Puneßen ist Volljuristin mit der Fachrichtung Kinder- und Jugendschutzrecht in der Externer Link: AJS NRW.