Das Filmfragment "Ghetto" – erzwungene Realität und vorgeformte Bilder
Anja Horstmann
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Über die Filmaufnahmen im Warschauer Ghetto 1942 ist nur wenig bekannt, der Film wurde nie fertiggestellt. Die Bilder zeigen den Versuch, die dramatischen Zustände im Ghetto dem nationalsozialistischen Propagandabild "des Juden" anzupassen. Die Historikern Anja Horstmann liefert Hintergründe zu den Filmarbeiten und analysiert das Filmfragment – dabei legt sie die propagandistischen Absichten des Regimes offen.
Im Frühjahr 1942 drehte ein deutsches Kamerateam Propagandaaufnahmen im Warschauer Ghetto. Der Film wurde vermutlich nie fertig gestellt; eine Aufführung ist nicht nachweisbar. Die acht Filmrollen mit einer Länge von 1.737 Metern – etwa 63 Filmminuten – stammen aus den Beständen des Reichsfilmarchivs und wurden in den 1950er Jahren im Staatlichen Filmarchiv der DDR aufgefunden und identifiziert.
Sie sind heute im Bundesarchiv, Abteilung Filmarchiv Berlin unter dem Archivtitel "Ghetto" einsehbar. Das Filmmaterial wurde zusätzlich unter dem Titel "Asien in Mitteleuropa" verzeichnet: Der Hinweis auf diesen möglicherweise zum Zeitpunkt der Dreharbeiten benutzten Arbeitstitel stammt aus dem Erinnerungsbuch des Holocaustüberlebenden Jonas Turkow, der bereits 1948 seine Erlebnisse aus dem Warschauer Ghetto veröffentlichte. Da das Filmmaterial keinen Vorspann mit Titelangabe enthält und auch keine anderen Quellen vorliegen, die Informationen über eine Betitelung des Films geben könnten, ist Turkows Nennung der einzige schriftlich überlieferte Verweis auf diesen Filmtitel.
Ergänzend zu den acht Rollen des Filmfragments "Ghetto" konnte noch weiteres Filmmaterial identifiziert werden, das im direkten Umfeld der Dreharbeiten entstanden ist. Dazu gehören zwei Rollen Dubnegativ (Kopie des Kameranegativs), die das Bundesarchiv-Filmarchiv im Jahr 1998 von der Library of Congress in Washington unter dem Übernahmetitel "Warsaw Ghetto" erhalten hat. Dieses 945 Meter – etwa 34 Filmminuten – lange Material stammt ebenfalls aus dem Reichsfilmarchiv und enthält den Vorspann: "Achtung / Geheime Kommandosache!" Es ist im Bundesarchiv-Filmarchiv unter dem Archivtitel "Ghetto – Restmaterial" benutzbar. Neben Bildern, die sich auch in der Langfassung von "Ghetto" finden, enthält das Restmaterial zusätzliche Sequenzen. Unter anderem Aufnahmen der Ankunft deutscher Juden am 14. April 1942 im Warschauer Ghetto, die mit Koffern und Handgepäck in ein Gebäude hineingehen. In einer weiteren Szene werden die neu Angekommenen dabei gefilmt, wie sie dicht gedrängt in einem großen Raum sitzen. Rund sechs Filmminuten des Materials zeigen einen inszenierten Einsatz der Ghettopolizei: Passanten werden auf der Straße zusammengetrieben, ein einzelner Ghettopolizist schlägt mit einem Gummiknüppel auf eine Menschenansammlung ein und treibt sie auseinander, Passanten werden durch Mitglieder der Ghettopolizei in eine Straße gedrängt.
Über die Filmarbeiten im Warschauer Ghetto ist nur wenig bekannt
Neben dem Restmaterial können auch zwei Amateurfilme mit Szenen aus dem Warschauer Ghetto den Aufnahmen der Langfassung zeitlich zugeordnet werden. Zum einen die gut zehn Minuten langen Filmaufnahmen, die wahrscheinlich von den zum Produktionsteam gehörenden Kameramännern Paul Adam und Andreas Honowski mit einer Privatkamera auf 16 Millimeter-Material angefertigt wurden und im Bundesarchiv-Filmarchiv unter dem Archivtitel "Das Warschauer Ghetto" verzeichnet sind. Sie zeigen teilweise die gleichen Szenen wie die Langfassung "Ghetto", nur aus anderen Perspektiven. Es ist anzunehmen, dass sie parallel zu den offiziellen Dreharbeiten entstanden sind. Zum anderen gibt es einen auf 16-Millimeter-Farbfilm gedrehten Amateurfilm, der vermutlich von Hans Juppenlatz gedreht wurde. Der Film beinhaltet ähnliche Szenen. Ebenso finden sich in dem Material Aufnahmen, die die Dreharbeiten der Hauptproduktion zeigen. Interessant an dem knapp vier Minuten langen Farbmaterial, das unter dem Archivtitel "Im Warschauer Ghetto" im Bundesarchiv-Filmarchiv verzeichnet wurde, ist eine kurze Szene, in der ein Soldat in Wehrmachtsuniform im Bild erkennbar wird. Anhand dieser Szene konnte ein weiterer Kameramann, der im Zusammenhang mit den Dreharbeiten zu "Ghetto" stand, ermittelt werden: Willy Wist. Seine Mitarbeit wurde auch durch das in geringem Umfang überlieferte schriftliche Material, das auf den Film "Ghetto" verweist, bestätigt.
In den Unterlagen des "Kommissars für den jüdischen Wohnbezirk" befinden sich drei Schriftstücke der Transferliste, die den Wirtschaftsverkehr zwischen Ghetto und Außenwelt dokumentiert. Daraus geht hervor, dass für den Zeitpunkt der Dreharbeiten ein Passierschein für den Sonderführer Filmeinsatztrupp Willy Wist ausgestellt wurde. 1972 sagte Wist in einer Vernehmung im Zusammenhang mit einer Voruntersuchung gegen den ehemaligen SS-Standartenführer Ludwig Hahn aus. Dabei nannte er als weiteres Mitglied des Produktionsteams für die Filmarbeiten im Warschauer Ghetto Leutnant Helmut Rudolph. Die aufgeführten Kameraleute und Bildberichter, die vermutlich in Verbindung mit den Dreharbeiten 1942 stehen, gehörten nachweislich keiner gemeinsamen Propagandakompanie an. Für den Film "Ghetto" wurde wahrscheinlich ein gesonderter Filmeinsatztrupp zusammengestellt.
In welchem Auftrag dies geschah und zu welchem Zweck die Aufnahmen gemacht wurden, konnte bislang nicht geklärt werden. Es sind bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Dokumente oder Akten aufgefunden worden, die Aufschluss über diese Fragen geben könnten.
Eindeutig ist, dass das Propagandaministerium bestrebt war, Bildmaterial der Opfer des Regimes über Vertreibung und Vernichtung hinaus aufzubewahren – so ein Tagebucheintrag von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels vom 27. April 1942: "Himmler betreibt augenblicklich die große Umsiedlung der Juden aus den deutschen Städten nach den östlichen Ghettos. Ich habe veranlasst, dass hier im großen Umfange Filmaufnahmen gemacht werden. Das Material werden wir für die spätere Erziehung unseres Volkes dringend brauchen."
Es gab verschiedenste Propagandafilmprojekte, und die Aufnahmen in Warschau waren nicht die ersten, in dessen Fokus die jüdische Bevölkerung des besetzten Polen stand. 1939 wurde ein Kamerateam im offiziellen Auftrag von Goebbels für Dreharbeiten nach Litzmannstadt (Łódź) entsendet. Die Aufnahmen flossen später in den wohl bekanntesten antisemitischen Propagandafilm "Der ewige Jude. Ein Dokumentarfilm über das Weltjudentum" von 1940 ein.
Eine Rekonstruktion der Filmaufnahmen in Warschau
Um sich den Produktionsarbeiten im Warschauer Ghetto anzunähern, können für eine Rekonstruktion des ungefähren Ablaufs der Filmarbeiten und des Vorgehens des Aufnahmeteams die Aufzeichnungen einiger Ghetto-Inhaftierten herangezogen werden, wie zum Beispiel das erwähnte Erinnerungsbuch von Jonas Turkow. Adam Czerniaków, Vorsitzender des Judenrates des Warschauer Ghettos, notierte in seinem Tagebuch zahlreiche Begebenheiten, die im Zusammenhang mit den Dreharbeiten standen. Anhand seiner Notizen konnten der Beginn und die Dauer der Dreharbeiten ermittelt werden – nämlich vom 2. Mai bis zum 2. Juni 1942. Auch die ungefähre Stärke des Produktionsteams, das aus mindestens acht Personen bestand, sowie die Kontaktpersonen zwischen dem Vorsitzenden des Judenrates und dem Produktionsteam konnten so rekonstruiert werden.
In den Filmaufnahmen aus dem Frühjahr 1942 stehen zum ersten Mal das Warschauer Ghetto als Ort und die darin lebenden Menschen im Zentrum eines längeren Propagandafilmprojektes. Bislang wurden die Aufnahmen von der Forschung kaum beachtet, und es finden sich nur vereinzelt Hinweise auf das Filmmaterial. Eine ausführlichere Beschäftigung mit dem Material und einen Ansatz, die propagandistische Verformung der Aufnahmen zu dekonstruieren, verfolgte erstmals die israelische Regisseurin Yael Hersonski mit ihrem Film "Geheimsache Ghettofilm" – "Shtikat Haarchion" als Originaltitel. Durch Zeitzeugeninterviews, eine Auswertung der wenigen schriftlichen Dokumente, die zu den Dreharbeiten in Warschau vorliegen, sowie dem Zusammenspiel der verschiedenen Filmmaterialien der Langfassung und der Amateurfilme, versucht Hersonski in ihrem Werk das Filmfragment "Ghetto" zu demontieren und die Inszenierung sowie Konstruktion der Filmaufnahmen offen zu legen. Diese Herangehensweise bietet einen wichtigen und bislang in derartiger Form nicht vorliegenden Beitrag zum Verständnis und zur Einordnung der Filmaufnahmen. (Weitere Informationen bieten die Filmkommentare zu Hersonskis Film von Interner Link: Dirk Rupnow und Interner Link: Rainer Rother). Eine eingehende Analyse der Aufnahmen hinsichtlich des Inhalts und der Bildsprache sowie eine Kontextualisierung des Filmfragments mit den Entwicklungen und Entscheidungen bezüglich der nationalsozialistischen Ghettos wurden von der geschichts- und filmwissenschaftlichen Forschung bisher noch nicht vorgenommen. Im Folgenden soll daher ein kurzer Einblick in den Aufbau, den Inhalt und die Bildsprache der Aufnahmen gegeben werden.
Was sagt die filmwissenschaftliche Forschung zu dem Filmfragment "Ghetto"?
Die Filmaufnahmen aus dem Warschauer Ghetto schaffen ein "typisches", aber auch ungewöhnliches Abbild des abgeriegelten Stadtviertels. "Typisch" in dem Sinne, dass die Aufnahmen mit ihrer Bildsprache an zuvor publizierte, auf stereotype Vor- und Darstellungen des europäischen Judentums reduzierte Bildberichte und Filmbeiträge anknüpfen. Auffällig ist eine Reduktion der Filmbilder auf wenige, durch die nationalsozialistische Propaganda geprägte Motive über "den Juden" und eine daraus entstehende Endindividualisierung der gefilmten Personen. In den Aufnahmen erfolgt eine sich wiederholende Konzentration auf ausgewählte Ausschnitte des Lebens im abgeschlossenen Stadtteil. Die bevorzugten Motive sind Menschen auf den Straßen des Ghettos und beim Handel mit Lebensmitteln und Kleidung. Im überlieferten Filmfragment sind folgende Sequenzen aneinandergefügt: Überblick über die Straßen und Plätze, private Räumlichkeiten, Bettler auf den Bürgersteigen, Einblicke in die Arrestanstalt, Bestattung in einem Massengrab und verschiedene Formen des religiösen Lebens. Der Fokus liegt dabei auf der Darstellung der räumlichen Enge des Ghettos, die sich in den von Menschen überfüllten Straßen und Plätzen manifestiert. Einen weiteren Schwerpunkt der Aufnahmen bildet die Thematisierung von Hunger und Krankheiten. Vermehrt wurden Aufnahmen von bettelnden und kranken Menschen gedreht, daneben eine längere Sequenz in der Desinfektionsanstalt, um die Auswirkungen des im Ghetto grassierenden Fleckfiebers zu demonstrieren.
Das ungewöhnliche an den Warschauer Filmaufnahmen von 1942 ist die Konzeption der Produktion als längerer, in sich geschlossener Film mit einer narrativen Leitlinie. Die Aufnahmen sind auf einem konsequenten Prinzip des Kontrastes aufgebaut, anhand dessen scheinbar stark auseinanderfallende Besitz- und Lebensverhältnisse im Ghetto aufgezeigt werden sollen. Der Film besteht aus einer Gegenüberstellung von Szenen, die das verschwenderische Leben einiger weniger Juden und das Elend der Mehrheitsgesellschaft im Ghetto herzustellen versucht. Diese Gegenüberstellung wird durch eine Vermischung von vorgefundenen und inszenierten Ereignissen im abgeriegelten Stadtteil erzeugt.
Zum Zeitpunkt der Filmaufnahmen verschlechterten sich die Lebensbedingungen für die Menschen im Warschauer Ghetto stetig (Weitere Informationen bietet der Hintergrundartikel Interner Link: "Das Warschauer Ghetto" von Andrea Löw). Das im November 1940 errichtete Ghetto erreichte im März 1941 mit knapp 460.000 Bewohnern die dichteste Belegung. Ende 1941 verfügten etwa 40 Prozent der Ghettobewohner nicht mehr über genügend Mittel zum Lebensunterhalt. Die Sterblichkeit belief sich in dieser Zeit auf knapp 100.000 an Hunger und Erschöpfung gestorbene Menschen. Durch die destruktiven Maßnahmen der deutschen Besatzungsmacht, wie Lebensmittelrationierung und Zwangsarbeit, kam es im Warschauer Ghetto zu einem beschleunigten sozialen Abstieg von praktisch allen Bewohnern. Die vorherrschenden Zustände wurden für die Filmaufnahmen insofern genutzt, indem sie die inhaltliche Grundlage für einen tendenziösen Bericht über die Lebensverhältnisse im Warschauer Ghetto bildeten.
Neben vorgefunden Bildern von den Elendsquartieren des Ghettos, des Straßenhandels und von kranken und bettelnden Personen, wurden inszenierte Szenen einer "Luxusgesellschaft des Ghettos" montiert. Diese zeigen gut gekleidete, tanzende Paare in einem Café, ebenso Aufnahmen von einem Restaurant mit überreichlich gedeckten Tischen und von komfortabel eingerichteten, geräumigen Wohnungen.
Die Filmarbeiten sollten Stereotypen zeigen und Vorurteile bestätigen
Jonas Turkow beschreibt die Vorgehensweise bei den Dreharbeiten solcher Szenen in seinem Erinnerungsbuch wie folgt: "Die Deutschen nutzten wohlgemerkt die unschönen Nebenplätze des Ghettos in ihrem Interesse. […] Sie filmten die Restaurants, die Cafes, die Theater und die Revuen, indem sie zu diesem Zweck die berühmtesten jüdischen Künstler und Musiker des Ghettos zusammenriefen. Man befahl den Künstlern, an allen Theatervorstellungen teilzunehmen, um sie zu filmen. Man versammelte die Menschen auf der Straße und führte sie unter strenger Bewachung an verschiedene Orte. Man setzte die Leute derart in den Saal, dass sich ein alter Chasside mit weißem Bart mit einer jungen schicken Frau im Arm hinsetzen sollte. Sie filmten die Straßenszenen in dem geraden Teil der Karmelitzkestraße, wo die Juden in dem Gewühl, das dort herrschte, sich gegenseitig umrannten. Sie lösten speziell an diesem Ort eine Panik aus und, als die Juden anfingen in der größten Verwirrung wegzulaufen, weil sie von den Deutschen getrieben wurden, wurden sie dabei von den Kameramännern gefilmt. Die Deutschen, die sie vor sich hertrieben, wurden natürlich nicht mitgefilmt."
Zusätzlich wurden für die Kamera etliche Szenen inszeniert, in denen auf den überfüllten Straßen des Ghettos gut gekleidete Personen auf ärmlich gekleidete, bettelnde Menschen treffen. Diese direkte Gegenüberstellung sollte den ohnehin schon künstlich überhöhten Kontrast noch verstärken.
Auch dieses Vorgehen beschreibt Turkow: "Sie bereiteten große ‚Empfänge’ im Restaurant Shultz an der Kreuzung der Straßen Karmelitzke und Novolipki. Sie setzten gut gekleidete Juden an reich gedeckte Tische, die feierten und Gans, Hühnchen und Pute aßen und Wein, Alkohol und verschiedene Liköre tranken. Nach dem Essen befahl man den eleganten Juden (die man vorher auf der Straße zusammengesucht hatte), mit einer Zigarre im Mund hinauszugehen. Vor dem Eingang hatte man in Lumpen gekleidete Arme hingestellt, mit aufgedunsenen oder im Gegenteil abgemagerten Körpern, die die Hand aufhielten und um Almosen bettelten. Die Leute, die vollgegessen und zufrieden von dem guten Essen hinauskamen, mussten die Armen voller Abscheu zurückstoßen und sagen ‚Haut ab, Bettlerpack!’ und andere Sätze dieser Art.“
Die Aufnahmen aus dem Ghetto sollten objektiv und authentisch wirken
Bei einer ersten oberflächlichen Betrachtung der Filmaufnahmen ist die Inszenierung der Motive nicht erkennbar. Der Betrachter wird vielmehr dazu eingeladen, sich einer vermeintlich objektiven Betrachtung alltäglichen jüdischen Lebens im Ghetto zu nähern. In den ersten Einstellungen des Filmfragments "Ghetto" schwenkt die Kamera aus der Vogelperspektive über einen Teil des Ghettos, über die Ghettobrücke, die Ghettomauer und das Ghettotor. Erst nach und nach nähert sich die Kameraperspektive der Ebene der Straße. Diese Art der Kameraeinstellungen, der sich erst langsam nähernde Blick, lassen die Aufnahmen der Bildsprache ethnographischer Dokumentarfilme der Weimarer Zeit und des "Dritten Reichs" ähneln. Die Filmbilder werden durch diese Strategie in die Tradition des dokumentarischen Genres der Kulturfilme gestellt und sollen so einen objektiven und authentischen Eindruck vermitteln.
Durch diese Mechanismen wird versucht, den Aufnahmen den Charakter von Zeugnissen der "real existierenden", von jedweden Eingriffen deutscher Kameramänner unabhängiger Zustände zu geben. Das Ghetto wird damit kontinuierlich als abgeschlossener, nach außen hin abgeschotteter "Lebensraum des Juden" dargestellt. Dieser künstlich geschaffene "Lebensraum" wird als ein Gemeinwesen konstruiert, welcher "nicht durch Gewalt von außen, sondern durch eine innere Dynamik zugrunde gehen muss". Das in den Aufnahmen "dokumentierte" Elend wird als von den Juden selbst zu verantwortender Zustand inszeniert und nicht als von den Deutschen herbeigeführter Missstand sichtbar gemacht. Als "Beweisführung" dieses scheinbar selbst zu verantwortenden Zustandes dient die scharfe Kontrastierung der vermeintlich stark auftretenden Gegensätze zwischen Arm und Reich, die sich als Linie durch das komplette Filmfragment ziehen und noch einmal sehr deutlich in den Schlussszenen herausgestellt werden. Hier wird jeweils ein männlicher oder weiblicher Vertreter der "Luxusgesellschaft" neben einem Vertreter der "Elendsgesellschaft" positioniert und in Porträtaufnahmen gefilmt.
Eine Abfolge von Realität und Propaganda
Mit diesen Einstellungen sollte der Eindruck vermittelt werden, die im Ghetto lebenden Juden wären nicht in der Lage, ein Sozialwesen aufzubauen. Durch dieses in den Filmaufnahmen konstruierte Bild wird das Zusammenspiel von Realität und Propaganda besonders deutlich: Wurden "die Juden" durch Konzentrierung, Hunger und Demütigung dem nationalsozialistischen Propagandabild "des Juden" angepasst, lieferte diese von den Tätern erzwungene Realität wiederum die Bilder, die zu ihrer Begründung dienen sollten. Oder, wie Jonas Turkow eindrücklich in seinen Erinnerungen beschreibt: "Die deutsche Propaganda wollte die ganze Welt mit diesem Film davon überzeugen, dass es die Juden im Ghetto gut haben und zugleich zeigen, dass sie sich nicht zivilisiert benehmen, um die drastischen Maßnahmen zu rechtfertigen, die zu ihrem Wohle von den Deutschen ergriffen waren."
Bis heute werden die Filmaufnahmen aus dem Warschauer Ghetto in Fernsehdokumentationen und Ausstellungen von Gedenkstätten dazu verwendet, einen Eindruck vom Leiden des europäischen Judentums zur Zeit des Nationalsozialismus zu vermitteln.
Der Betrachter sucht in den Filmbildern ein Zeugnis über das Leben der Juden in den Ghettos, vergisst aber dabei, dass eben diese Bilder von den Nationalsozialisten vorgeformt worden sind. Denn die Auswahl der gefilmten Aspekte aus dem Warschauer Ghetto folgte den Kriterien der Nationalsozialisten, welche "Realitätswahrnehmung" über das europäische Judentum bewahrt und zukünftig erinnert werden sollte. Gerade vor diesem Hintergrund erscheint eine intensive Auseinandersetzung mit dem Filmmaterial umso notwendiger.
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Die Historikerin Anja Horstmann unternimmt im Rahmen ihres Dissertationsprojekts zum Thema: "Judenaufnahmen fürs Archiv. Die Gleichzeitigkeit von Archivierung und Vernichtung in nationalsozialistischen Dokumentarfilmen 1942" unter anderem eine ausführliche Analyse des Filmfragments "Ghetto". Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Kulturgeschichte, Theorien und Methoden der Historischen Bildwissenschaft sowie Film- und Fotogeschichte der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus.
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