I. Vorspiel
I. Vorspiel
Die Allianz von politischer Bildung und Theater, das Zusammenspiel von Bundesbehörde und autonomer Kunst mag auf den ersten Blick irritieren. Es handelt sich dabei aber um eine Partnerschaft, die ganz offensichtlich auf beiden Seiten bemerkenswerte Erfolge zeitigt, geht doch das Festival mittlerweile ins zwanzigste Jahr. Ein Festival, von dem ein Feuilleton-Chef einmal euphorisch schrieb, dass es dank der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb eine "schöne Bescherung", "ein Geschenk für jede Stadt" sei und, dieses noch toppend: "Das Festival hat mindestens so eine beglückende Wirkung wie Weihnachten." (Stuttgarter Zeitung, 24.11.1999)
Eine während des 4. Festivals in Stuttgart durchgeführte repräsentative Publikumsbefragung erbrachte, dass die Gruppe der 16-30jährigen 43% der Festivalbesucher stellte und knapp die Hälfte zwischen 16 und 20 Jahren alt war. Nach Augenschein haben diese Daten cum grano salis auch Gültigkeit für die übrigen Festivals. "Politik im Freien Theater", das ist von Anfang an ein Festival für ein junges Publikum. Für dieses konzipiert, von diesem aber auch fraglos angenommen. Man muss sich nur die stetig wachsenden Besucherzahlen ansehen von anfänglich rund 5.000 auf ca. 10.000 in den letzten Jahren.
In seiner bisherigen Geschichte hat das Festival die freie deutschsprachige Theaterszene begleitet und gefördert. Für viele war es ein Sprungbrett. Die Liste der Regisseurinnen und Regisseure verzeichnet bekannte Namen des heutigen Stadttheaterbetriebs wie Sebastian Hartmann, Albrecht Hirche, Stefan Kaegi, Chris Kondek, Otto Kukla, Sebastian Nübling, Elias Perring, Christiane Pohle, René Pollesch, Samuel Schwarz, Johan Simons, Nicolas Stemann, Sandra Strunz, Barbara Weber; aus der großen Schar der beteiligten Schauspielerinnen und Schauspielern seien hier nur einige wenige genannt: Adriana Altaras, Joe Bausch, Crescentia Dünßer, Norbert Kentrup, Nina Kronjäger, Gerd Lohmeyer, Jeniffer Minetti, Ingo Naujoks, Barbara Nüsse, Lars Rudolph, Sebastian Rudolph, Idil Üner oder Jeroen Willems.
Seit Beginn an hatte das Festival Wettbewerbscharakter. Auf Vorschlag unabhängiger Juroren vergibt die bpb Preisgelder in unterschiedlicher Höhe; seit dem 4. Festival in Stuttgart 1999 zeichnete 3sat, später dann der ZDFtheaterkanal als Sonderpreis eine der eingeladene Produktionen in voller Länge auf; 2006 in Berlin schließlich beteiligte sich außerdem das Goethe-Institut mit einem Preis als Zuschuss für Auslands-Gastspiele.
Ein Rahmenprogramm mit Publikumsgesprächen, Podiumsdiskussionen und Workshops gehört mittlerweile zum festen Bestandteil des Festivals. Außerdem eine "Lesebühne", die den Kontakt zwischen Gegenwartsautoren und Freier Szene befördern will. 1993 ging es um eine Begegnung von ost- und westdeutschen Dramatikern, 1996 stand die Präsentation ostdeutsche Gegenwartsdramatik im Zentrum; anlässlich seines 30jährigen Jubiläums stellte der Verlag der Autoren 1999 in Stuttgart sechs seiner Autoren und Autorinnen und deren aktuelle Stücke vor, Hamburg (2002) ehrte mit Lesungen, Gesprächen, Vorträgen und Filmen den 1982 verstorbenen Rainer Werner Fassbinder und in Berlin 2005 war die "Plattform: Autoren" ein Forum für Lesungen, Performances oder Vorträgen von Autorinnen und Autoren zum Festivalthema "Sehnsucht".
Hervorgegangen ist "Politik im Freien Theater" aus den Diskussionen im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts um Positionen, thematische Schwerpunkte, Methoden, Curricula und Zielgruppen der politischen Bildung. Nach den leidenschaftlichen Kontroversen um Konzepte und Richtlinien in den 1970er Jahren standen die achtziger Jahre - die Jahre der so genannten "nachkonzeptionelle Phase" - ganz im Zeichen einer Pluralisierung der methodischen Ansätze. Signifikant für jene Zeit war die Umorientierung vom Theorienstreit zur "Praxis", wobei Subjektorientierung, Lebensweltorientierung und Handlungsorientierung als die zentralen didaktischen Begriffen galten.
Insbesondere die Handlungsorientierung brachte eine stärkere Hinwendung zu aktivierenden Vermittlungsformen und sollte die Methoden politischer Bildung durch simulatives Handeln wie z. B. Rollenspiel und eigenständiges kreatives Gestalten erweitern oder zumindest ergänzen. In diesem Kontext kam das Medium Theater ins Spiel.
Seit jeher ist es ein Forum politischer Auseinandersetzung – von der Antike bis zur Gegenwart, von Aischylos und Sophokles über Shakespeare, Lessing, Schiller, Büchner bis hin zu Brecht, Weiss, Hochhuth, Müller oder Kater und Pollesch –, ein Forum, in dem die jeweils aktuellen Probleme einer Zeit und eines Gemeinwesen öffentlich diskutiert werden.
Auch wenn Theater seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Konkurrenzkampf mit den Massenmedien unstrittig an Einfluss abgenommen hat, so hat es doch seine ihm eigene Kommunikationsform bewahrt, die ein immer noch großes Publikum zu faszinieren und anzuziehen vermag.
Im Unterschied zu Presse, Rundfunk, Fernsehen, die es alle mit einem dispersen Publikum zu tun haben, basiert Theater auf einer Face-to-Face-Kommunikation; zwischen Produzent und Rezipient steht in den Massenmedien eine wie auch immer geartete technische Apparatur, die sich einem unmittelbaren Feedback widersetzt, wohingegen für Theater eine direkte, zeit- und ortsgleiche Wechselbeziehung zwischen den Kommunikanten, die Interaktion zwischen Spielenden und Zuschauenden konstitutiv ist. Immer ist es das Publikum, das dem Theater erst zum Leben verhilft, das es vollendet und zur Wirkung bringt. D.h. Spielende und Zuschauende produzieren gemeinsam Theater, der theatrale Prozess ereignet sich erst in dieser besonderen Form der Koproduktion.
Die medienspezifische Kommunikationsstruktur von Theater, die dem Zuschauer nicht die Rolle eines passiven Konsumenten zuweist, sondern den aktiven Rezipienten geradezu voraussetzt, sowie das Modellhafte der Verkehrsform Theater als Spiel von Möglichkeiten kam in vieler Hinsicht dem didaktischen Vorstellungen einer handlungsorientierten politischen Bildung entgegen, verstanden als Verbindung von Handeln und Reflektieren im problemlösenden Denken.
Das bundesrepublikanische Stadt- und Staatstheater war Ende der achtziger Jahre allerdings ein denkbar ungeeigneter Partner für politische Bildung. Es war hermetisch geworden, häufig für den Zuschauer nicht mehr entschlüsselbar oder einfach unverständlich. Es grassierte ein ornamentaler Bilderstil, der sich an die Stelle des Diskurses, der argumentierenden, analysierenden transparenten Mittelverwendung schob und einen Welt- und Gesellschaftszustand eher beraunte, beschwor als ihn wirklich zu zeigen. Was die Qualifizierung der Produkte angeht, war das Theater zu keinem Zeitpunkt so reich, so vielfältig, so niveauvoll. Aber je höher die Theaterproduzenten seit den sechziger Jahren ihre Kunst entwickelt, je mehr sie ihr Material differenziert hatten, desto mehr war das zurückgeblieben, was Brecht als die unbedingt notwendige Komplementärerscheinung zur Theaterkunst gefordert hatte, nämlich die Zuschauerkunst.
Großprojekte wie die Orestie an der Schaubühne in Berlin, Wallenstein in Essen, Merlin in Düsseldorf oder Unsere Welt in Bochum, die alle eine Aufführungsdauer von acht, neun oder gar mehr Stunden hatten, überforderten den Zuschauer meist schon allein physisch. Theater, so schien es, beschäftige sich nur noch mit sich selbst, investiere ein Unmaß an Arbeit, um herauszufinden, wo die Grenzen der eigenen Möglichkeiten lagen, um die theatralen Mittel immer weiter zu qualifizieren. Und darin zeigte sich, wie sehr die bundesdeutschen Stadt- und Staatstheater das Interesse am Publikum aufgegeben hatten. "Wer hat denn wirklich noch was zu sagen?", so die die Publizistin und ehemalige Festivalleiterin von "Theater der Welt" Renate Klett, "Wer will denn wirklich noch was hören? Ich sehe nur Überdruss ringsum, Kitzel nach Neuem statt Neugier, Tändeleien statt Leidenschaft, Eitelkeit statt Lust." (Theater heute, 2/1988, S.63)
Als Gegenpol zu diesem Trend versuchte die Freie Theaterszene, sich sowohl politisch als auch ästhetisch zu profilieren, indem sie sich in der Spielplangestaltung stärker an der Lebenswelt des Publikums orientierte und in den Inszenierungen deutlich politische und soziale Akzente setzte. Im Unterschied zu den unüberschaubar gewordenen Apparaten der institutionalisierten Theater waren zudem die Freien Theater in ihrer Organisationsform weit publikumsnäher, erleichterten die Identifikation mit einem Theater und ließen häufig eine nahezu familiäre Beziehung zwischen Theatermachern und einem vor allem jugendlichen Publikum entsteh. Rückenwind erhielten die Freien Theater jener Jahre schließlich durch Bürgerinitiativen und neue soziale Bewegungen, bei deren Veranstaltungen und Aktionen sie häufig auftraten und zwar nicht nur als unterhaltsames Beiwerk´, sondern als Ausdruck und Manifestation alternativer Kulturpolitik und eines alternativen Kunstverständnisses.
Fast gleichzeitig fanden die Beschäftigung mit Umwelt- und Ökologieproblemen sowie die Auseinandersetzung mit Positionen der Bürgerinitiativen und neuen sozialen Bewegungen breiten Niederschlag in der Literatur zur politischen Bildung. Es lag daher durchaus nahe, dass die Bundeszentrale für politische Bildung auf der Suche nach neuen Methoden und Zielgruppen Vermittlungsformen, wie von den neuen sozialen Bewegungen praktiziert, für die Ziele staatlicher politischer Bildung zumindest einmal erprobte.
In diesem Kontext entstand die Idee von einem Festival "Politik im Freien Theater", das die Bundeszentrale für politische Bildung – gewissermaßen als Probelauf – in Kooperation mit der Landeszentrale in Bremen 1988 dann zum ersten Mal ausrichtete. Ein Experiment, das politische Aufklärung mit theatralen Mitteln sowie die materielle und ideelle Förderung politisch engagierten Freien Theaters sich zur Aufgabe gesetzt hatte. Ein Experiment mit ungewissem Ausgang.