12. Festival
Herbst 2025

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4. Festival // Next Generation – Stuttgart 1999

Politik im Freien Theater Dokumentationen Politik im Freien Theater

4. Festival // Next Generation – Stuttgart 1999

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Die Stuttgarter Ausgabe fand vom 17. bis 27. November 1999 statt. Sie stand ganz im Zeichen junger Regisseur:innen und ihrer Inszenierungen zu Alltagsthemen und den großen politischen Fragen der Zeit.

Das 4. Festival Politik im Freien Theater in Stuttgart vom 17. bis 27. November 1999 stand ganz im Zeichen junger Regisseurinnen und Regisseure, die alle auf dem Sprung in den Stadt- und Staatstheaterbetrieb waren. Nicht mehr bereit – und das unterschied sie von früheren Generationen –, ihre Laufbahn als Regieassistenten arrivierter ‚Meister‘ zu beginnen, sich in die materielle und künstlerische Abhängigkeit von deren Autorität zu begeben und sich über meist lange Spielzeiten hinweg hochzudienen. Von Theaterakademien, aus der Angewandten Theaterwissenschaft, der Hildesheimer Schule oder aus Regieklassen kommend, versuchten sie vielmehr in der Freien Szene mit spektakulären Inszenierungen auf sich aufmerksam zu machen.

Grafik: Monika Bröse, Mark Stüwe

Zugute kam ihnen dabei, dass in den Stadt- und Staatstheatern der Bedarf an Nachwuchskräften in jenen Jahren außerordentlich groß war. Über lange Zeit hinweg hatten nämlich die maßgeblichen Regisseure des deutschsprachigen Theaters weitgehend versäumt, den Nachwuchs zu fördern. Jetzt klafften sichtbare Lücken; frische künstlerische Ideen, neue Impulse, innovative Kräfte waren gefragt wie nie zuvor. Eine Auffrischung – wenn schon nicht aus eigenen Kräften – erhoffte man sich deshalb von Regietalenten aus der Freien Szene. Das Freie Theater galt plötzlich als Vorhof des Stadttheaters, als Rekrutierungsareal gewissermaßen, Politik im Freien Theater erhielt damit beiläufig auch den Charakter einer Börse. „Da könnte also tatsächlich eine neue Generation von Theaterleuten nachwachsen: die erste wirkliche Nach-Achtundsechziger-Generation, die sich nicht mehr mit den Vätern rumschlagen will und muss und deshalb in der Lage ist, allen ideologischen Ballast abzuwerfen und frei, gelöst, improvisierend aufzuspielen.“ (Stuttgarter Zeitung, 24.11.1999)

Und in der Tat erwies sich unmittelbar nach dem Stuttgarter Festival, dass Regisseurinnen und Regisseure wie Nicolas Stemann, Sandra Strunz, Sebastian Hartmann, Elias Perring und andere Regieverpflichtungen an festen Häusern erhielten.

Zombie ´45 - Am Bass Adolf Hitler
Foto: Silke Heyer

So waren denn auch der Formenreichtum und die künstlerischen Ausdrucksweisen auf keinem Festival zuvor so mannigfaltig. Das Spektrum reichte von Spielweisen in epischer Tradition über Formen eines expressiven Körpertheaters, des Figurentheaters und eines neuen „narrativen Theaters“ bis hin zur Performance, zu Rauminstallationen und Multimediaprojekten. „Man sah hier in knapp zwei Wochen, was man sonst nur unter Einsatz zweier DB-Monatsnetzkarten hätte sehen können.“ (Stuttgarter Nachrichten, 29.11.99)

Mit 22 Produktionen, 64 Vorstellungen und einem umfangreichen Rahmenprogramm innerhalb von 11 Tagen war das Stuttgarter Festival in der Geschichte von Politik im Freien Theater das weitaus größte und zugleich aufwendigste.

Lucas, Ich und Mich
Foto: Lee Clare

Gegenüber vorangegangenen Jahren hatte die Beschäftigung mit politischen und sozialen Themen im Freien Theater deutlich zugenommen. Dafür gab es verschiedene Gründe. Die gesellschaftlichen und politischen Widersprüche wurden sichtbar größer, so dass offenbar das Bedürfnis nach öffentlicher Auseinandersetzung darüber wuchs. Daraus resultierte, dass sich Theater, das sich mit politischen Stoffen befasste, offenbar wieder ‚rechnete‘, das heißt ökonomisch auch wieder rentabel wurde. Eine neue Generation von Theatermachern verstand in Abgrenzung zu der Vätergeneration und unter dem Eindruck der flächendeckenden Mediatisierung der Gesellschaft außerdem Theater wieder stärker als ein Medium politischer Öffentlichkeit. Und schließlich war das Festival Politik im Freien Theater für die freie Szene zu einer bedeutenden Plattform geworden; zum Festival eingeladen zu werden galt mittlerweile als Auszeichnung, war außerordentlich werbewirksam und damit von ökonomischen Vorteil, so dass politisch orientierte Inszenierungen sich gerade auch in Hinblick auf eine potenzielle Festivalteilnahme wieder lohnten.

In Stuttgart präsentierte die bpb Inszenierungen, in denen Alltagsthemen ebenso wie die großen politischen Fragen der Zeit in beunruhigend genauen Bilder und Spielsituationen übersetzt wurden.

Heute ist ein schöner Tag
Foto:Thomas Ammerpohl

Arbeitslosigkeit („Piccoli Angeli – Kleine Engel“, „Heute ist ein schöner Tag“, „Bezahlt wird nicht!“) und Fremdenfeindlichkeit, ethnische und kulturelle Konflikte, Probleme der Migration und Integration („Barfuß Nackt Herz in der Hand“, „Kanak Sprak“, „Medea – der tödliche Wettbewerb“, „Melchinger Winterreise“ – eine Outdoor-Produktion auf den verschneiten Höhen der Schwäbischen Alb), die Folgen des Zusammenbruchs der totalitären Herrschaftssysteme jenseits des „Eisernen Vorhangs“, das Leben in der postkommunistischen Ara („König Heinrich VI.“, „Lucas, Ich und Mich“, „Elektra“, „König Übü oder Mutter Übü braucht auch Geld“), das Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands („Gäste“, „Hinkemann“, „Dantons Tod“, „Tränen spotten“), das Erinnern an deutsche faschistische Vergangenheit („Umschlagplatz*, Laufschritt*, Schwanzparade* – *im Original deutsch“, „Der letzte Henker – eine Auswahl“, „Zombie ´45 – Am Bass Adolf Hitler“, „Geschichten aus dem Hinterhaus – Anne Frank war nicht allein“), die Kriege auf dem Balkan, die Globalisierung und die Mediatisierung von Gesellschaften („Genetik Woyzeck“, „Leviathan“, „Zwei Stimmen“): Das sind die Themen, die für dieses Festival signifikant waren.

Hinkemann
Foto: Christian Brachwitz

„Am Anfang stand der Zweifel“, so die Stuttgarter Zeitung vom 26.11.1999, „die Skepsis, die bange Frage: Kann das gut gehen? [...] Ja. Es ist alles gut gegangen, sehr gut sogar. [...] Die Veranstalter [...] sind überglücklich. Mehr als zehntausend Karten haben sie verkauft für Off-Ensembles, die eben keine leichte Unterhaltung bieten; viele Vorstellungen waren ausgebucht, ja überbucht, sodass man auch Treppen zu Sitzplätzen umfunktionieren musste; und nach der Vorstellung ging das Theater regelmäßig weiter, sei’s nun im Café der Rampe oder im Foyer des Depots, wo sich Regisseure und Schauspieler einerseits, Zuschauer andererseits zum Teil heftige Gesprächsduelle lieferten. Und was will man mehr bei einem Bühnentreffen, das dem Motto ‚Politik im freien Theater‘ gefolgt ist?“

Theatergastspiele:

  • „Barfuß Nackt Herz in der Hand“ von Ali Jalaly, Arkadas Theater, Köln, Regie: Ali Jalaly

  • „Bezahlt wird nicht!“ von Dario Fo, Theaterhaus Stuttgart, Regie: Werner Schretzmeier

  • „Dantons Tod“ von Georg Büchner, Theater des Lachens, Berlin, Regie: Astrid Griesbach

  • „Der letzte Henker – eine Auswahl“, Theater an der Winkelwiese, Zürich, Regie: Elias Perrig

  • „Elektra“ nach Sophokles, Theater K., Aachen, Regie: Guido Rademachers

  • „Gäste“ von Oliver Bukowski, theater 89, Berlin, Regie: Hans-Joachim Frank

  • „Genetik Woyzeck“ nach Georg Büchner, Europäische Werkstatt für Kunst und Kultur Hellerau, Dresden, Regie: Harriet und Peter Meining

  • „Geschichten aus dem Hinterhaus – Anne Frank war nicht allein“, Alarm!Theater, Bielefeld, Regie: Ensemble mit Cora Herrendorf (Teatro Nucleo)

  • „Heute ist ein schöner Tag“ von Gritt Uldall-Jessen, LOT-Theater, Braunschweig, Regie: Ensemble

  • „Hinkemann“ von Ernst Toller, Theaterhaus Jena, Regie: Sebastian Hartmann

  • „Kanak Sprak“ von Feridun Zaimoglu, BB Produktion, Hamburg, Regie: Birgitta Linde

  • „König Heinrich der VI.“ von William Shakespeare, bremer shakespeare company, Regie: Rainer Iwersen

  • „König Übü oder Mutter Übü braucht auch Geld“ von Alfred Jarry, Materialtheater, Stuttgart, Regie: Sigrun Kilger/Alberto García Sánchez

  • „Leviathan“ von Dea Loher, Theater Rampe, Stuttgart, Regie: Eva Hosemann

  • „Lucas, Ich und Mich“ nach Agota Kristof, Ensemble Sandra Strunz, Hamburg, Regie: Sandra Strunz

  • „Medea – der tödliche Wettbewerb“ nach Euripides, RambaZamba, Berlin, Regie: Gisela Höhne

  • „Melchinger Winterreise“ von Peter Härtling, Theater Lindenhof, Melchingen, Regie: Christoph Biermeier

  • „Piccoli Angeli – Kleine Engel“ von Marco Baliani, Wu Wei Theater, Frankfurt/M., Regie: Miriam Goldschmidt

  • „Tränen spotten“ nach Ferdinand Bruckner, wehrteather hartmann, Berlin, Regie: Sebastian Hartmann

  • „Umschlagplatz*, Laufschritt*, Schwanzparade* – *im Original deutsch“, Marburger Theaterwerkstatt, Regie: Rolf Michenfelder

  • „Zombie ’45 – Am Bass Adolf Hitler“, Gruppe Stemann, Hamburg, Regie: Nicolas Stemann

  • „Zwei Stimmen“, theatergroep Hollandia, Zaandam/Niederlande, Regie: Johan Simons

Jury:

  • Crescentia Dünßer, Regisseurin, Schauspielerin und Theaterleiterin, Zürich

  • Benedikt Gondolf, Redakteur beim ZDF-Kulturmagazin „aspekte“, Mainz

  • Dr. Burkhard Jellonnek, Leiter der Landeszentrale für politische Bildung Saarland, Saarbrücken

  • Christoph Müller, Chefredakteur des „Schwäbischen Tagblatts“ und Theaterkritiker, Tübingen

  • Prof. Dr. Dr. Hannes Rettich, Professor für Kulturmanagement, Stuttgart

  • Friedrich Schirmer (Vorsitzender), Schauspieldirektor der Staatstheater Stuttgart

  • Barbara Englert, Schauspielerin, Frankfurt/Main

Preisträger:

  • LOT-Theater, Braunschweig („Heute ist ein schöner Tag“) – erhielt auch den 3sat-Preis

  • Theater an der Winkelwiese, Zürich/Schweiz („Der letzte Henker – eine Auswahl“)

  • theatergroep Hollandia, Zaandarn/Niederlande („Zwei Stimmen“)

  • Theaterhaus Jena („Hinkemann“)

  • Marburger Theaterwerkstatt („Umschlagplatz*, Laufschritt*, Schwanzparade* – *im Original deutsch“)

  • RambaZamba („Medea – der tödliche Wettbewerb“), Berlin (Sonderpreis der Jury)

Fussnoten