Einleitung
Der britische Chief Controller des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR), Hugh Carlton Greene, urteilte rückblickend über den von ihm ursprünglich geschätzten und geförderten Karl-Eduard von Schnitzler (1918–2001): "Schnitzler wurde versuchsweise von Köln nach Hamburg versetzt, wo er weiter politische Kommentare lieferte; er war ein guter Rundfunkpublizist und ein gescheiter Kopf, den ich nicht unbedingt verlieren wollte. Da er in seine Kommentare indes fortgesetzt kommunistische Propaganda einfließen ließ, kam ich zu dem Schluß, daß er gehen müsse."
Auf Greenes Betreiben dürfte Schnitzler frühzeitig aus der Gefangenschaft nach Hamburg entlassen worden sein. Im Oktober 1945 trat er dort als Leiter des Frauenfunks in der NWDR-Zentrale seinen Dienst an. Er lieferte auch Beiträge für die Sendereihe "Sind wir auf dem richtigen Wege?", die Peter von Zahn leitete. Sein Leitmotiv war im Sinne der von der Besatzungsmacht betriebenen "Umerziehung", das Bewusstsein der Deutschen für das von ihnen selbstverschuldete Nachkriegselend zu schärfen. Schnitzler schlüpfte in seinen Kommentaren in die Rolle eines vom NS-Regime verführten und missbrauchten jungen Mannes, der er ja als jugendlicher aktiver Nazigegner im "Dritten Reich" in Wirklichkeit nicht war. Gleichwohl verlangte er nicht nur von seinen Hörern, sondern auch von sich selbst Einsicht und "Selbstprüfung".
Zur Jahreswende 1945/46 wurde Schnitzler in die Kölner NWDR-Dependance geschickt, wo er fortan als Leiter der Politischen Abteilung im Schulterschluss mit leitenden KPD-Funktionären als umtriebige graue Eminenz agierte. Das nur von Mai 1946 bis August 1947 als Kölner Intendant amtierende KPD-Mitglied Max Burghardt, Mitbegründer des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, war lediglich das Sprachrohr Schnitzlers. Entgegen seiner später von ihm oft wiederholten Behauptung, fungierte Schnitzler in Köln jedoch zu keiner Zeit als "amtierender Intendant".
Im Frühjahr 1947 ordnete Greene an, Schnitzler wegen seiner Eigenmächtigkeiten wieder nach Hamburg zu holen.
Schnitzlers KPD-Connection
Unter der Überschrift "Demokraten im NWDR unerwünscht" vermeldete "Neues Deutschland" am 10. Januar 1948 die Entlassung Schnitzlers. Das SED-Zentralorgan bezog sich auf dessen 8-Punkte-Rechtfertigungserklärung, die von der Düsseldorfer KPD-Zeitung "Freiheit" vier Tage zuvor veröffentlicht worden war. Unter Punkt 6 hieß es: "Ich wurde – teils aus politischen, teils aus persönlichen Gründen – bei meiner vorgesetzten Dienststelle als "Agent der SED" denunziert und mit der Behauptung, ich hätte in den von mir geleiteten Sendungen eine "einseitige kommunistische Politik´ betrieben, im April vorigen Jahres als Abteilungsleiter in Köln abgesetzt. Den geringsten Beweis ist man mir bis heute schuldig geblieben."
Beweise dafür lieferte indes Schnitzler später selbst zuhauf. Er machte kein Hehl daraus, dass er in Köln mit Max Reimann und anderen westdeutschen hochrangigen KPD-Funktionären eng kooperiert und sich abgestimmt habe. So auch in einem vermutlich für den Berliner Rundfunk verfassten, vom 20. Mai 1950 datierten Lebenslauf, der in Abschrift bei der Stasi landete. Darin schrieb er: "Während meiner gesamten Tätigkeit am NWDR war [ich] in ständigem Kontakt mit Max Reimann und Kurt Lichtenstein. Auf Wunsch Max Reimanns wurde ich von der damaligen Intendanz am 1. März 1948 als Kommentator beim Berliner Rundfunk eingestellt. Seit Juni 48 bin ich Mitglied der SED."
Auch Kurt Lichtenstein, damals Chefredakteur des westdeutschen KPD-Zentralorgans "Freiheit", unterstützte Schnitzler beim Umzug nach Berlin sowie bei der Einstellung am Berliner Rundfunk. Lichtenstein wurde 1953 vom KPD-Vorsitzenden Max Reimann – auch auf Betreiben der Ost-Berliner SED-Führung – aus der KPD ausgeschlossen. Am 12. Oktober 1961 wurde er von DDR-Grenzsoldaten auf einer Reportage-Reise entlang der Zonengrenze für die sozialdemokratische "Westfälische Rundschau" in der Nähe des niedersächsischen Dorfes Zicherie erschossen. Seine Ermordung sorgte in der Bundesrepublik und im westlichen Ausland für große Empörung. Schnitzler rechtfertigte hingegen die Tat in zynischer Weise. Er verstieg sich zu dem absurden Vergleich, Lichtenstein werde in der Bundesrepublik auf ganz ähnliche Weise zum Helden erhoben wie das Nazi-Idol Horst Wessel. Im Spanischen Bürgerkrieg sei Lichtenstein wegen Feigheit degradiert worden. Jetzt habe er sterben müssen, weil er feige weggelaufen sei, als man ihn zum Stehenbleiben aufgefordert habe.
Obwohl Schnitzlers Erinnerungsvermögen bewusst oder unbewusst häufig getrübt war, trifft es zu, dass Max Reimann ihn 1946 von einem Parteieintritt aus nachvollziehbaren Gründen abgeraten hat. Reimann war damals 1. Sekretär der KPD Ruhrgebiet-West und Kurt Goldstein der dort für die Medien zuständige Sekretär für Agitation und Propaganda. Er begleitete Reimann zu einem ersten Gespräch mit Schnitzler: "Bei dieser Begegnung hat sich Herr von Schnitzler uns sofort als Genosse offenbart. Das ging so: Herr von Schnitzler und Herr Reimann und dann sagte der Karl-Eduard: "Wir können uns doch als Genossen ansprechen´. Er hat dann Max gefragt, ob er in die Partei eintreten soll. Wir haben ihm aber abgeraten, weil er Mitglied in einer Parteigruppe hätte werden müssen. Das wäre bekannt geworden. Einer von uns sollte nun die Verbindung mit ihm halten. Er wiederum sollte als parteiloser Journalist für die Partei im Rundfunk wirken."
Auch der in der DDR zum bekannten Dokumentarfilmer avancierte Karl Gass (1917–2009), den Schnitzler im Kölner Funkhaus eingestellt und mit dem Aufbau der Wirtschaftsredaktion beauftragt hatte, bestätigte solche Absprachen mit maßgeblichen rheinischen KPD-Funktionären. Schnitzler und Gass hätten sich beispielsweise in Düsseldorf mit dem Essener Oberbürgermeister Heinz Renner, Josef Ledwohn und Kurt Lichtenstein getroffen. Allen NWDR-Journalisten sei dort empfohlen worden, nicht in die KPD einzutreten, weil die Belastung für die Arbeit zu groß werden würde.
Rätselhaft erscheint in diesem Zusammenhang, warum Schnitzler erst Ende 1990er-Jahre mehrfach offen darüber sprach, dass er 1937 in die illegale KPD eingetreten sei.
Einen Hinweis auf offenbar regelmäßige Nachkriegskontakte Schnitzlers zum KGB in Berlin-Karlshorst gibt sein langjähriger Kollege Heinz Grote. Die Witwe Schnitzlers, Márta Rafael von Schnitzler, hatte Grote beauftragt, ausgewählte Kommentare und Hörfunkvorträge für die BBC und den NWDR aus den Jahren 1944–1947 aus dem Nachlass ihres Mannes zusammenzustellen und zu kommentieren. Grote berichtet, Schnitzler habe mit Max Reimann "und auch mit den Genossen der Sowjetischen Militäradministration in Karlshorst" seine redaktionelle Arbeit für den NWDR abgestimmt. Das sei damals natürlich nicht bekannt geworden.
Tuchfühlung mit Axel Springer
Foto zu einem Beitrag über Karl-Eduard von Schnitzler in der Zeitschrift "Hör Zu!", Nr. 2/1947. (© Axel Springer Verlag)
Foto zu einem Beitrag über Karl-Eduard von Schnitzler in der Zeitschrift "Hör Zu!", Nr. 2/1947. (© Axel Springer Verlag)
In Axel Springers "HÖR ZU!" (Nr. 2/1946) erschien ein markantes Foto von Schnitzler vor dem Flaschenmikrofon mit dieser Bildunterschrift: "KARL-EDUARD VON SCHNITZLER ist seit Oktober 1945 [richtig; seit Januar 1946] beim NWDR Leiter der politischen Abteilung des Kölner Senders. Seine suggestive offene Sprache und die Lebensnähe seiner politischen Hörfolgen haben ihn in der Hörerschaft viele Freunde eingetragen, seine oft scharfen Polemiken gegen die rückständigen Kräfte der deutschen Geschichte des letzten Jahrhunderts, aber auch viele Feinde. Seine Sendung "Für den Arbeiter" findet in der Arbeiterschaft starken Widerhall." Unter diesem redaktionellen Text warb Schnitzler selbst für sein Credo: "Das Wichtigste – meine ich – ist die Abkehr von der Illusion. ... Abkehr von der Illusion, das heißt: eingefleischten Vorurteilen abzuschwören, die wir gegen unsere Nachbarn im Osten und Westen haben. Nicht der eine oder der andere sei unser Freund, sondern der eine wie der andere. ... Abkehr von der Illusion, das heißt: schonungslose Analyse der Wirklichkeit. Nur sie kann uns zur eigenen und vor allem richtigen Meinung verhelfen. Nur der klare Blick ohne die rosarote Brille oder die verzerrte Perspektive des materiell Geborgenen lassen uns zu jener sozialen Gerechtigkeit hinfinden, die am Anfang allen Beginnens stehen mag."
Mit dem jungen Axel Springer hatte Schnitzler gelegentliche Berührungspunkte. Beide waren Dozenten an der NWDR-Rundfunkschule, deren Absolventen vielfach eine journalistische Karriere im Nachkriegsdeutschland machten. Schnitzler lehrte die angehenden Journalisten die Abfassung von Kommentaren, während Springer über den Neuaufbau des Verlagswesens referierte. Axel Springer korrespondierte mit Schnitzler über den Vertrieb der "Nordwestdeutschen Hefte", dem ersten erfolgreichen und finanziell risikolosen Verlagsobjekt Springers, das im Auftrag des NWDR von Peter von Zahn und Axel Eggebrecht herausgegeben wurde. Die Hefte enthielten Druckfassungen von überarbeiteten öffentlichkeitswirksamen Sendemanuskripten. Springer dürfte jedoch wenig amüsiert gewesen sein, als sich herausstellte, dass Schnitzler in den "Nordwestdeutschen Heften" (Nr. 3/1946) einen kurzen Aufsatz über Paul von Hindenburg als "Totengräber" der Weimarer Republik publizierte.
Peter von Zahn (© NDR)
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Der Text bestand größtenteils aus einem Plagiat des Aufsatzes "Hindenburglegende" aus der Feder des Berliner CDU-Politikers Ferdinand Friedensburg. Dessen Artikel war im September 1945 in der ersten Ausgabe der im sowjetischen Sektor Berlins herausgegebenen kulturpolitischen Monatsschrift "Aufbau" erschienen. Wohl um sein schlechtes Gewissen zu kaschieren, verwies Schnitzler im Vorspann seines Textes auf seine angeblich breit angelegten Recherchen: "Als Quellen für diese Darstellung dienten Hindenburg: "Mein Leben", ferner die Broschüre "Hindenburg als Erzieher in seinen Aussprüchen", weiterhin Veröffentlichungen des Kronprinzen und Bücher von Konrad Heiden, Emil Ludwig, Erich Ludendorff, Kurt Tucholsky, Heinrich Brüning, Carl von Ossietzky, Benno Brehm, Josef Goebbels, Generaloberst von Seeckt, Hans Olden; außerdem englische und deutsche Pressearchive." Nur der plagiierte Ferdinand Friedensburg fehlte in dieser Aufzählung.
Peter von Zahn berichtet über Schnitzlers groteske Ausflüchte, als er ihn wegen des Plagiats zu Rede gestellt hatte: "Er redete sich auf sein "eidetisches Gedächtnis" heraus. Ganze Seiten seiner Lektüre hafteten angeblich in seinem Gedächtnis, daß er manchmal nicht mehr sagen könne, ob der Text auf dem eigenen Mist gewachsen oder Schmuck mit fremden Federn sei."
Rückfahrkarte in den Westen?
Sir Hugh Carlton Greene (© NDR)
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Sir Hugh Carlton Greene (© NDR)
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Der 1969 als BBC-Generaldirektor pensionierte Hugh Greene gab am 13. Juli 1979 für die Sendereihe "Zeugen der Zeit" im Dritten Programm des Norddeutschen Rundfunks ein Fernseh-Interview über sein bewegtes Berufsleben. Darin schilderte er auch einen missglückten angeblichen Fluchtplan Schnitzlers Ende der 1940er-Jahre. Es sei vorgesehen gewesen, dass Schnitzler sich in West-Berlin mit dem damaligen NWDR-Programmdirektor Eberhard Schütz an einem verabredeten Platz treffen sollte, um dann sofort nach Westdeutschland ausgeflogen zu werden. Schütz war ein guter Bekannter von Schnitzler, weil er schon beim Deutschen Dienst der BBC sein Vorgesetzter war.
Weitere Anhaltspunkte für eine geplante "Republikflucht" Schnitzlers gibt es bisher nicht. Lediglich der mit Schnitzler damals eng befreundete Karl Gass, der 1950 vom Berliner Rundfunk entlassen wurde, erinnerte sich an einen "komischen Fall": "In dem Zusammenhang hat mich Schnitzler gefragt. Er habe sich gewundert, dass ich nach der fristlosen Entlassung, die unbegründet war und auch niemals erläutert wurde, dass ich in der sowjetischen Besatzungszone geblieben bin und nicht mehr in den Westen zurückgegangen bin."
Bevor Schnitzler die Fronten wechselte, habe er nach eigenem Bekenntnis der Versuchung widerstehen müssen, einer telefonischen Einladung Rudolf Augsteins zu folgen, bei den Vorbereitungen zur Gründung des "Spiegels" mitzuwirken: "Diese Entscheidung bedeutete einen herben Geldverlust und Verzicht auf "Karriere", andererseits behielt ich meinen Charakter und meine Selbstschätzung und kann bis zu meinem Lebensende in den Spiegel schauen, ohne mich schämen zu müssen."