Chruschtschows Entschluss zur Auslösung der zweiten Berlin-Krise
Nikita S. Chruschtschow glaubte an die politische, wirtschaftliche und soziale Überlegenheit des Sozialismus.
Chruschtschow führte den Rückstand der DDR, der sie unattraktiv machte, auf Störwirkungen aus West-Berlin zurück. Anfang August erklärte er deswegen Walter Ulbricht, die dort noch "offene Grenze" müsse geschlossen werden. Chruschtschow wollte jedoch die freie Bewegung zwischen den Sektoren nicht aufheben, die bestehen geblieben war, als Stalin 1952 die DDR gegen die Bundesrepublik abgeriegelt hatte. Die gewaltsame Zerreißung einer Stadt, auf welche die Weltöffentlichkeit blickte, würde einen fatalen Eindruck machen und überdies den Anspruch des Sozialismus auf Überlegenheit entkräften. Die Öffentlichkeit wäre dann davon überzeugt, dass er sich nicht im "friedlichen Wettbewerb" gegen den Kapitalismus durchsetzen könne – eine moralische Niederlage, der Chruschtschow entgehen wollte.
Daher sollte die Grenze dadurch geschlossen werden, dass die Verbindungen West-Berlins zur Bundesrepublik von der DDR kontrolliert wurden. Damit würde das Zugangsrecht der Westmächte aufgehoben werden, das ihnen die Präsenz in der Stadt ermöglichte. Die Behauptung der dortigen Position durch die USA war aber seit der Blockade von 1948/49 für die Westeuropäer das Unterpfand, dass die Amerikaner sie gegenüber der UdSSR nicht im Stich ließen. Eine Preisgabe dieser Position stellte demzufolge den Zusammenhalt der NATO in Frage. Chruschtschow hatte es auch darauf abgesehen und hielt sich für stark genug, die Regierung in Washington dazu zu veranlassen. Damit würde die Abwehrfront des Westens in Europa wegfallen, und die USA müssten sich über den Atlantik zurückziehen.
Ausgangspunkte des sowjetischen Vorgehens
Bundeskanzler Konrad Adenauer im Gespräch mit Bundesaußenminister Heinrich von Brentano und dem Regierenden Bürgermeister von (West-)Berlin, Willy Brandt, 12. Dezember 1958. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00017600, Foto: Klaus Schütz)
- Als JPG herunterladen (151.8kB)
Bundeskanzler Konrad Adenauer im Gespräch mit Bundesaußenminister Heinrich von Brentano und dem Regierenden Bürgermeister von (West-)Berlin, Willy Brandt, 12. Dezember 1958. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00017600, Foto: Klaus Schütz)
- Als JPG herunterladen (151.8kB)
Das politische Instrument, mit dem dieser entscheidende Sieg errungen werden sollte, war ein Friedensvertrag "mit Deutschland", das heißt: mit beiden Staaten, der die "Überreste" der 1945 in dem besiegten Land übernommenen Besatzungsrechte aufhob und so die Grundlage für die Präsenz der Westmächte in Berlin und ihres Zugangs dorthin beseitigte. Diese Rechte würden daraufhin der DDR gehören. Am 27. November 1958 forderte die UdSSR demgemäß den Abschluss eines derartigen Friedensvertrags. West-Berlin sollte zwar den Status einer "Freien Stadt" erhalten, faktisch aber total von der DDR abhängig sein, die alle Verbindungen zur Außenwelt kontrollieren und zudem einen vertraglichen Anspruch auf Wohlverhalten bekommen sollte. Wie Chruschtschow voraussah, würde diese Lage früher oder später zu einem Antrag auf Aufnahme in die DDR führen.
Chruschtschow wollte sein Ziel durch Druck erreichen. Er drohte, die UdSSR werde den Friedensvertrag auf jeden Fall abschließen und der DDR die westlichen Rechte übertragen ohne Rücksicht darauf, ob sie sich daran beteiligten oder nicht. Den Einwand, dass aufgrund des Völkerrechts Verträge zu Lasten Dritter nicht statthaft seien, ließ er nicht gelten. Wie Stalin bei der Blockade 1948/49 stellte er sich auf den Standpunkt, bei Kriegsende habe ganz Berlin zur Sowjetzone gehört und die UdSSR habe den Westmächten den Aufenthalt dort nur zum Zweck der gemeinsamen Besatzungsherrschaft über Deutschland "gewährt".
Chruschtschow drohte also mit Krieg, wollte und konnte aber, wie die jetzt zugänglichen Quellen ausweisen, diesen nicht führen. Er hatte nicht die Absicht, sein Land nach den Verheerungen der Jahre vor 1945 einem neuen militärischen Großkonflikt auszusetzen, und wusste sehr gut, dass die UdSSR den USA global-strategisch unterlegen war. Er bluffte also und verließ sich darauf, dass sich die Gegenseite durch seine Drohung zum Zurückweichen veranlasst sehen würde. Die Amerikaner, so kalkulierte er, würden von ihren Verbündeten dazu genötigt werden, eine militärische Reaktion von vornherein zu unterlassen. Die Westeuropäer hätten eine sofortige Vernichtung durch sowjetische Kernwaffen zu gewärtigen und seien daher "Geiseln" in seiner Hand. Auf den Verzicht jedes Waffeneinsatzes werde als Chef des am meisten bedrohten Landes besonders Konrad Adenauer dringen (dem die Propaganda eine den Frieden der ganzen Welt gefährdende Aggressivität unterstellte). Das Kalkül stimmte insoweit, als die Eisenhower-Administration wegen der Kriegsängste von Bündnispartnern dem anfänglichen Impuls nicht folgte, die Drohung mit der Erklärung zu beantworten, man sei fest entschlossen, West-Berlin mit allen militärischen Mitteln zu verteidigen. Alle sonstigen Erwartungen des Kremlherrschers erwiesen sich aber als irrig: Die USA ließen sich nicht zur politischen Kapitulation zwingen; in Paris und Bonn nahm man eine harte Haltung ein und lehnte wesentliche Konzessionen ab.
Völlig im Widerspruch zu den Realitäten stand die Annahme, die westdeutsche Seite werde mit der sowjetischen Forderung sympathisieren, weil ihr der Abschluss des Friedensvertrags die Befreiung von lastender Besatzungsgewalt verheiße. Chruschtschow verkannte, dass die Bundesrepublik mit Überzeugung für die Freiheit West-Berlins und seine Zugehörigkeit zum westlichen Deutschland eintrat und die ihr auferlegten Souveränitätsbeschränkungen als notwendige juristische Grundlage für die Verteidigung der Stadt und für den Anspruch auf deutsche Wiedervereinigung akzeptierte. Zugleich traf seine Einschätzung nicht zu, dass die Bundesrepublik ein überaus großes Interesse am Osthandel habe und dass dieses ihr die Bindung an das westliche Lager nachteilig erscheinen lasse.
Nur aufgrund dieser irrigen Prämissen lässt sich begreifen, dass er immer wieder – namentlich im November 1958 und Ende 1961 – glaubte, Adenauer im Berlin-Konflikt auf seine Seite gegen die Westmächte ziehen zu können.
Phase 1:
Politik nach dem ersten Berlin-Ultimatum
Vor diesem Hintergrund ging die Rechnung nicht auf. Präsident Dwight D. Eisenhower und Außenminister John Foster Dulles, hielten an West-Berlin fest. Chruschtschow wusste daraufhin nicht weiter. Die westlichen Regierungen wurden jedoch verunsichert, weil sie bis Herbst 1961 das volle Ausmaß der global-strategischen Unterlegenheit der UdSSR gegenüber den USA kannten. Washington wollte zwar nicht nachgeben, sah sich aber zur Rücksicht auf die weiche Haltung einiger Partner, vor allem des britischen Premierministers Harold Macmillan, veranlasst, um den Zusammenhalt der NATO nicht zu gefährden.
Die DDR-Delegation zur Genfer Außenministerkonferenz unter Leitung von Außenminister Lothar Bolz (r.): Eintreffen auf dem Genfer Hauptbahnhof, 9. Mai 1959. (© Bundesarchiv, Bild 183-64094-0006-Teil2, Foto: Horst Sturm)
Die DDR-Delegation zur Genfer Außenministerkonferenz unter Leitung von Außenminister Lothar Bolz (r.): Eintreffen auf dem Genfer Hauptbahnhof, 9. Mai 1959. (© Bundesarchiv, Bild 183-64094-0006-Teil2, Foto: Horst Sturm)
Bundesaußenminister Heinrich von Brentano (mit Zeitung) im Kreise seiner Delegation auf der Genfer Außenministerkonferenz, 21. Mai 1959.
(© Bundesregierung, B145 Bild-00074533, Foto: Egon Steiner)
Bundesaußenminister Heinrich von Brentano (mit Zeitung) im Kreise seiner Delegation auf der Genfer Außenministerkonferenz, 21. Mai 1959.
(© Bundesregierung, B145 Bild-00074533, Foto: Egon Steiner)
Die Westmächte waren daher auf der Genfer Außenministerkonferenz 1959 zu erheblichen Zugeständnissen bereit. Wenn die Sowjetunion Präsenz und Zugang akzeptiere, wollten sie sogar auf die besatzungsrechtliche Grundlage ihrer Anwesenheit verzichten, in West-Berlin keine Sendungen für ostdeutsche Hörer mehr zulassen, generell alle dortigen "Agenten- und Sabotagetätigkeiten" einstellen, die Zahl ihrer Truppen in der Stadt auf einen sehr geringen Umfang beschränken, mit der DDR die Zweistaatlichkeit Deutschlands anerkennen und die Endgültigkeit der Oder-Neiße-Linie bestätigen.
Zu Ulbrichts Enttäuschung lehnte Chruschtschow das Angebot ab und schlug stattdessen als "Kompromiss" eine Regelung vor, die zwar eine Übereinkunft auf der Basis der westlichen Konzessionen vorsah, aber nach ein bis zwei Jahren die uneingeschränkte Erfüllung aller Forderungen, also die volle Kapitulation des Westens, nach sich ziehen sollte. Ihm ging es weiter vor allem darum, die Westmächte aus Berlin zu vertreiben, um auf diese Weise die NATO zu "ruinieren". Demgegenüber hatten die regional bestimmten Interessen des SED-Regimes für ihn nur wenig Gewicht.
Ausdruck der fehlenden Anerkennung der DDR: Hinweis auf Einfahrt in die "Sowjetische Zone" am US-Kontrollpunkt Berlin-Dreilinden, 1959. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00019836, Foto: Gerd Schütz)
- Als JPG herunterladen (163.1kB)
Ausdruck der fehlenden Anerkennung der DDR: Hinweis auf Einfahrt in die "Sowjetische Zone" am US-Kontrollpunkt Berlin-Dreilinden, 1959. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00019836, Foto: Gerd Schütz)
- Als JPG herunterladen (163.1kB)
Die DDR könne, wie er ihren Vertretern im Juni 1959 unumwunden erklärte, ruhig noch eine Zeitlang ohne westliche Anerkennung auskommen.
Chruschtschow begründete seine Politik des Alles oder Nichts mit der ideologischen Überzeugung, dass der Sozialismus mit geschichtlicher Notwendigkeit früher oder später vollständig siegen werde. Daher dürfe die UdSSR die erschütterte Position der Westmächte nicht durch eine Vereinbarung konsolidieren, sondern müsse abwarten, bis ihr früher oder später alles zufallen werde. Als Ulbricht mit seinem Wunsch nach Annahme des westlichen Angebots kein Gehör fand, suchte er die Souveränität seines Staates dadurch zu erweitern, dass er die westliche Rechte schon vor Abschluss des Friedensvertrags schmälerte. Das ließ Chruschtschow nur so weit zu, wie es sich um Marginalien handelte, um die es kaum Streit mit den Westmächten geben würde. Wenn ernstliche Konflikte zu befürchten waren, bestand er darauf, dass am bestehenden Zustand nichts geändert werden dürfe. Dieser Haltung lag die Logik zugrunde, dass allein die Sowjetunion das Verhalten zu bestimmen hatte, denn sie – und nicht etwa die DDR – würde eine Konfrontation zu bestehen haben. Daher müsse auch sie die Kontrolle darüber ausüben, ob und inwieweit es zu einem Zusammenstoß komme.
Phase 2: Konfrontationsaufschub
Da die UdSSR auf Erfüllung aller Forderungen bestand und die Westmächte an Präsenz und Zugang festhielten, endete die Genfer Konferenz ohne Ergebnis. Chruschtschow erhielt jedoch eine Einladung in die USA und hoffte, dass er mit Eisenhower zu einer Übereinkunft in seinem Sinne kommen werde. Die Erwartung war illusorisch, denn der amerikanische Präsident lehnte Verhandlungen ohne die beiden anderen Berlin-Mächte von vornherein ab und war daher nur zu einem unverbindlichen Gedankenaustausch bereit. Seine Aussage, auch er betrachte die Lage in der Stadt als "anomal", ließ aber Chruschtschow hoffen, Eisenhower werde auf der verabredeten vierseitigen Gipfelkonferenz seinen Vorstellungen folgen. Dieses Treffen, das eigentlich schon im Herbst stattfinden sollte, verzögerte sich bis Mitte Mai 1960. In der Zwischenzeit kamen Nachrichten aus Washington, die das erwartete Nachgeben der USA zweifelhaft erscheinen ließen.
Am 1. Mai 1960 gelang es der UdSSR erstmals, ein amerikanisches Spionageflugzeug über ihrem Territorium abzuschießen. Derartige Flüge hatte es zwar schon seit Jahren gegeben, aber in Anbetracht der Tatsache, dass die Gipfelkonferenz kurz bevorstand, lag in dem erneuten Flug nach Chruschtschows Ansicht ein unerhörter Affront. Zugleich war er über den endlich erreichten Abwehrerfolg befriedigt. Da er mit dem Piloten ein Beweisstück für den Spionageakt in der Hand hatte (was dessen Auftraggeber nicht ahnten), konnte er ein für Washington peinliches Katze-und-Maus-Spiel von Dementis und Gegenbeweisen veranstalten, bevor er mit der ganzen Wahrheit herausrückte. Auf dem Pariser Gipfeltreffen verlangte er von Eisenhower eine demütigende Entschuldigung. Als sich dieser weigerte, erklärte er, er könne sich mit ihm nicht mehr an einen Tisch setzen, und beendete so die Verhandlungen, ehe sie begonnen hatten. Erst mit einem anderen Präsidenten könne er wieder verhandeln. Für die Westmächte hieß dies, dass Chruschtschow die Berlin-Forderungen bis zum Amtsantritt des Nachfolgers im Januar 1961 zurückstellte.
Phase 3: Das zweite Berlin-Ultimatum
Nachdem John F. Kennedy Mitte November zum amerikanischen Präsidenten gewählt worden war, sah Chruschtschow die Zeit zur Wiederaufnahme der Berlin-Verhandlungen gekommen. In der Zwischenzeit war er auf zuvor unerkannte Probleme des Kräfteverhältnisses gestoßen. Die Hartnäckigkeit, mit der die USA seiner Kriegsdrohung widerstanden hatten, führte er darauf zurück, dass ihnen die östlichen Streitkräfte auf dem europäischen Schauplatz zu wenig Eindruck machten. Er korrigierte seine Einschätzung, dass es nur auf das nuklearstrategische Potential ankomme, das er bis dahin auf Kosten der anderen Truppen ausgebaut hatte. 1960 stoppte er die Reduzierung der Gefechtsfeld-Streitkräfte und begann sie sogar zu verstärken. Auf der Tagung des Warschauer Pakts Ende März 1961 veranlasste er die Verbündeten dazu, dem Beispiel zu folgen und diese Anstrengungen eng mit der UdSSR zu koordinieren.
Im Herbst 1960 war zudem klar geworden, dass die DDR auf Lieferungen der Bundesrepublik angewiesen war. Wenn es zu einem Ost-West-Zusammenstoß mit westdeutschem Embargo kam, war es fraglich, ob die DDR das auszuhalten vermochte. Die Gefahr ihres Zusammenbruchs suchten Chruschtschow und Ulbricht durch Überwindung der Abhängigkeit vom Westen ("Störfreimachung") zu bannen, doch war nicht zu erwarten, dass sich diese Umstellung rasch durchführen ließ. Bis dahin sollte eine von der UdSSR bereitgestellte "Rohstoffreserve" dafür sorgen, dass die ostdeutsche Wirtschaft auch ohne Westeinfuhren funktionsfähig blieb. Ob die für diesen Notfall in zugesicherte Hilfe ausreichen würde, war freilich unklar.
Kremlchef Nikita S. Chruschtschow und US-Präsident John F. Kennedy im Gespräch während ihres Wiener Gipfeltreffens, 3. Juni 1961. (© AP)
Kremlchef Nikita S. Chruschtschow und US-Präsident John F. Kennedy im Gespräch während ihres Wiener Gipfeltreffens, 3. Juni 1961. (© AP)
Chruschtschow wollte seine Berlin-Forderungen im Dialog mit Kennedy zur Geltung bringen, den er als vermeintliches politisches Leichtgewicht über den Tisch zu ziehen beabsichtigte. Vor der Begegnung musste er aber zur Kenntnis nehmen, dass der Präsident seinen Forderungen nicht nachgeben werde. Er reagierte empört: Damit erklärten die USA der UdSSR den Krieg. Bei der Wiener Begegnung am 3./4. Juni beharrte Chruschtschow mit schroffer Unerbittlichkeit auf der Erfüllung aller Berlin-Forderungen und lehnte Kennedys Ansinnen ab, dass man sich zunächst in anderen Fragen um eine Übereinkunft bemühen solle. Nur wenn man sich über Berlin einige, lasse sich eine gefährliche Konfrontation vermeiden. Zuletzt übergab er dem Präsidenten ein neuerliches Ultimatum, dem zufolge die UdSSR Ende des Jahres den Friedensvertrag mit der DDR einseitig abschließen wollte, wenn die Westmächte ihre Mitwirkung weiter verweigern würden. Er verließ Wien als Triumphator, der es seinem Widersacher einmal so richtig gezeigt hatte. Kennedy und Chruschtschow machten sich nun auf einen heftigen Konflikt gefasst und suchten sich durch militärische Vorbereitungen davon zu überzeugen, dass sie es ernst meinten. Mithin müsse die Gegenseite einlenken.
Phase 4: Sperrung der Grenze in Berlin
Noch lange hielt Chruschtschow daran fest, dass eine Abriegelung West-Berlins nicht in Betracht komme. Zwar bereitete Ulbricht sich insgeheim, ohne dass man in Moskau davon wusste, seit Anfang 1961 auf die Eventualität einer derartigen Aktion vor. Auf der Tagung des Warschauer Pakts Ende März und in seinem folgenden Gespräch mit Chruschtschow klagte er zwar über die bedrohlichen Folgen des Exodus in die Bundesrepublik, stellte sich aber auf den Standpunkt der UdSSR, dieser lasse sich durch die Kontrolle der DDR über die West-Berliner Zugangswege im Gefolge des Friedensvertrags stoppen.
Rückkehr von der Tagung des Warschauer Pakts in Moskau: Walter Ulbricht mit dem Sicherheitschef des ZK der SED, Erich Honecker (l.), Außenminister Lothar Bolz und Verteidigungsminister Heinz Hoffmann auf dem Flugplatz Schönefeld, 1. April 1961. (© Bundesarchiv, Bild 183-81853-0004, Foto: Heinz Jung)
Rückkehr von der Tagung des Warschauer Pakts in Moskau: Walter Ulbricht mit dem Sicherheitschef des ZK der SED, Erich Honecker (l.), Außenminister Lothar Bolz und Verteidigungsminister Heinz Hoffmann auf dem Flugplatz Schönefeld, 1. April 1961. (© Bundesarchiv, Bild 183-81853-0004, Foto: Heinz Jung)
Als im Frühjahr und Sommer die anschwellende Massenflucht alle Rekorde schlug, erklärte Ulbricht der sowjetischen Seite mehrfach mit wachsendem Nachdruck, sein Land sei akut bedroht; deshalb müsse man bald handeln. Chruschtschow, der solche Darlegungen von früher kannte und darum wenig ernst nahm, ignorierte die Appelle. Erst als ihm Alexander N. Schelepin, der Leiter des sowjetischen Geheimdienstes, dem er voll vertraute, am 20. Juli unter anderem vor Augen stellte, die DDR sei in Gefahr,
Chruschtschow wurde von der Sorge, das SED-Regime könnte zusammenbrechen, ehe der Friedensvertrag Ende des Jahres zum Ende des unkontrollierten Flugverkehrs und damit der Weiterreise der Flüchtlinge nach Westdeutschland führe, zu dem Entschluss bewogen, die Sektorengrenze zu sperren. Über Botschafter Michail N. Perwuchin beauftragte er den Oberbefehlshaber der Streitkräfte der UdSSR in der DDR, Armeegeneral Iwan I. Jakubowski, dafür Vorkehrungen zu treffen. Dieser bestellte, ohne sich deswegen mit Ulbricht in Verbindung zu setzen, die für Sicherheit zuständigen DDR-Minister in sein Hauptquartier und beriet mit ihnen, wie sich die Maßnahme am besten durchführen lasse. Dabei stellte er überrascht fest, dass sie gut vorbereitet waren und auf alle Fragen sofort eine Antwort wussten. Die Eckpunkte der Planung standen daher rasch fest. Oberst Anatolij G. Mereschko, der stellvertretende Leiter des sowjetischen Operationsstabes, hatte anschließend die Einzelheiten auszuarbeiten.
Dieser Hergang bestätigt, was Chruschtschows am 9. November 1961 erklärte, als ihn der westdeutsche Botschafter Hans Kroll kritisch auf die Abriegelungsmaßnahme hin ansprach. Er stellte die Verantwortung dafür nicht in Abrede: "Natürlich hätte die DDR ohne uns die Grenze nicht geschlossen. Wozu sollen wir uns hier hinter dem Rücken von Gen[ossen] Ulbricht verstecken? Der ist doch in diesem Fall gar nicht so breit. Natürlich, wir haben die Grenze geschlossen, das geschah auf unser Betreiben hin. Technisch hat das die DDR durchgeführt, weil das eine deutsche Frage ist."
Chruschtschow war nicht wohl bei seiner Entscheidung. Die Errichtung eines brutalen Grenzregimes inmitten einer Stadt, die im Zentrum allgemeiner Aufmerksamkeit stand, strafte sein Bekenntnis zum "friedlichen Wettbewerb" der Systeme in Deutschland Lügen, legte totale Rücksichtslosigkeit an den Tag und war je länger desto mehr eine irreparable moralische Niederlage des Sozialismus in der Öffentlichkeit. Daher wollte er die Sperranlagen möglichst schnell wieder beseitigen: am Jahresende, wenn das Schlupfloch der Flüchtlinge durch Etablierung der DDR-Kontrolle über die Zugangswege auf andere Weise geschlossen werde.
Im eigenen Lager ließ Chruschtschow Distanz zur Grenzschließung erkennen. Er veranlasste Ulbricht dazu, in seinem Namen die anderen Parteichefs zur Warschauer-Pakt-Tagung einzuladen, die der Legitimierung des Beschlusses dienen sollte, und übertrug ihm das Plädoyer, dessen Text er zuvor durchgesehen und überprüft hatte. Seinerseits äußerte er nur kurz, dass er zustimme, und sprach dann lange über den danach geplanten Friedensvertrag. Berlin solle weiter eine "offene Stadt" sein.
Die Aktion "Rose", die in der Nacht zum 13. August eingeleitet wurde, war aus östlicher Sicht ein voller Erfolg: Die Westmächte waren nicht vorbereitet und nahmen die Abriegelung der Grenze widerstandslos hin. Die Sorge, es könnte ernste Schwierigkeiten geben, war freilich von vornherein unbegründet gewesen. Kennedy hatte das Engagement in seiner Rede vom 25. Juli ausdrücklich auf West-Berlin beschränkt.
Phase 5: Abrücken vom Ultimatum
und Übergang zur Zermürbungsstrategie
Das war ein schwerer Irrtum. Chruschtschow wurde durch den ausgebliebenen Widerstand ermutigt. Nach diesem Anfangserfolg rechnete er damit, dass auch der zweite, entscheidende Schritt ohne große Mühe gelinge. Zugleich brannte er darauf, die unerwünschten Sperren in Berlin durch Übergabe der Kontrolle über die Zugangswege an die DDR wieder loszuwerden. Als Kennedy in der Meinung, seine politische Festigkeit durch Verstärkung der Truppen auf dem Gefechtsfeld genügend gezeigt zu haben, Anfang September Gespräche mit der UdSSR einleitete, war Chruschtschow so unnachgiebig wie eh und je. Die Verhandlungsbereitschaft der Amerikaner wertete er als Anzeichen dafür, dass man in Washington unter dem Druck des Ultimatums "Vernunft" annehme. Die sowjetischen Einschüchterungsversuche erreichten ihren Höhepunkt.
Anfang Oktober probte die UdSSR im Manöver "Burja" erstmals den Nuklearkrieg in Europa. Das Übungsergebnis war ernüchternd. Es zeigte nicht nur erhebliche Defizite bei der Durchführung der geplanten Operationen, sondern die Führung musste auch erkennen, dass ein massiver Einsatz von Kernwaffen auf dem europäischen Schauplatz auch die eigene Seite stark in Mitleidenschaft ziehen und den angestrebten raschen Durchbruch zum Atlantik unmöglich machen würde. Die seit Juli vorbereitete Zündung einer "Superbombe" verfehlte ebenfalls den erklärten Zweck, bei den maßgebenden westlichen Akteuren Angst und Schrecken zu verbreiten. In Washington wurde man durch die neue Satellitenaufklärung über den enormen quantitativen und qualitativen nuklearstrategischen Rückstand des Gegners unterrichtet. Man ließ die Sowjetunion wissen, dass sie im Konfliktfall total unterlegen war und kurz und klein geschlagen werden würde, während Nordamerika wenig zu befürchten hatte. Chruschtschow musste erkennen, dass er mit Kriegsdrohungen keine Wirkung mehr erzielte. Er ließ er das Friedensvertragsultimatum fallen. Als General Lucius D. Clay Panzer am Checkpoint Charlie auffahren ließ,
Eskalation im Kalten Krieg, mitten in Berlin: Am 28. Oktober 1961 stehen sich am Checkpoint Charlie in der Friedrichstraße US-amerikanische und sowjetische Panzer gegenüber. (© AP)
Eskalation im Kalten Krieg, mitten in Berlin: Am 28. Oktober 1961 stehen sich am Checkpoint Charlie in der Friedrichstraße US-amerikanische und sowjetische Panzer gegenüber. (© AP)
um – was man auf östlicher Seite natürlich nicht wusste – die Verantwortung der UdSSR für Ost-Berlin klarzustellen, fürchtete der Kremlchef, die USA könnten in Kenntnis ihrer Überlegenheit eine militärische Konfrontation vom Zaun brechen, und war sehr erleichtert, als die Amerikaner die von ihm genehmigten vorsichtigen Rückzugsschritte der Sowjetpanzer mit dem gleichen Verhalten beantworteten.
Chruschtschow verzichtete zwar darauf, die Westmächte unter Zeitdruck zu setzen,
Phase 6: Raketenstationierung auf Kuba
Nachdem Chruschtschow sein Vorgehen dem sowjetischen ZK-Präsidium am 8. Januar 1962 genau erläutert hatte, ließ er massive Pressionen durchführen. "Übungsflüge" sowjetischer Jagdflugzeuge über der DDR führten im Februar und März mehrfach Beinahe-Zusammenstöße herbei. Das hielt jedoch die Westmächte nicht von der Benutzung ihrer Luftkorridore ab. Auch die Hoffnung, dass West-Berlin mehr und mehr in materielle Not gerate, erfüllte sich nicht, denn die Bundesrepublik erhöhte ihre finanziellen und sonstigen Hilfen für die Stadt. Daher griff Chruschtschow gern zu, als sich die Möglichkeit zur Veränderung der Kräfterelation zu den USA bot.
Der US-Zerstörer "Barry" und ein US-Patrouillenflugzeug versuchen den sowjetischen Frachter "Anosov" im Atlantischen Ozean an seiner Fahrt nach Kuba zu hindern. Auf dem Frachter vermuten die US-Amerikaner Mittelstreckenraketen für den Karibikstaat. 10. November 1962. (© AP)
Der US-Zerstörer "Barry" und ein US-Patrouillenflugzeug versuchen den sowjetischen Frachter "Anosov" im Atlantischen Ozean an seiner Fahrt nach Kuba zu hindern. Auf dem Frachter vermuten die US-Amerikaner Mittelstreckenraketen für den Karibikstaat. 10. November 1962. (© AP)
Am Ende des Frühjahrs ließ er die Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf Kuba vereinbaren. Dadurch sollten diese Systeme, welche die UdSSR in großer Zahl besaß, statt der weithin fehlenden Interkontinentalraketen die politischen und wirtschaftlichen Zentren der USA bedrohen und so der amerikanischen Führung klar machen, dass sie sich das Risiko eines Krieges wegen West-Berlin nicht leisten könne.
Ab Juni 1962 begann Chruschtschow gesprächsweise zu äußern, seine "Geduld" bezüglich der Verhältnisse in Berlin sei nicht von unbegrenzter Dauer. Ab Anfang September wurde ein Datum genannt: Er werde bis nach den Wahlen zum amerikanischen Kongress – bis zur zweiten Novemberhälfte – abwarten. Das war genau der Termin, zu dem die Stationierung auf der Karibikinsel abgeschlossen sein sollte. Gegenüber Personen seines Vertrauens gab Chruschtschow auch zu erkennen, wie er dann die Amerikaner zum Nachgeben bewegen wollte. Sie sollten nicht offen zur Kapitulation genötigt werden, sondern ihr Gesicht dadurch wahren können, dass die Entscheidung im Berlin-Konflikt der UNO als neutral-unparteiischer Institution übertragen wurde. Mit deren Generalsekretär, dem Burmesen Sithu U Thant, war er sich darüber einig geworden, dass die Weltorganisation den Schutz der "Freien Stadt" West-Berlin übernehmen solle. Die Westmächte würden das Feld zu räumen haben, UdSSR und DDR auf kein mächtiges Gegengewicht mehr stoßen. Der Plan kam nicht zur Ausführung, denn in den Krisentagen Ende Oktober sah sich Chruschtschow zum Rückzug der Raketen aus Kuba genötigt.
Phase 7: Infragestellung der Bindungen
West-Berlins an die Bundesrepublik
Nachdem Chruschtschow dem Nuklearkrieg ins Auge geblickt hatte, wollte er nicht länger eine Konfrontation mit den USA riskieren. Er war aber nicht bereit, West-Berlin vom Druck zu befreien. Deshalb änderte er die Ausrichtung: Nicht die Präsenz der Westmächte, sondern die "Einmischung" der Bundesrepublik sei das Übel, das man bekämpfen müsse. Diese war zwar auch schon früher verurteilt worden, doch nun galten die administrativen, rechtlichen, wirtschaftlichen und finanziellen Bindungen zum westdeutschen Staat nicht mehr als bloßer Nebenaspekt, sondern als Kernpunkt der anomalen Situation, um deren Beseitigung es gehe. Der sowjetischen Darstellung zufolge bedrohten die Eingriffe Bonns auch die Rechte der Westmächte.
Das war eine bewusste Falschdarstellung, denn die Bundesrepublik pflegte die Bindungen ausdrücklich im Auftrag der drei westlichen Staaten. Diese benötigten die dadurch bewirkte Stabilisierung West-Berlins, denn ohne eine lebensfähige Stadt konnten sie sich dort nicht halten. Chruschtschow wollte auf indirekte Weise ihnen den Boden entziehen. Das zeigte sich klar, als die UdSSR versuchte, mittels Druck den westlichen Militärtransit Kontrollauflagen zu unterwerfen.
Phase 8: Entspannung und kurzzeitige Zuspitzungen 1963–1969
Die Pressionen hörten auf, als Ludwig Erhard im Oktober 1963 Adenauers Nachfolge antrat. Chruschtschow hatte zwar nichts erreicht, hoffte aber, der neue Bundeskanzler werde sich vom Interesse am Osthandel politisch leiten lassen und allmählich von der Westintegration abrücken. Er wollte ihn vom Vorteil der "Selbständigkeit" (gegenüber den Westmächten) überzeugen, machte dem Streit um Berlin ein Ende und bewog die DDR zu einer Passierscheinregelung, die den West-Berlinern zeitweilig Besuche im Ostteil der Stadt ermöglichte.
Bundeskanzler Ludwig Erhard (l.) empfängt Chruschtschows Schwiegersohn, den "Iswestija"-Chefredakteur Alexander Adschubej, 28. Juli 1964. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00138565, Foto: Georg Munker)
Bundeskanzler Ludwig Erhard (l.) empfängt Chruschtschows Schwiegersohn, den "Iswestija"-Chefredakteur Alexander Adschubej, 28. Juli 1964. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00138565, Foto: Georg Munker)
Im Sommer 1964 schickte Chruschtschow seinen Schwiegersohn Alexander I. Adschubej nach Bonn, um die erhoffte Annäherung vorzubereiten.
Aber nach seinem Sturz im Oktober nahm die Breshnew-Führung den Kampf gegen die Bundesrepublik wieder auf. Anlässlich einer Sitzung des Bundestages in West-Berlin Anfang April 1965 ermächtigte sie das SED-Regime, in dieser Zeit für die Teilnehmer ein Transitverbot zu verhängen und der Stadt ernste Folgen bezüglich der weiteren Passierscheinverhandlungen in Aussicht zu stellen. Das Transitverbot hatte nur begrenzte praktische Bedeutung, weil es sich nur auf den Straßen und Schienen durchführen ließ. Der Flugverkehr, den die Abgeordneten benutzten, war den Störmanövern sowjetischer Jagdflugzeuge ausgesetzt, und die Nerven der Bevölkerung wurden stark belastet, als über West-Berliner Wohngebieten sowjetische Militärmaschinen die Schallmauer durchbrachen, doch insgesamt handelte es sich um bloße Störaktionen, hinter denen freilich der Anspruch stand, dass die Zugangswege in östliche Hand gehörten.
Nach einer Phase, in der sich sowjetische Politik um Entspannung bemühte, um Sympathie für ein "System der europäischen Sicherheit" hervorzurufen, das an die Stelle von NATO und Warschauer Pakt treten solle, nahm das SED-Regime nach Absprache mit der sowjetischen Führung im April und Juni 1968 sowie Anfang März 1969 weitere Bonner Veranstaltungen in der Stadt zum Anlass für zeitweilige Behinderungsmaßnahmen an den Zugängen, die jeweils den Anspruch der DDR auf Verfügungsgewalt demonstrierten. Stets wurden bestimmte Personenkreise vom Transit ausgeschlossen. Die anderen zivilen Reisenden hatten auf Straße und Schiene scharfe Kontrollprozeduren und lange Wartezeiten zu erdulden. Die Westmächte betrachteten diese Entwicklung mit wachsender Sorge. Als der Kreml nach der Abrechnung mit den Reformkommunisten in der Tschechoslowakei die Politik der "europäischen Sicherheit" wieder aufnahm und eine Konferenz zwecks Schaffung eines entsprechenden Systems herbeiführen wollte, sah man in Washington, London und Paris den Moment zur Regelung des Berlin-Konflikts gekommen.
Phase 9: Vier-Mächte-Verhandlungen über Berlin
Auf westliche Sondierungen, ob die UdSSR zum Meinungsaustausch über eine Verbesserung der unbefriedigenden Lage in Berlin bereit sei, reagierte Außenminister Andrej A. Gromyko am 10. Juli 1969 vor dem Obersten Sowjet positiv. Die förmliche Zustimmung zu Verhandlungen erging am 12. September unter Hinweis darauf, dass sich der Standpunkt des Kremls nicht geändert habe. Die Übereinkunft müsse alle Aktivitäten ausschließen, die mit dem Status West-Berlins als selbständiger politischer Einheit – ein anderer Ausdruck für Freie Stadt – nicht zu vereinbaren seien. Die Spannung gehe darauf zurück, dass der Westen dies nicht respektiere und das Problem der Verbindungen zur Außenwelt ohne Berücksichtigung der legitimen Interessen und der souveränen Rechte der DDR lösen wolle. Obwohl der Kreml damit für das SED-Regime Partei nahm, war Ulbricht besorgt. Er befürchtete eine Rückkehr zum Vier-Mächte-Rahmen mit der Folge, dass der DDR Verpflichtungen auferlegt würden. Der diplomatische Dialog zwischen der UdSSR und den drei westlichen Staaten begann Ende März 1970.
Unterzeichnung des Moskauer Vertrages im Kreml durch Bundeskanzler Willy Brandt und den sowjetischen Ministerpräsidenten Alexej Kossygin, 12. August 1970. Neben Brandt Bundesaußenminister Walter Scheel, neben Kossygin Scheels Amtskollege Andrej Gromyko; im Hintergrund KPdSU-Chef Leonid Breschnew (M.). (© Bundesregierung, B 145 Bild-00047673, Foto: Ludwig Wegmann)
Unterzeichnung des Moskauer Vertrages im Kreml durch Bundeskanzler Willy Brandt und den sowjetischen Ministerpräsidenten Alexej Kossygin, 12. August 1970. Neben Brandt Bundesaußenminister Walter Scheel, neben Kossygin Scheels Amtskollege Andrej Gromyko; im Hintergrund KPdSU-Chef Leonid Breschnew (M.). (© Bundesregierung, B 145 Bild-00047673, Foto: Ludwig Wegmann)
Zuerst standen sich die Positionen unvereinbar gegenüber. Nach Abschluss des Moskauer Vertrags mit Bonn am 12. August 1970 sah die sowjetische Seite sich vor das Ansinnen gestellt, dass es auch eine "befriedigende Berlin-Regelung" geben müsse. Nur so lasse sich eine Ratifizierung in Bonn durchsetzen. Andernfalls wäre der Vertrag wegen der knappen parlamentarischen Regierungsmehrheit akut gefährdet. Im Frühjahr 1971 entschloss sich der Kreml, darauf einzugehen. Ein Abrücken von prinzipiellen Standpunkten kam aber nicht in Betracht. Deswegen einigte man sich auf einen Modus vivendi: Für den Umgang mit Situationen, in denen es gegensätzliche Auffassungen gab, wurden Verfahren vereinbart, welche die kontrahierenden Seiten jeweils in ihrem Sinne rechtlich interpretieren konnten und sie zugleich auf ein Verhalten festlegte, das sie in den praktischen Fragen ohne Konflikt miteinander auskommen ließ. Auf diese Weise blieb zwar der Streitpunkt unentschieden, ob der Zugang nach West-Berlin auf dem Besatzungsrecht der Westmächte oder auf genereller Genehmigung des Transitstaates beruhe, doch erklärte die DDR sich auf sowjetisches Verlangen hin bereit, die Benutzung der Zugangswege allgemein zu akzeptieren, wenn bestimmte Regeln eingehalten würden – und die Sowjetunion übernahm faktisch die Rolle einer Garantiemacht.
Blick auf das Gebäude des Alliierten Kontrollrates in (West-)Berlin, während der Unterzeichnung des Schlussprotokolls zum Viermächteabkommen, 3. Juni 1972. (© Bundesarchiv, Bild 183-L0603-406, Foto: Horst Sturm)
Blick auf das Gebäude des Alliierten Kontrollrates in (West-)Berlin, während der Unterzeichnung des Schlussprotokolls zum Viermächteabkommen, 3. Juni 1972. (© Bundesarchiv, Bild 183-L0603-406, Foto: Horst Sturm)
Grundlage und Rahmen dieser Regelungen bildete das Vier-Mächte-Abkommen vom 3. September 1971. Soweit darin die Details noch nicht enthalten waren, wurden diese bis Ende des Jahres von den deutschen Seiten in Folgevereinbarungen formuliert.
Der Abschluss der Verträge, die das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR entspannten und dann auch den Berlin-Konflikt entschärften, beruhte auf dem glücklichen Umstand, dass Chruschtschow alle Kompromissangebote der Westmächte zurückgewiesen hatte. Er wollte alle Forderungen durchsetzen und erhielt nichts, als seine Kriegsdrohungen nicht zu der erhofften totalen Kapitulation des Westens führten. Auf diese Weise blieb der Rechtszustand in Deutschland unverändert, sodass die Verhandlungsmasse noch vorhanden war für die späteren Regelungen zur Sicherung West-Berlins und zum Interessenausgleich mit Moskau sowie für die Vereinbarungen des Jahres 1990 über die deutsche Vereinigung.