Sammelrezension zu:
Daniela Münkel (Hg.): Die DDR im Blick der Stasi 1961. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 320 S. + 1 CD, € 29,95, ISBN: 9783525375037.
Daniela Münkel, Jens Gieseke (Hg.): Die DDR im Blick der Stasi 1988. Die geheimen Berichte an die DDR-Führung, Bearb.: Frank Joestel, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 320 S. + 1 CD, € 29,95, ISBN: 9783525375020.
Roger Engelmann, Bernd Florath, Helge Heidemeyer, Daniela Münkel, Arno Polzin, Walter Süß (Hg.): Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR, Berlin: Links 2011, 400 S., € 19,90, ISBN: 9783861536277.
Wilhelm Mensing: SED-Hilfe für Westgenossen. Die Arbeit der Abteilung Verkehr beim Zentralkomitee der SED im Spiegel der Überlieferung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (1946–1976) (BF informiert; 29/2010), Berlin: BStU 2010, 323 S., € 5,–, ISBN: 9783942130714.
Michael Ludwig Müller: Die DDR war immer dabei. SED, Stasi & Co. und ihr Einfluss auf die Bundesrepublik, München: Olzog 2010, 304 S., € 26,90, ISBN: 9783789283567.
"Die DDR im Blick der Stasi 1961"
Mit den geheimen Berichten des Staatssicherheitsdienstes an die DDR-Führung der Jahre 1961 und 1988 hat die Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU) ihre 2009 mit den Berichten des Jahres 1976
Für 1961, das Jahr der Errichtung der Berliner Mauer am 13. August, sind 260 Meldungen – die insgesamt 1.500 Buchseiten füllen würden – in der Behörde des Bundesbeauftragten bekannt. Sie alle werden auf der dem Band beiliegenden CD veröffentlicht. Für die Druckfassung wurde eine Auswahl getroffen, die einen Querschnitt der Themenfelder zeigt und einige herausragende Fälle enthält. Von den 260 Dokumenten waren bisher 17 völlig unbekannt. Sie betreffen die Zeit während der Grenzsperrung und unmittelbar danach und fanden sich in einem noch unerschlossenen Teilbestand der BStU-Archivs. Der Band enthält im Anhang die Adressaten der Meldungen der Geheimpolizei außerhalb des MfS. Daraus ergibt sich, dass nur 34 der führenden SED-Genossen solche Informationen bekamen, davon 27 jeweils weniger als zehn. Die meisten erhielten Erich Honecker, ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen und Leiter des Zentralen Einsatzstabes beim Mauerbau, – nämlich 86 – und SED-Chef Ulbricht (68) sowie der sowjetische Geheimdienst KGB in Ost-Berlin (45). Mehr als jeweils 20 Meldungen gingen an den stellvertretenden Ministerpräsidenten Willi Stoph (29) und an die für Wirtschaftsfragen zuständigen Politbürokraten Alfred Neumann und Erich Apel.
Die Lektüre bestätigt den Eindruck, dass die DDR sich 1961 auf fast allen Gebieten in einer Krise befand, was vor dem 13. August zu dem rapide ansteigenden Flüchtlingsstrom – nicht zuletzt von gut ausgebildeten Fachkräften – nach dem Westen führte. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) registrierte relativ offen die vielfältigen ernsten Schwierigkeiten in der Volkswirtschaft: unzureichende Versorgung der Bevölkerung, katastrophale Verhältnisse in der Landwirtschaft, hervorgerufen durch die Zwangskollektivierung, Probleme in der Materialwirtschaft, im Gesundheitswesen sowie im Bau- und im Verkehrswesen.
Berichtet wird über "Hemmnisse bei der Jugendförderung und bei der Arbeit mit den Jugendlichen", Schwächen bei der Nationalen Volksarmee und der Volkspolizei, aber auch über "einige Gesichtspunkte zur Verbesserung der Spielfilmproduktion der DEFA" mit eigenen Personalvorschlägen. Als "Schild und Schwert der Partei" fühlt sich die Stasi zuständig für alle Lebensbereiche und kritisiert in ihren Meldungen gelegentlich auch das Verhalten von verantwortlichen Funktionären des Staatsapparates bis hin zu Ministern.
Großen Raum nehmen in den Meldungen an die Führung der SED im Jahr 1961 Informationen über die Durchführung der Aktion "Rose" (Deckname für den Mauerbau und die Grenzsperrungen am 13. August), über Zwischenfälle, "Grenzprovokationen" und die Reaktionen der Bevölkerung ein. Interessant ist ein Bericht über die Reaktion der Angehörigen der technischen, wissenschaftlichen und medizinischen Intelligenz. Darin heißt es, die Mehrheit zeige eine abwartende Haltung, doch seien dem MfS "in nicht zu unterschätzendem Maße Stellungnahmen negativer Art" bekannt geworden. So sei von Einschränkungen der persönlichen Freiheit die Rede, davon, dass Partei und Regierung die Angehörigen der Intelligenz in absolute Abhängigkeit gebracht hätten. Mit negativen Argumenten werde ferner der Einsatz von Panzern, Wasserwerfern, die Errichtung von Betonsperren und Stacheldraht bedacht. Geäußert werde, die Sperrmaßnahmen seien falsch und gegen die Bevölkerung der DDR gerichtet, um die Republikflucht zu verhindern, deren Ursache in den wirtschaftlichen Schwierigkeiten läge und nicht in westlicher Abwerbung.
Gegen Ende des Jahres 1961 schickte das MfS an Honecker – über Mielke – noch einige Hinweise zur Lage an den Universitäten und Hochschulen. Der größte Teil des Lehrkörpers werde den Erfordernissen der sozialistischen Erziehung noch nicht gerecht, heißt es darin. Einen beträchtlichen Umfang nehme nach wie vor der Personenkreis mit einer negativen und feindlichen Haltung zur DDR ein. Allgemein wird beklagt, dass deren "liberale und oft direkt ablehnende Haltung" eine große Wirkung auf die Studenten habe. Durch die "ungenügende politische Arbeit der Parteiorganisationen und der FDJ" würden diese negativen Einflüsse mehr oder weniger geduldet bzw. komme man ihnen direkt entgegen. So habe es an den Universitäten und Hochschulen in starkem Maße parteifeindliche Diskussionen "besonders zu Fragen des Personenkults" gegeben, "die sich fast ausschließlich in direkter und indirekter Form gegen den Genossen Walter Ulbricht richteten." Das Leipziger Studentenkabarett "Rat der Spötter" – Leiter: Peter Sodann – habe ein Programm ausgearbeitet, das in seiner Gesamtheit "einen einzigen Angriff gegen die Politik der Partei und Regierung und Genossen Walter Ulbricht darstellt, und indirekt bis zu konterrevolutionären Forderungen reicht." Sodann und vier weitere Mitglieder des sofort aufgelösten Kabaretts wurden wegen "staatsgefährdender Hetze und Verleumdung" in Haft genommen.
"Die DDR im Blick der Stasi 1988"
Münkel, Gieseke (Hg.): Die DDR im Blick der Stasi - 1988 (© Vandenhoeck & Ruprecht)
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Münkel, Gieseke (Hg.): Die DDR im Blick der Stasi - 1988 (© Vandenhoeck & Ruprecht)
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Schwerpunkte der "streng geheimen" Berichte der Stasi an die SED- Führung aus dem Jahr 1988 bilden vor allem die "politische Untergrundtätigkeit" Andersdenkender unter besonderer Berücksichtigung von Kirchen, Kultur und des sich häufenden öffentlichen Auftretens von Gruppen regimekritischer und ausreisewilliger Bürger. Weiterhin spielen Mängel und Missstände in der Volkswirtschaft, weiter zunehmende Probleme bei Handel und Versorgung und nicht zuletzt die seit Jahren anhaltenden, nun aber vermehrt und verstärkt auftretenden Mangelerscheinungen im Gesundheitswesen eine Rolle. Die Hinweise auf die durch wachsenden Vertrauensschwund gekennzeichnete Stimmungslage der Bevölkerung – etwa im Hinblick auf die Reaktion der Bevölkerung auf das Verbot der sowjetischen Zeitschrift "Sputnik" – spiegelt die sich drastisch zuspitzende Krise der DDR, die in den Berichten aus dem MfS jedoch meistens durch einen ideologischen und politischen Tunnelblick der Berichterstatter vernebelt wird.
Ausführlich berichtet die Stasi über die Ereignisse bei der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration im Januar, kirchliche Veranstaltungen bis hin zu internen Tagungen der Kirchenleitungen der evangelischen und Bischofskonferenzen der katholischen Kirche und das schwieriger werdende Staat-Kirche-Verhältnis sowie die "gegen die DDR gerichteten Aktivitäten akkreditierter Korrespondenten westlicher Medien". Dabei streicht sie ihr "erfolgreiches" Vorgehen gegen "feindlich-negative Personen", "antisozialistische Gruppierungen" sowie "provokatorisch-demonstrative Aktivitäten Übersiedlungsersuchender" heraus.
Die Edition "Die DDR im Blick der Stasi 1988" umfasst drei Berichtsserien, die aus den Ablagen des ZAIG-Sekretariats stammen. Es handelt sich um 279 Dokumente, von denen 238 aus der Serie "Informationen" stammen. Die meisten dieser Informationen waren für die Mitglieder der Parteiführung bestimmt. Insgesamt waren es 49 Adressaten der Berichte außerhalb des MfS; 33 von ihnen bekamen weniger als zehn. Egon Krenz, ZK-Sekretär für Sicherheit, Staat/Recht und Jugend erhielt 122 dieser Berichte, Werner Jarowinsky, ZK-Sekretär für Handel und Versorgung sowie Kirchenfragen, 85, SED-Generalsekretär Erich Honecker 84 und der Leiter der Abteilung Kirchenfragen beim ZK 68. Die als "Hinweise" bezeichneten Berichte der Serien "Reaktion der Bevölkerung" (23) und "Verschiedenes" (18) dienten in der Regel nur der internen Information im MfS.
Einige der Informationen sind wöchentliche Meldungen über die Einnahmen aus dem Zwangsumtausch – 1988 insgesamt 75 Millionen "Valutamark" – Quartalsberichte zu den Aktivitäten westalliierter Soldaten in Ost-Berlin, Statistiken über den Ost-West-Reiseverkehr, aber auch einen Bericht über "Stand und Entwicklungstendenzen des ungesetzlichen Verlassens der DDR durch Ärzte/Zahnärzte und Angehörige des mittleren medizinischen Personals" zwischen dem 1. Januar 1986 und dem 31. Mai 1988. Insgesamt hatten in diesem Zeitraum 303 Ärzte, 92 Zahnärzte und 313 Angehörige des mittleren medizinischen Personals der DDR den Rücken gekehrt.
"Das MfS-Lexikon"
Engelmann u.a. (Hg.): Das MfS-Lexikon (© Ch. Links Verlag)
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Engelmann u.a. (Hg.): Das MfS-Lexikon (© Ch. Links Verlag)
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Es hat mehr als 20 Jahre seit dem Ende des SED-Staates und der Sichtung der schier unerschöpflichen Hinterlassenschaft seines Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gedauert, bis die Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR der interessierten Öffentlichkeit "Das MfS-Lexikon" vorlegte. Das Nachschlagewerk erschließt die Ergebnisse der bisherigen Forschungen der Abteilung "Bildung und Forschung" des BStU in lexikalischer Form und bietet einen zuverlässigen Überblick über "Begriffe" – die Fachterminologie der Stasi –, Biografien der führenden "Personen" des Staatssicherheitsdienstes und seine "Strukturen" – vor allem die zuletzt 13 Hauptabteilungen, Organisationseinheiten, die vom Minister oder einem seiner Stellvertreter direkt angeleitet wurden. Ein Dokumentenanhang veranschaulicht die Strukturen der MfS-Zentrale, der Bezirksverwaltungen, der Kreis- und Objektdienststellen. Hier finden sich auch Statistiken über die Personalentwicklung des MfS von 1950 bis 1989 und den MfS-Etat von 1954 bis 1990.
Den 37 Autoren des MfS-Lexikons ist es gelungen, die Entwicklung des Staatssicherheitsdienstes der DDR, seiner Organisation, seiner Aufgabengebiete und seiner Arbeitsweisen in grundlegenden und speziellen Artikeln, die durch zahlreiche Verweise untereinander verbunden sind, in knapper Form darzustellen. Gelegentlich festzustellende Lücken machen deutlich, dass die Forschung noch nicht am Ende ist oder dass die von der Bürgerbewegung 1989/90 nicht vollständig zu verhindernde Aktenbeseitigung durch Vernichtung oder durch wie auch immer geartete "Sicherstellung" weiße Flecken hinterlassen hat. Dies zeigt sich besonders im Fall der Hauptverwaltung A (HV A), der Spionageabteilung des MfS, die von 1953 bis 1986 von "Spionagechef" Markus Wolf geleitet wurde.
Neben Artikeln zur Rolle des MfS als Untersuchungsorgan bei der Strafverfolgung, bei der allgemeinen geheimpolizeilichen Überwachung der Gesellschaft, der Volkswirtschaft, des Kulturbereichs und des Gesundheitswesens finden sich in dem Lexikon Darstellungen zur Bekämpfung und Infiltration der Kirchen, zur Bekämpfung der Republikflucht, der Ausreisebewegung, von Widerstand und Opposition sowie zur Rolle des MfS beim Volksaufstand im Juni 1953 und bei der Herbstrevolution von 1989. Interessante Informationen enthalten auch die Beiträge zum Verhältnis des MfS zur SED – die Stasi war tatsächlich kein Staat im Staate, sondern wirklich nur "Schild und Schwert" der alles entscheidenden Partei oder besser ihres jeweiligen Generalsekretärs –, zum sowjetischen Geheimdienst, zu Justiz, Volkspolizei und Nationaler Volksarmee.
Müller-Enbergs u.a. (Hg.): Wer war wer in der DDR (© Ch. Links Verlag)
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Müller-Enbergs u.a. (Hg.): Wer war wer in der DDR (© Ch. Links Verlag)
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Der Westarbeit des MfS, die aus Spionageaktivitäten – "operative Arbeit im und nach dem Operationsgebiet" – bestand, ist zwar ein eigener Artikel gewidmet, in dem aufgezählt wird, welche Diensteinheiten neben der HV A beteiligt waren, doch erfährt der Leser hier wie in dem Artikel über die Hauptverwaltung A so gut wie nichts über Erfolge oder Misserfolge dieser Aktivitäten und einzelner "Kundschafter" – auch das Stichwort "Rosenholz" im Lexikon hilft da nicht weiter.
Wer sich genauer über die Mitwirkung des MfS bei dem von der Bundesregierung betriebenen Häftlingsfreikauf und der "Familienzusammenführung" informieren will, wird vom MfS-Lexikon im Stich gelassen. Außer Hinweisen, dass seitens der DDR "die konkreten Freikaufaktionen vom MfS koordiniert und durchgeführt" wurden (Artikel: "Haft im MfS"), der Aufgabenbereich "bis hin zur Mitwirkung an den Entscheidungen in Ausreisefällen" reichte (Artikel: "Zentrale Koordinierungsgruppe" [ZKG]) und "für die organisatorische Abwicklung des Häftlingsfreikaufs die Offiziere für Sonderaufgaben zuständig" waren (Artikel: "Abteilung XIV"), erfährt man nichts. Ein Stichwort "Sonderaufgaben" oder "Offiziere für Sonderaufgaben" fehlt im MfS-Lexikon.
Einen dieser Offiziere findet man hingegen in der fünften, überarbeiteten und erweiterten Ausgabe des biografischen Lexikons "Wer war wer in der DDR", herausgegeben von Helmut Müller-Enbergs und anderen (Berlin: Links 2010, 2 Bde., 1604 S., 49,90, ISBN: 9783861535614). Dort liest man unter dem Stichwort "Volpert, Heinz": "Leiter des Sonderaufgabenbereichs Devisenbeschaffung/Häftlingsfreikauf im MfS...1969 Versetzung zum Büro der Leitung (ab 1971 zum Sekretariat des Ministers) zur Durchführung von Sonderaufgaben (Devisenbeschaffung, Häftlingsfreikauf)". Das MfS-Lexikon vermerkt unter dem Stichwort "Sekretariat des Ministers" als dessen Aufgaben lakonisch: "Realisierung von Sonderaufgaben und Sonderaufträgen." Sein Leiter wird nicht genannt. Dabei hätte Hans Carlsohn, Minister Erich Mielkes rechte Hand, ab 1953 sein persönlicher Referent und ab 1971 Leiter des Sekretariats des Ministers, von 1985 als Generalmajor, gewiss ein Stichwort im MfS-Lexikon verdient.
"SED-Hilfe für Westgenossen"
Mensing: SED-Hilfe für Westgenossen (© BStU)
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Die Abteilung Verkehr des Zentralkomitees der SED – eine von 41 solcher Abteilungen – war die am wenigsten bekannte Organisationseinheit im Parteiapparat. Sie blieb es auch nach dem Ende der SED-Herrschaft, denn sämtliche ihrer Akten sind vernichtet. Der Autor Wilhelm Mensing stützt seine Arbeit daher auf überkommene Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit, dessen "Büro der Leitung II" seit 1962, bedingt durch den Mauerbau und die Absperrung der innerdeutschen Grenze, für die "Absicherung" der Tätigkeit der ZK-Abteilung Verkehr zu sorgen hatte. Dabei ist dem Autor bewusst, dass diese Dokumente die Dinge aus der Sicht der Stasi darstellen. Unterstellt war die Abteilung Verkehr nacheinander den Politbüromitgliedern Franz Dahlem und Hermann Matern und nach dessen Tod 1971 bis zuletzt SED-Generalsekretär Erich Honecker, der schon seit 1958 als ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen ein Mitspracherecht hatte.
Die Sonderstellung der ZK-Abteilung Verkehr war in ihrer sozusagen "gesamtdeutschen" Arbeit begründet, denn die SED hat zeit ihres Bestehens den Anspruch nicht aufgegeben, Politik für ganz Deutschland zu machen. Das Aufgabengebiet der Abteilung lag nicht in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR, sondern außerhalb des Herrschaftsbereichs der SED, nämlich in den Besatzungsgebieten der drei Westalliierten und später in der Bundesrepublik. Sie war dafür verantwortlich, die im Westen arbeitenden, von der SED gelenkten kommunistischen Organisationen, zuvörderst die KPD, nach 1956 die verbotene, illegale KPD und die 1969 gegründete DKP, aber auch die Deutsche Friedensunion (DFU) materiell und finanziell auszustatten und überhaupt lebens- und aktionsfähig zu erhalten. Das geschah, indem sie Reisen der Funktionäre, den Transport von Einrichtungen und Ausrüstungen, Propagandamaterial und vor allem Geld illegal und streng geheim organisierte. Ihre Aufgaben waren organisatorischer, technischer Natur. Die politisch-ideologische Steuerung und Führung der Genossen im Westen oblag der "Westabteilung" des Zentralkomitees.
Die ZK-Abteilung Verkehr ging aus dem 1946 eingerichteten "Büro Stahlmann" hervor. Der Altkommunist Richard Stahlmann baute ab 1946 – nachdem die sowjetische Besatzungsmacht die Demarkationslinie zu den westlichen Besatzungszonen abgesperrt hatte und "Interzonenpässe" eingeführt worden waren – mit Hilfe der Sowjets einen "Grenzapparat" auf, organisierte die illegale Schleusung von Parteifunktionären und Agitationsmaterial und betrieb einen Kurierdienst für die Beförderung parteiinterner Post- und Geldsendungen. Anfang 1949 hat der amerikanische militärische Nachrichtendienst CIC in einem umfangreichen Bericht – der im Anhang des Buches englisch und deutsch abgedruckt ist – die Tätigkeit von Stahlmanns "Grenzapparat" ausführlich dargestellt. 1951 gelang Stahlmann die Schleusung von mehreren zehntausend westdeutschen Teilnehmern des Weltjugendfestivals nach Ost-Berlin, nachdem er im Jahr zuvor die Entführung des KPD-Vorsitzenden Kurt Müller in die DDR organisiert hatte, gegen den dort ein Schauprozess geführt werden sollte. Stahlmann leitete die Abteilung Verkehr bis 1952. Von 1954 bis 1965 war Adolf Baier, ein KPD-Funktionär, der 1952 auf Parteibeschluss in die DDR übergesiedelt war, Abteilungsleiter.
Mensing schildert in seiner Arbeit anhand der überlieferten Stasiakten die Entwicklung der Aufgaben und der Struktur der Abteilung Verkehr bis Mitte der Siebzigerjahre. Im frühesten erhalten gebliebenen Stasi-Dokument über die Abteilung Verkehr aus dem Jahr 1962 wird deren Aufgabe definiert: "Durchführung der gesamten organisatorischen und technischen Aufgaben, die sich aus der Arbeit der KPD sowie anderer auf gesamtdeutschem Gebiet tätigen Organisationen ergeben", womit wohl gemeint ist, dass Organisationen unterstützt werden, welche die Politik der SED im Westen betreiben. Zur Abteilung Verkehr gehörte auch die Druckerei "Phönix", die in Ost-Berlin Druckschriften aller Art für die KPD produzierte, aber auch Fälschungen von Dokumenten herstellte. Die Abteilung unterhielt Gästehäuser und andere Objekte, in denen "westdeutsche Genossen" während ihres Aufenthalts in Ost-Berlin untergebracht und versorgt wurden. In dem Dokument nicht erwähnt wird der bis 1971 offiziell von der illegalen, seit 1956 verbotenen, KPD betriebene "Deutsche Freiheitssender 904", der unter der Tarnbezeichnung "Objekt 'Valentin'" seit 1956 der Abteilung Verkehr zugeordnet war und vom DDR-Territorium aus sendete.
Nach dem Amtsantritt von Josef Steidl, der die Abteilung Verkehr des Zentralkomitees von 1965 bis zu seinem Tod 1986 leitete, erhielt sie "ein zusätzliches Aufgabengebiet zur Lösung bestimmter wirtschaftlicher Probleme". Es handelte sich um die "Westfirmen". Allerdings musste sich Steidl die Verantwortung mit Alexander Schalck-Golodkowski teilen, der seit 1966 Leiter des Bereichs "Kommerzielle Koordinierung (KoKo)" war. Schalck hatte eine strikte Trennung zwischen der Erwirtschaftung von Geldmitteln und deren Verwendung durch KoKo "und des Einsatzes von Kadern in Westdeutschland" vorgeschlagen. Eine genaue Festlegung der Zuständigkeiten ist bisher nicht aufgefunden worden. Doch war die Abteilung Verkehr fortan für das Personal der Westfirmen insgesamt zuständig. So übernahm sie auch nach der "Neukonstituierung" der offiziell selbständigen DKP 1968 den Aufbau ihrer Druckerei und deren personelle Besetzung. Steidl konnte in "seinen" Westfirmen – wie Mensing schreibt – in erheblichem Umfang selbst über Beschaffung und Verteilung des Westgeldes für die Unterstützung der KPD befinden.
Mitte der Siebzigerjahre verringerten sich die Aufgaben der Abteilung Verkehr durch die Gründung der DKP, Auflösung der illegalen KPD, deren Vorsitzender Max Reimann in die DKP eintrat, Aufhören des illegalen Grenzverkehrs für Funktionäre und Material. Erhalten blieben der Kurierdienst für die Geldtransporte zugunsten der DKP und der SED-beeinflussten "Massenorganisationen" sowie "die Zuständigkeit für die Besetzung der Führungspositionen bei den Westfirmen und der Zugriff auf die von ihnen erwirtschafteten Devisen".
"Die DDR war immer dabei"
Müller: Die DDR war immer dabei (© OLZOG Verlag)
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Während Wilhelm Mensing mit seiner Forschungsarbeit über die Rolle der ZK-Abteilung Verkehr anhand der überkommenen Dokumente einen Aspekt der "Westarbeit" der SED darstellt, will Michael Ludwig Müller die von ihm unter Westdeutschen und vor allem der Jugend behauptete "häufig totale Unwissenheit" darüber bekämpfen, was "Stasi- und Parteifunktionäre in der DDR" seit den späten Vierzigerjahren unternommen haben, politischen Einfluss in der Bundesrepublik einschließlich West-Berlin zu gewinnen. Er tut dies als Journalist, der seit den Sechzigerjahren für Axel Springers "Berliner Morgenpost" unter anderem über Hochschulpolitik und Studentenunruhen gearbeitet und die Berlin- und Deutschlandpolitik von West-Berlin aus kritisch beobachtet hat. Müller ist ein allem Linken abholder Zeitzeuge, der eigene Beobachtungen vor allem mit entsprechenden Darstellungen in den Medien und in der Sekundärliteratur unterfüttert.
Müller spürt dem Einfluss von SED, FDJ und Stasi in den Friedensbewegungen gegen die Wiederbewaffnung, gegen den "Atomtod" und gegen den Nato-Doppelbeschluss sowie in den linksgerichteten Organisationen, vor allem denen der Studenten, nach. "West-Berlin – ein Tummelplatz der Stasi", "West-Studenten – leichte Beute des MfS", "Bonner Spitzel" lauten Überschriften von Kapiteln, in denen über Spione und Agenten des DDR-Geheimdienstes von Karl Heinz Maier, dem langjährigen Vorsitzenden der (West-) Berliner Pressekonferenz, über Rainer Rupp ("Topas") und Gabriele Gast, den Topspionen von Markus Wolf bei der Nato und beim BND, bis zum Kanzlerspion Günter Guillaume, dem "Einflussagenten" William Borm, dem Berliner FDP-Bundestagsabgeordneten, und den "Maulwürfen" im Bundesamt für Verfassungsschutz Hansjoachim Tiedge und Klaus Kuron mehr oder weniger ausführlich berichtet wird. Sozusagen aus unmittelbarem Erleben schreibt Müller über sein eigenes Umfeld: "Enteignet Springer – eine Parole, die aus dem Osten kam" und die "Stasi-Zuträgerin als Springers Chefsekretärin". Müller beschäftigt sich auch mit den östlichen Propaganda-Offensiven und Desinformationsversuchen – NS-Juristen, Hans Globke, Theodor Oberländer, Heinrich Lübke – ohne freilich neue Erkenntnisse zu präsentieren.
Der Autor mahnt mit seiner journalistischen Fleißarbeit, nichts zu vergessen, zu vertuschen oder zu verdrängen, was die "ostdeutschen Kommunisten" in ihrem "kalten Krieg" gegen die Bundesrepublik und West-Berlin, im "Operationsgebiet", angerichtet haben. Er wendet sich gegen das "verklärte Bild der DDR" und gegen Vergessen oder Desinteresse, denn nur aufgeklärt könnten die Nachwachsenden künftigen Auseinandersetzungen mit extremistischen Gegnern der freiheitlichen Demokratie gewachsen sein. Sein detailreiches Buch ist keine wissenschaftliche Forschungsarbeit, sondern ein Beitrag aus West-Berliner Sicht zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.