Innere Sicherheit und Linksterrorismus
Stephan Scheiper: Innere Sicherheit. Politische Anti-Terror-Konzepte in der Bundesrepublik Deutschland während der 1970er-Jahre, Paderborn: Schöningh 2010, 452 S., € 48,–, ISBN 97835036769237.
Volker Friedrich Drecktrah (Hg.): Die RAF und die Justiz. Nachwirkungen des "Deutschen Herbstes", München: Meidenbauer 2010, 278 S., € 42,90, ISBN 97838997517864.
Johannes Hürter, Gian Enrico Rusconi (Hg.): Die bleiernen Jahre. Staat und Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland und Italien 1969–1982 (Zeitgeschichte im Gespräch; 8), München: Oldenbourg 2010, 128 S., € 16,80, ISBN 973486596434.
"Innere Sicherheit"
Wie soll der Staat – genauer: der demokratische Rechtsstaat – auf die Herausforderungen des Terrorismus reagieren? Diese Frage wird heute anhand der Bedrohung durch islamistische Gewalttäter diskutiert. Hierbei wiederholen sich mitunter Kontroversen, die man noch aus der Ära des Linksterrorismus kennt. Daran erinnert auch die Studie des Historikers Stephan Scheiper. Sie versteht sich als eine politikgeschichtliche Abhandlung zum staatlichen Handeln gegen den Terrorismus der "Rote Armee Fraktion" im Schlüsseljahr 1977. Dabei geht es dem Autor aber nicht nur um die Beschreibung der seinerzeitigen Ereignisse mit einer staatlichen Perspektive. Vielmehr soll seine Abhandlung diskutieren, "welche grundsätzlichen Elemente moderner Politik sich in diesem Zusammenhang auflösten oder einen grundlegenden Wandel im Sinne einer Entterritorialisierung und einer transnationalen Vernetzung erfuhren" (30).
Nach einer Einleitung mit Ausführungen zu Forschungsstand, Methode und Quellen geht es zunächst um die biografische Darstellung der staatlichen "Krisenstäbler", die Informationspolitik der Regierung, die Mediendiskussion über "den Staat", die Bedeutung der Sympathisanten und das Kontaktsperregesetz. Danach widmet sich Scheiper ausführlicher dem stillen Wandel von Gesellschaft und Staat im Kontext der linksterroristischen Bedrohung. Hierbei greift er zunächst weit in die deutsche Geschichte zurück, um dann das Konzept der "inneren Sicherheit" darzustellen. Dem folgen ausführliche Beschreibungen zu dem institutionellen, juristischen und politischen Wandel. Hierbei geht es nicht nur um die Planung von Reformen in der Polizei, sondern auch um die stärkere Wahrnehmung von sozialwissenschaftlichen Forschungen zum Thema. In der Gesamtschau führte diese Entwicklung in Gänze zu einem neuen Gesellschaftskonzept im Namen "Innerer Sicherheit" im transnationalen sozialen Rechtsstaat.
Der Autor formuliert in diesem Sinne denn auch bilanzierend bezügliche der Veränderungen: "Unter der Oberfläche der Terrorismusbekämpfung richteten die staatlichen Akteure das politische System in den 70er Jahren neu aus. Im Verbund mit Wissenschaft und Medien vermochten sie dem Staat neue Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen, damit er seiner verfassungsgemäßen Aufgabe weiterhin innerhalb einer gewandelten Gesellschaft gerecht werden konnte. Während einerseits Tätigkeitsfelder ausgelagert und anderweitigen Regulierungsmöglichkeiten zugeführt wurden, entwickelten zentrale Netzwerke aus Politik und Wissenschaft transnationale, reflexive und zivile Handlungsmuster, die auf dem Gebiet der Sicherheit begrifflich noch oftmals in der Vergangenheit verortet werden konnten, inhaltlich aber bereits deutlich in die Zukunft einer grenzendurchlässigen Weltgesellschaft wiesen. Hieran lässt sich die Scharnierfunktion der 70er Jahre zwischen dem 20. und 21. Jahrhundert wie an keiner anderen Stelle erkennen" (422).
Scheipers Darstellung beeindruckt allein schon durch ihren Informationsgehalt und die Materialfülle, konnte er doch umfangreiches Aktenmaterial bezüglich der Handlungen auf Seiten der Repräsentanten des Staates auswerten. Dabei weist Scheiper auch der Persönlichkeit der Akteure eine herausragende Bedeutung zu, gelten ihm doch die "Krisenstäbler" als "demokratisierte Kriegsgeneration". In der Tat spielen diese biografischen Gesichtspunkte wohl gerade in Konfliktsituationen eine herausragende Rolle. Der Autor lenkt gleichwohl auch den Blick auf die strukturellen Gegebenheiten und die Lernprozesse im demokratischen Staat. Durch die Art der Präsentation seiner Studie gelingt ihm die damit beabsichtigte Vermittlung von Einsichten in seine zentralen Deutungen allerdings nicht. Den Leser konfrontiert Scheiper mit einer solchen Fülle an Einzelinformationen, dass dabei häufig der Kontext seines eigentlichen Erkenntnisinteresses verloren geht. Hier wäre – im Sinne einer klaren Konzentration eben darauf – weniger mehr gewesen.
"Die RAF und die Justiz"
Drecktrah: Die RAF und die Justiz (© Martin Meidenbauer Verlag)
Drecktrah: Die RAF und die Justiz (© Martin Meidenbauer Verlag)
Dem Thema "Linksterrorismus und Justiz" widmete sich auch das "Forum Justizgeschichte" in Tagungen, die bereits im Herbst 2006 durchgeführt wurden. Unter der Herausgeberschaft des Richters Volker Friedrich Drecktrah liegen die seinerzeit gehaltenen Vorträge in Aufsatzform in dem Sammelband "Die RAF und die Justiz" vor. Es geht um die Entstehungsbedingungen der RAF, die Entwicklung zum terroristischen Handelns als psychosozialer Prozess, das gesellschaftlich-politische Umfeld der RAF, Mythen in der Geschichte dieser linksterroristischen Gruppe, ihren hohen Frauenanteil, Stammheim aus der Sicht des Strafprozessrechts, die Wahrnehmung von Justiz und Öffentlichkeit durch die Strafverteidiger, die Rolle der "Roten Hilfe" im Umfeld, die Position des Bundesverfassungsgerichts, den Stellenwert der Staatsräson bei den Erpressungsabsichten, die niederländischen Verteidiger der RAF-Gefangenen und den Kontext von Linksterrorismus und Vietnam-Krieg.
Entgegen des Titels finden sich demnach in dem Sammelband auch zahlreiche Beiträge, die nicht-juristische Fragestellungen und Themen behandeln und von Historikern oder Sozialwissenschaftlern stammen. Dadurch entsteht ein weiter Blick für die Analyse des Phänomens. Mitunter wiederholen die Autoren nur bereits seit längerer Zeit Bekanntes. Gleichwohl findet man auch Beiträge, die bislang nur am Rande thematisierte Aspekte beleuchten. Hierzu gehört etwa die Abhandlung, die nach den Erklärungsmustern für den relativ hohen weiblichen Anteil von RAF-Terroristen fragt. Ähnliches gilt für die Ausführungen zu der auch heute noch aktiven linksextremistischen "Gefangenenhilfsorganisation" mit der Bezeichnung "Rote Hilfe". Bedauerlich ist, dass nur wenige ursprüngliche Vorträge zu wissenschaftlichen Aufsätzen umgearbeitet wurden. So wirken manche Abhandlungen mitunter doch mehr wie ein Essay. Eine Überarbeitung hätte der Qualität dieser Beiträge sicher genutzt.
"Die bleiernen Jahre"
Hürter/Rusconi: Die bleiernen Jahre (© Oldenbourg Verlag)
Hürter/Rusconi: Die bleiernen Jahre (© Oldenbourg Verlag)
Den Blick über die Grenze wie in den beiden letztgenannten Aufsätzen wirft auch ein anderer Sammelband, der ebenfalls auf eine Tagung (des Italienisch-Deutschen Instituts und des Instituts für Zeitgeschichte im Mai 2008) zurückgeht. Deren Inhalte sind in dem von dem Historiker Johannes Hürter und dem Politikwissenschaftler Gian Enrico Rusconi herausgegebenen Sammelband "Die bleiernen Jahre" nachzulesen. Bei dessen Konzeption gelang es, eine klare Struktur durchzusetzen. In fünf Kapiteln finden sich jeweils zwei Aufsätze, welche den Umgang mit dem Linksterrorismus in einem bestimmten Bereich in der Bundesrepublik und in Italien darstellen und einschätzen: Regierung und Parlament, Polizei, Justiz, Öffentliche Meinung und Staatsverständnis. Abgeschlossen wird der Band noch durch einen Forschungsbericht, der einen Überblick zu Publikationen über den Linksterrorismus der 1970er-Jahre in Deutschland und Italien liefert.
Bei diesem Band fand eine Überarbeitung der Texte in Richtung von wissenschaftlichen Aufsätzen statt. Darüber hinaus erhielten die Autoren offenbar eine klare und verbindliche Vorgabe für die inhaltliche Gestaltung. Beides ist dem "Gesamtprodukt" zugute gekommen. Dies gilt auch für die eher knappe Darstellung, sind doch die meisten Texte nicht länger als zehn Druckseiten. Entsprechend mussten sich die Autoren auch auf den Kern ihrer "Botschaft" konzentrieren. An einem systematischen Vergleich mangelt es indessen. Wie in vielen Monografien und Sammelbänden zu länderübergreifenden Phänomenen dominieren Fallstudien zu einem Komplex in einem Land. Gerade aus der kritischen Betrachtung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden lässt sich aber gesondert lernen. Etwas verwundert ist man darüber hinaus, dass der seinerzeit besonders gefährlich agierende Rechtsterrorismus in Italien nicht genügend Aufmerksamkeit erhielt. Bilanzierend betrachtet handelt es sich gleichwohl um einen gelungenen Sammelband zum Thema.