"Blitz kontra NATO-Sender"
Die DDR war ein Staat der Grenzen.
Mit Handzetteln sollten die Menschen überzeugt werden, auf das "Gift aus dem Äther" zu verzichten – womit auf diesem Flugblatt aus Leipzig der RIAS gemeint ist. (© Privatsammlung Konrad Balzer)
Mit Handzetteln sollten die Menschen überzeugt werden, auf das "Gift aus dem Äther" zu verzichten – womit auf diesem Flugblatt aus Leipzig der RIAS gemeint ist. (© Privatsammlung Konrad Balzer)
Nach dem Mauerbau wollte die SED-Führung dieses "geistige Grenzgängertum" – wie sie es nannte – nicht weiter hinnehmen. Da man im Äther keine Mauern bauen kann, versuchten die Kommunisten es mit anderen Mitteln. Bereits kurz nach dem Mauerbau planten sie eine Aktion gegen die Nutzer westlicher Rundfunk- und Fernsehprogramme. Die Initiative ging vom Zentralrat der Freien Deutschen Jugend (FDJ) aus. Unter dem Namen "Blitz kontra NATO-Sender" war für die Woche vom 5. bis 9. September 1961 eine "umfassende Diskussion mit der Bevölkerung"
Erfahrungen damit hatte die FDJ schon fünf Tage nach dem Mauerbau gesammelt, als sie in Kreisen des Bezirks Leipzig sogenannte Ochsenköpfe von den Dächern holte. Das waren Antennen, die auf die westlichen Sendeanlagen auf dem Gipfel des Ochsenkopfbergs im Fichtelgebirge gerichtet waren. Oft verrieten bereits die Konstruktion und die Ausrichtung der Dachantenne den Nutzer westlicher Programme. Außerdem bauten die FDJler die Kanalstreifen in den Fernsehgeräten aus, die einen Westempfang ermöglichten. Unbelehrbare wurden an den Pranger gestellt: Plakate mit ihren Namen geklebt, Tafeln mit Fotos vor dem Betriebsgelände errichtet oder gar die abgesägte Antenne samt Bild des "Übeltäters" auf dem Marktplatz gezeigt.
Ochsenkopf-Antenne. Die Fernsehantennen waren auf die Sendeanlagen des Ochsenkopfes, einem Berg im bayrischen Fichtelgebirge, ausgerichtet. (© einestages.de, Günter Möstl)
Ochsenkopf-Antenne. Die Fernsehantennen waren auf die Sendeanlagen des Ochsenkopfes, einem Berg im bayrischen Fichtelgebirge, ausgerichtet. (© einestages.de, Günter Möstl)
Die Aktionen in den Bezirken unterschieden sich stark. Vor allem im Bezirk Leipzig und in den Grenzkreisen erfolgten im September und Oktober 1961 Zwangsmaßnahmen gegen die "Unbelehrbaren". Die Berichte aus den Bezirken stellten den FDJ-Zentralrat allerdings nicht zufrieden. Besonders kritisierte er, dass die Medien die Aktion propagandistisch nicht ausreichend begleiteten. Sogar das SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" und das DDR-Fernsehen hätten die Aktion unterschätzt und kaum unterstützt. So blieb nur die FDJ-Tageszeitung "Junge Welt", die täglich ausführlich berichtete.
In der Bevölkerung fand sich jede Form der Zustimmung oder Ablehnung. Einige demontierten im vorauseilenden Gehorsam die eigenen Antennen. In Schulen und Betrieben verlangte die Führung kollektive Zustimmungserklärungen nach dem Muster: "Wir verpflichten uns, keine NATO-Sender mehr einzustellen oder zu dulden". Diese Loyalitätsbekundungen erlaubten keine Aussage darüber, was privat gesehen oder gehört wurde. Die FDJ-Führung meldete Erfolge, die beweisen sollten, dass ihre Maßnahmen dem Mehrheitswillen entsprachen. Sie suggerierte einen Konsens, den es nicht gab. Auch darüber war zumindest der Zentralrat genau informiert. FDJ-Bezirksleitungen schilderten in zahlreichen Berichten nach Ost-Berlin die meist deutliche Kritik an den Zwangsmaßnahmen. Der Widerspruch kam aus vielen Teilen der Bevölkerung – von Eltern, Lehrern und sogar von Funktionären. Bürger sahen nicht ein, warum sie Fußball oder Quizsendungen des Westens nicht mehr sehen durften. Sie hielten ihr Bedürfnis nach Unterhaltung für berechtigt. Und das zu einer Zeit, als der Staat mit Härte und enormem Aufwand durchzusetzen versuchte, was unter "richtigem" Mediengebrauch zu verstehen war. Die Bürger wollten aber selbstbewusst alle Medien nutzen und sich "nach allen Seiten orientieren". Der Bürger beanspruchte, sein Programm selbst zu wählen und sich selbst ein Urteil zu bilden. Funktionäre vor Ort hörten oft, die Maßnahmen schränkten die persönliche Freiheit ein. Grundsätzlicher Art waren auch Einwände wie: "Ihr habt dazu kein Recht", oder: "Macht doch ein Gesetz". Die Aktionen verletzten das Rechtsverständnis vieler Bürger. Und manche sprachen von "Nazi-Methoden".
Andere widersprachen nicht, nahmen aber die Demontage der Antenne oder den Ausbau des Westkanalstreifens nicht hin. Sie installierten stillschweigend eine Antenne unter dem Dach. Nach der "Blitzaktion" im September schwächte sich die Intensität der Auseinandersetzung ab. Die Aktion hatte aber ein Nachspiel. Einige Bürger wehrten sich sogar tätlich dagegen, dass Funktionäre ihre Antennen entfernten. Manche griffen Instrukteure mit Fäusten an, andere warfen Steine auf sie.
Beschwerden
Der "Blitzaktion" folgte eine Vielzahl von Beschwerden an das Ministerium für Post- und Fernmeldewesen. In Eingaben protestierten die Bürger gegen die Demontage ihrer Antennen, den Ausbau der Kanalstreifen oder einen schlechten Empfang des DDR-Fernsehens, nachdem sie freiwillig ihre Antenne gedreht hatten. Widerspruch erregten auch Rechnungen für den Antennenabbau. Die Eingaben belegen, wie stark diese Übergriffe das Rechtsempfinden von Bürgern verletzten. Nachdem ein Arbeiter festgestellt hatte, dass ein paar Orte weiter keine Antenne demontiert worden war, kam er zum Schluss, dass ihm "Unrecht geschehen ist"
Streit gab es auch höheren Orts. Die Kanzlei des Staatsrats (Hauptabteilung VI Bevölkerungsfragen) und das Post- und Fernmeldeministerium (Leiter Abteilung Rundfunk- und Fernsehbetrieb) waren sich nämlich nicht einig, wer die Folgen der Anti-Westfunk-Maßnahmen zu tragen hätte.
Das fiel den Funktionären vor Ort schwer. Wie sollten sie diejenigen überzeugen, die ihre Antenne nicht freiwillig abbauten oder die gegen die Demontage protestierten? Die örtlichen Funktionäre bekamen den Unmut ab und baten "oben" dringend um Unterstützung und um "schlagkräftige Argumente". Agitationsgruppen forderten zudem, den Empfang der DDR-Sender zu verbessern. Sonst seien sie in Diskussionen oft unterlegen.
Auch nach der "Blitzaktion" wurden Westmediennutzer schikaniert, vor allem in den grenznahen Gebieten. Dort waren Westsender gut und DDR-Sender häufig schlecht zu empfangen. Eine Direktive des SED-Zentralkomitees vom 6. September 1961 verlangte, dass Bürger in Grenzkreisen ihre Fernsehzulassungen kündigten oder ihre Fernsehgeräte außer Betrieb setzten, wenn sie das DDR-Fernsehen nicht empfangen konnten. In Grenzkreisen ohne DDR-Empfang war es nach dem Mauerbau zudem nicht möglich, ein Fernsehgerät zu kaufen. Der Käufer musste sich vom zuständigen Postamt bestätigen lassen, dass der Empfang des Deutschen Fernsehfunks (DFF) am Aufstellungsort des Geräts möglich war.
Viele Bürger beschwerten sich beim Postministerium, wenn dieses ihnen die Genehmigung fernzusehen entzog. Sie hätten Jahre auf ein Fernsehgerät warten müssen und das Geld zusammengespart, aber dann sei ihnen in der Verkaufsstelle mitgeteilt worden, dass sie kein Gerät kaufen dürften, weil es für ihren Wohnort verboten sei. Besonders verärgert reagierten sie, wenn sie sich bei Nachbarn in derselben Straße bereits vom guten Fernsehbild überzeugt hatten. Manche trugen vor, dass trotz schlechter Messergebnisse der Post das DDR-Fernsehen empfangen werden könne. Das Bild sei an nebligen und regnerischen Tagen zwar nicht gut, der Empfang aber möglich, so der Tenor vieler Eingaben.
Die Bewohner der Grenzkreise wollten aber keine Fernsehbürger zweiter Klasse sein. Viele umgingen das Kaufverbot. Als Kunden in einigen Bezirken Fernseher ohne Voranmeldung kaufen konnten, wurde auch dieses Kontrollinstrument unwirksam. 1964 hob die SED-Führung das Fernsehverbot für Grenzkreisbewohner ohne DDR-Empfang schließlich auf. Das Postministerium empfahl dem Ministerrat, den Beschluss "über die Regelung von der Zulassung von Fernsehteilnehmern in den Grenzkreisen zur Staatsgrenze West" vom Oktober 1961 als erfüllt zu bewerten, da das DDR-Fernsehen mittlerweile immer weitere Kreise an der westlichen Staatsgrenze erreiche.
Ein Problem blieb für die DDR-Führung aber trotz aller Erfolgsmeldungen: die schlechte Versorgung der Bevölkerung mit eigenen Medienangeboten. Technisch und finanziell war die DDR nicht in der Lage, die für den TV-Empfang ungünstig gelegenen Orte auf Bergen und in Tälern, vor allem im Süden der Republik, zufriedenstellend mit dem eigenen Fernsehangebot zu versorgen.
Juristische Ahndung
Untrennbar verbunden mit der propagandistischen Auseinandersetzung und den administrativ-technischen Versuchen, den Westmedienkonsum zu unterbinden, war die juristische Verfolgung. Bereits im Nachgang der Aktion "Blitz kontra NATO-Sender" beschäftigte der Widerspruch von Bürgern die Gerichte. Sie belegten zum Beispiel das tätliche Vorgehen gegen Antennenstürmer (oder die Androhung von Gewalt) mit Haftstrafen. So bei einen 22-jährigen Verkäufer. Er hatte kleine Steine vom Straßenrand auf SED-Funktionäre geworfen, sich nach der Intervention seines Vaters dafür jedoch bei ihnen entschuldigt. Das Bezirksgericht Suhl in Meiningen verurteilte ihn dennoch zu einer Gefängnisstrafe von anderthalb Jahren. Der Angeklagte ging in Berufung. Daraufhin reduzierte das Oberste Gericht die Strafe auf acht Monate Haft. Die Obersten Richter gaben dem Bezirksgericht zwar recht, dass es sich um "Staatsgefährdende Propaganda und Hetze" nach § 19 Strafergänzungsgesetz (StEG) handele. Sie erklärten aber, die Bezirksrichter hätten die "Gesellschaftsgefährlichkeit der Tat" überbewertet.
Auch Proteste von Studenten wurden geahndet. Ein Physikstudent der Universität Greifswald sollte nach dem Willen des Bezirksgerichts Rostock für zweieinhalb Jahre ins Zuchthaus. Er hatte in seinem Seminar mit anderen Studenten eine Protestresolution entworfen und diese auf einer FDJ-Tagung verlesen und verteidigt. Der Wortlaut der Resolution: "Die Gruppe Physik V protestiert mit allem Nachdruck gegen die gewaltsamen Mittel (auch Rufmord), mit denen man gegen das Hören von NATO-Sendern vorgeht. Wir sind der Meinung, daß man diese Fragen nur durch beharrliche Überzeugungsarbeit klären kann."
Mit dem 1962 einsetzenden Tauwetter urteilten Richter zumeist milder, grundsätzlich ging die Justiz aber weiter vor, nicht nur gegen öffentlichen Widerspruch und widerständiges Verhalten.
Karikatur aus der ostdeutschen Zeitschrift "Frischer Wind", 1948. Dass die Nationalsozialisten verboten hatten ausländische Radiosender zu hören, wird aufs Korn genommen.
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Karikatur aus der ostdeutschen Zeitschrift "Frischer Wind", 1948. Dass die Nationalsozialisten verboten hatten ausländische Radiosender zu hören, wird aufs Korn genommen.
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Die Satirezeitschrift "Frischer Wind" hatte noch 1948, was alles in Deutschland schon einmal verboten gewesen war: das Abhören fremder Radiosender zum Beispiel. Die Redakteure machten besonders jene verächtlich, die in der NS-Zeit ihre Nachbarn an die Polizei verraten hatten.
Diese juristischen Verfahren zeigen, wie auf der Bühne des Gerichtssaals oder in den Hinterzimmern der Staatsanwälte, Richter und Abteilungsleiter der zuständigen Ministerien Aushandlungsprozesse stattfanden über "richtigen" und "falschen" Medienkonsum. Bereits Ende der Fünfzigerjahre wurden viele Fälle gemeinschaftlichen Westfernsehens vor Gericht verhandelt. Doch auch hier stellt der Mauerbau eine Zäsur dar. Das lässt sich exemplarisch an einem der sogenannten Westfernsehverfahren zeigen.
Im Juli 1961 leitete das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) ein Ermittlungsverfahren ein gegen den Bürgermeister eines kleinen thüringischen Ortes.
Auf zwei weitere Aspekte ist hinzuweisen: Zum einen musste man nicht Funktionär sein wie der Bürgermeister, um Anfang der Sechzigerjahre wegen gemeinschaftlichen Westfernsehens vor Gericht zu landen. Zum anderen zeigt der Fall, dass selbst Funktionäre von Partei und Staat das Recht für sich beanspruchten, das Fernsehen des "Klassenfeindes" einzuschalten.
In vielen Fällen wird in diesen Jahren höchstrichterlich darüber verhandelt, wie das Sehen und Hören spezieller Programminhalte strafrechtlich zu bewerten sei. Kann jemand, der eine Opernübertragung gehört oder Sport- und Unterhaltungssendungen gesehen hat, deswegen verurteilt werden?
Die Gerichte und Staatsanwälte diskutierten differenziert über diese und andere Feinheiten sowie über grundsätzliche Fragen der strafrechtlichen Bewertung. Immer wieder urteilte das Oberste Gericht, dass bei "jedem sich über mehrere aufeinanderfolgende Programmteile erstreckenden Empfang westdeutscher und westberliner Rundfunk- und Fernsehsendungen zu einem wesentlichen Teil Darbietungen mit hetzerischem Inhalt vermittelt werden".
"Beihilfe zu staatsfeindlicher Hetze"
An anderer Stelle blieb die Staatsmacht aber unnachgiebig. Mit der Einführung des ZDF in der Bundesrepublik hatte der Schmuggel von Konvertern und Fernsehteilen in die DDR rasant zugenommen, wie das MfS bereits Mitte der Sechzigerjahre registrierte.
Im Zusammenhang mit den Ermittlungen registrierte das MfS, wie weitverbreitet das Sehen westlicher Fernsehsendungen war. Die Staatssicherheit untersuchte die Mediennutzung detailliert.
Die Einschätzungen Ende der Sechzigerjahre zeigen, dass der Aktionismus nach dem Mauerbau erfolglos geblieben war. Mit politischem Druck, administrativen, technischen und juristischen Mitteln versuchte die Parteiführung eine innere Grenze des Erlaubten zu ziehen gegen die grenzüberschreitenden Medien. Die Bevölkerung, sogar manche Funktionäre, wollten sich aber nicht in diese Schranken wei-sen lassen. Und sie setzten sich am Ende durch, lange bevor die Mauer fiel.