Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft
Wolfgang Stephan Kissel, Ulrike Liebert (Hg.): Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft. Nationale Narrative und transnationale Dynamiken seit 1989 (Europäisierung. Beiträge zur transnationalen und transkulturellen Europadebatte; 7), Münster: LIT 2010, 245 S., € 19,90, ISBN 9783643109644.
Claus Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München: Beck 2011. 256 S., € 14,95, ISBN 9783406605840.
Gerhard Doliesen: Polen unter kommunistischer Herrschaft 1944–1956. Mit Vergleichen zur DDR, Schwerin: LStU Mecklenburg-Vorpommern 2010, 144 S., € 10,–, ISBN 9783933255235.
Rudolf von Thadden, Karl Schlögel, Adam Krzemiński: Blicke Ost – Blicke West (Göttinger Sudelblätter), Göttingen: Wallstein 2010, 32 S., € 9,90, ISBN 9783835309074.
Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft
Unter den zahlreichen Publikationen zur europäischen Erinnerungskultur der vergangenen drei Jahre
Es ist besonders hervorzuheben, dass die Herausgeber unter Verweis auf Tsvetan Todorovs Abhandlung "Les abus de la mémoire" (Paris 1998) mit dem Blick auf die Verursacher und die freiwilligen Kollaborateure davon sprechen, dass "die Erfahrungen von Dezivilisierung im Sinne der Preisgabe von Tötungshemmungen ... sich auf die gesamte Epoche und alle Gewaltformen" (12) erstrecken. Die dadurch bedingte Einbeziehung der Komplizen, Helfershelfer und bewussten Unterstützer der Terrorregime in den Erinnerungsprozess wie auch die Frage nach den vielfältigen Ursachen von Gewalt in der nach 1990 einsetzenden Reflexion lässt die Herausgeber zu der Erkenntnis kommen, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts "kaum eine homogene, vergemeinschaftete europäische Erinnerung möglich" (15) sei.
Was leisten dann die in dem Band versammelten Untersuchungen im Hinblick auf die Analyse neuer Konstellationen in einzelnen Ländern? Aufgeteilt nach drei Abschnitten untersuchen die vier Beiträge in I) "Alte und neue Konstellationen im Osten Europas" Erinnerungskonflikte im postsowjetischen Raum (Wolfgang Stephan Kissel), Vergangenheitsbewältigung als Voraussetzung für die Modernisierung Russlands (Galina Michaleva), die polnische Erinnerungskultur am Beispiel von Polen und Juden (Karol Sauerland) und Identitätskonstrukte im ehemaligen Jugoslawien (Yvonne Pörzgen).
Im Abschnitt II ("Transnationale Erinnerungsdynamiken in Westeuropa") setzt sich David Bathrick mit enttabuisierter Erinnerung am Leid der Deutschen im Zweiten Weltkrieg auseinander, während Helga Bories-Sawala sich mit der jüngst in Frankreich heftig diskutierten Frage nach der Mitschuld an den Naziverbrechen beschäftigt. Sehr diffus verläuft auch in Spanien der Aufarbeitungsprozess des Franco-Regimes, wie Anja Mihr mit dem Akzent auf dessen Verzögerungen nachweist. Die Voraussetzungen für Versöhnungen untersucht der Beitrag von Walter Süß über die Arbeit der Behörde für die Stasi-Unterlagen der DDR, den kritischen Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit im östlichen Zentraleuropa (Tschechien, Slowakei, Polen, Ungarn) betrachtet Gábor Halmai, wobei er eine Reihe präziser Merkmale unzureichender juristischer und politischer Entscheidungen bei der Verurteilung von Verbrechen auflistet. Ein schreckliches Beispiel jüngster Kriegsverbrechen sind die Vergewaltigungen tausender Kosovo-albanischer Frauen und Mädchen durch serbische Soldateska, die Janna Wolff und Charlotte Bruun Thingholm unter Einbeziehung der umfangreichen Forschungen zu sexueller Gewalt in Kriegen bewerten. Sie beklagen, dass Kriegs-Vergewaltigungen vor allem im südlichen Europa immer noch zu Tabuthemen gehören. Die dadurch entstehenden Dunkelziffern erschweren ebenso den Aufklärungsprozess wie die Erinnerungsabläufe der Konfliktparteien.
Und welche Perspektiven zeichnen sich – mit dem Blick auf die zahlreichen Verwerfungslinien – für die europäische Erinnerungsgemeinschaft ab? Ulrike Liebert setzt in ihrem Überblick auf zwei Faktoren, die den äußerst komplizierten Prozess befördern könnten: demokratische Normen als Grundlage einer kollektiven Identität Europas und die angestrebte europäische Identität als Mittler in nationalen Erinnerungskonflikten. Nach ihrer analytischen Bewertung des deutschen Erinnerungsprozesses kommt Liebert zu der Einsicht, dass "die Verschränkungen der europäischen und deutschen Identitätsdebatten ... erkennen (lassen), dass transnationale Erinnerungskonflikte dann konstruktiv bearbeitet werden können, wenn der Boden hierfür durch eine auf universale Normen und demokratische Prinzipien gestützte, europäisierte nationale Identität bereitet ist." (242)
Die hoch reflektierte, brennende Konflikte in der europäischen, bislang noch sehr zerklüfteten Erinnerungslandschaft beleuchtende Sammelabhandlung ist vor allem für universitäre Seminare zu empfehlen.
Der Kampf um die europäische Erinnerung
Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung (© C. H. Beck)
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Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung (© C. H. Beck)
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Die Schlachtfeld-Metapher Claus Leggewies und seiner Koautorin Anne-Kathrin Lang zur Charakterisierung der scharfen Auseinandersetzungen um die Erinnerungshoheit sowie deren Inhalte in den einzelnen europäischen Nationen mehr als 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bezieht sich nicht vornehmlich auf die großen Opfer-Narrationen des Holocaust und des GULag. In erster Linie geht es den Verfassern der vergleichenden und Nationen übergreifenden Studie darum, aus der Perspektive der europäischen Randstaaten des Baltikums, des Balkans, der Ukraine, der Türkei sowie der europäischen Kolonialgeschichte und aus dem Blickwinkel von Europa als Migrationskontinent etwas in einen Diskurs einzubringen, was auf den ersten Blick unvereinbar scheint. Unter Verweis auf zwei Einwände, die jegliche gesamteuropäische Kommemoration als eine "Überanstrengung" betrachten bzw. Bemühungen um eine gesamteuropäische Erinnerung als ein Mittel bewerten, das Europa auseinander treibe, stellt ihre Einleitung, unter der Überschrift "Warum ist es so schwer ist, ein Europäer zu sein", eine Gegenthese auf: "Wer die europäische Identität stärken möchte, der wird die Erörterung und Anerkennung der strittigen Erinnerungen genauso bewerten müssen, wie Vertragswerte und Währungsunion." (7)
Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist der Verweis auf den griechischen Zeithistoriker Stathis Kalyvas, der vier "Memorialregime" in Europa nach 1945 unterscheidet (Exklusion, Inklusion, Kontestation, Beschweigen), und die Frage danach, welchen Beitrag Europa in der Vergangenheit zur jeweils national ausgerichteten Übergangsjustiz geleistet habe. War es eine exklusive Geschichtspolitik, "die für die Zwecke nationaler Rekonstruktion ... bestimmte Opfergruppen systematisch ausschließt", war es eine inklusive, also "eine vorauseilende Konsensstiftung, die vor allem auf eine rasche Versöhnung abzielt", oder eine auf Kontestation angelegte Politik, "die Geschichtskontroversen am Leben erhalten?" (10) Oder gar ein Anti-Memorial-Regime, das mithilfe von Amnestien das Beschweigen der Vergangenheiten betreibt?
Auf der Grundlage dieser Idealtypen kollektiver Erinnerung, die in den einzelnen europäischen Ländern unterschiedlichen Monumenten, Gedenktagen und Diskursen zur Aufarbeitung von Geschichte entsprechen, entwickelt die erinnerungstypologische Studie Kriterien und Erklärungsmuster für die Deutung von inner- und zwischenstaatlichen Konflikten an den Peripherien der EU. Ausgehend von sieben Kreisen europäischer Erinnerung (Holocaust, GULag, Ethnische Säuberungen, Kriege und Krisen, Kolonialverbrechen, Migrationsgeschichte, Europäische Integration) widmen sich die Verfasser deren politischen Handlungsanleitungen, strafrechtlicher Verfolgung und der moralischen Verantwortung unter Verweis auf den unterschiedlichen Grad der bisherigen Aufarbeitung.
Akzentsetzungen finden, neben dem negativen Gründungsmythos Europas, die Verbrechen des Sowjetkommunismus in den baltischen Ländern und in der Ukraine, die Folgen der Kriege in Europa nach 1945 und die beiden hoch problematischen Bereiche: Verbrechen des europäischen Kolonialismus sowie die Auswirkungen der Einwanderung nach Europa. Das Schwarzbuch des Kolonialismus listet auf dem düsteren Schlachtfeld, das die Europäer vor allem in Afrika hinterlassen haben, nicht nur deren Verbrechen auf. Es verweist auch auf die bei weitem nicht ausreichende faktische und symbolische Wiedergutmachung gegenüber den ehemals kolonialisierten Stämmen und Völkern. Die genannten Beispiele, Ermordung von etwa zehn Millionen Einwohnern von Belgisch-Kongo unter der Regentschaft von Leopold II. Ende des 19. Jahrhunderts und die Vernichtung von 80 000 Herero durch ein reichsdeutsches Expeditionskorps im Jahr 1904, verdeutlichen die Ausrottungspolitik der Europäer, der bislang – mit Ausnahme von wissenschaftlichen Abhandlungen – nur eine verschämte, meist finanzielle "Wiedergutmachung" der Verbrechen gefolgt ist.
Umso konsequenter ist die Einbeziehung des Themas: Einwanderungskontinent Europa. Denn, so die Verfasser, der enge Zusammenhang zur kolonialen Geschichte Europas sei durch "die Geschichte von Asyl und Armutsmigration" gegeben. Sie wiederhole sich am Beispiel der Roma und Sinti, deren jüngste Vertreibung aus Frankreich und verächtliche Behandlung in der Slowakei oder in Rumänien keine entschiedene Verurteilung durch den EU-Gipfel im Jahre 2010 gefunden habe. Dennoch zeichne sich im siebten Kreis eine Erfolgsstory ab, die als Integrationsleistung der Europäer nach 1945 zu werten sei. Ob und wie diese Leistung auch in dem für 2014 in Brüssel geplanten "Haus der Europäischen Geschichte" dokumentiert wird, bleibt abzuwarten.
Auf jeden Fall sollten dort auch die "Erinnerungsorte der europäischen Peripherie", Thema des II. Kapitels der Publikation, ihren Platz finden. Was die Verfasser unter Verweis auf Pierre Noras Projekt "Les lieux de mémoire" und auf der kategorialen Grundlage von Begriffen wie: Streitfall, Konfliktlinie, Arena 1–3 (Binnen- , Außen- und Diaspora-Perspektive) und die Haltung Europas zu den Konflikten, aufgelistet und in sechs umfangreichen Studien zusammengetragen haben, gehört zu den überzeugendsten Studien im Bereich der Konfliktforschung. Die Fallbeispiele sind einleuchtend: Das russische Soldatendenkmal "Aljoscha" in Tallinn, Symbol der sowjetischen "Befreiung" Estlands, fungiert als baltische Ambivalenz gegenüber den fremden und eigenen Verbrechen. Sarajevo und die serbischen Kriegsverbrechen zwischen 1992 und 1995, an denen Radovan Karadić im hohen Maße mitverantwortlich war, bildet den Hintergrund für die unentschlossene Politik der Europäer, die ihre partielle Mitschuld an der Dauer des Krieges durch den Prozess gegen den serbischen Heerführer in Den Haag zu verdrängen sucht. Die Fallanalyse des Prozesses gegen Karadić und deren unzureichende mediale Beleuchtung analysiert die Teilstudie ebenso überzeugend wie die bislang weitgehend ausgebliebene Aufarbeitung des Genozids an den Armeniern.
Weitgehend unbekannt bleibt in der deutschen Öffentlichkeit auch das Wissen um den von den sowjetischen Behörden verursachten Hungertod von rund sechs Millionen Ukrainern in den Jahren 1932/33. Die Erinnerungen an den Holodomor (Hungerkatastrophe) bilden seit der Gründung der Ukrainischen Republik im Jahr 1990 einen ständigen Streitpunkt um die Art der Einbettung in das Gedächtnis der nachfolgenden Generationen. Es spricht für die konsequent-kritische Einstellung der Verfasser, dass sie am Beispiel der Auseinandersetzung mit den Beständen im "Königlichen Museum für Zentralafrika" in Tervuren (Vorort von Brüssel) und ihrer scharfen Verurteilung der europäischen Afrikapolitik auch die "unschuldigen" osteuropäischen Länder in die Pflicht nehmen. Obwohl sie sich "im 19. Jahrhundert kein Stück vom 'großen afrikanischen Kuchen'" geholt hätten, seien sie dennoch "Teil eines postkolonialen europäischen Unternehmens" (161). Und Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Es bleibt, so Leggewie und Lang, eine Kampfzone irregulärer Einwanderung. Und wie kann Europa politische Identität gewinnen? Wenn kollektive Identität Sinn ergeben soll, ist es unter Verweis auf den Philosophen Helmut Dubiel "die akkumulierte Erfahrung überstandener dramatischer Konflikte, in deren Folge sich dieses Bewusstsein eines gemeinsam geteilten gesellschaftlichen Raumes herausbildet." (185) Möge das "Haus der Europäischen Geschichte", dessen Inhalte und Strukturen bislang nur in groben Umrissen erkennbar sind, ein solcher Erinnerungsort werden!
Polen unter kommunistischer Herrschaft
Doliesen: Polen unter kommunistischer Herrschaft (© LStU Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin)
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Doliesen: Polen unter kommunistischer Herrschaft (© LStU Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin)
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Der von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur finanzierte Band unternimmt in zehn straff gegliederten Abschnitten den Versuch, die "Volksrepublik" Polen unter dem politischen und ideologischen Diktat der Sowjetunion und im Umfeld der DDR in ihren wesentlichsten Entwicklungsetappen zu erfassen. In seinem Vorwort verweist Jörn Mothes auf zwei wesentliche Ereignisse, die den Historiker Gerhard Doliesen, der lange Jahre an der Ost-Akademie Lüneburg lehrte, bewogen, diese zeithistorische Studie zu schreiben. Der Anlass dafür waren zwei Ereignisse: Das lebhafte Echo, das der 50. Jahrestag des Arbeiteraufstandes am 17. Juni 1953 in der DDR in der deutschen Öffentlichkeit sowohl in Fachkreisen als auch in Schulen fand. Und drei Jahre später, im Jahr 2006, das Ausstellungsprojekt "Kommunistische Repression in Polen und in der DDR in den 1950er-Jahren", das der Erinnerung an den Arbeiteraufstand am 28. Juni 1956 in Posen (Poznań) gewidmet war. Die Ausstellung wanderte durch viele Schulen in Mecklenburg-Vorpommern und verdeutlichte nach Mothes "Defizite an fundierten Kenntnissen über die jüngere Geschichte Polens", weil dieses wichtige historische Thema an deutschen Schulen kaum behandelt werde.
Wie erfolgt die zeithistorische, methodische und didaktische Umsetzung dieser Periode, zumal der Verfasser einige vergleichende Aspekte in seiner Studie abhandelt? In der Einführung gibt Doliesen eine knappe Übersicht über die historische Entwicklung Polens im frühen 20. Jahrhundert, charakterisiert die Stalinisierung der Volksrepublik Polen nach 1944 und verweist auf die polnischen Archive, die ihm die Abdruckrechte für die zahlreichen eindrucksstarken Abbildungen einräumten. Wie wichtig solche Bilddokumente sind, zeigen bereits die Abschnitte 1 und 2, in denen es um die Darstellung der Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den heutigen Westprovinzen und die Zwangsumsiedlung der polnischen Bevölkerung aus den damaligen östlichen Gebieten Polens nach Schlesien, Ostpreußen und Pommern geht wie auch die Unterdrückung der Bauernpartei und anderer Parteien während der Stalinisierung Polens zwischen 1946 und 1955 thematisiert wird. Die dort abgebildeten Plakat-Reproduktionen und Fotografien beleben nicht nur die Textinhalte, sondern leisten mehr als eine bloße Illustration von historischen Umbruchphasen. Hier profitierte der Historiker Doliesen von den Erkenntnissen des visual turn der 90er-Jahre.
Die Abschnitte 3 bis 6 sind den hoffnungsgeladenen Ereignissen zwischen 1955 und 1958 gewidmet. Das polnische "Tauwetter" schwemmte viele Relikte des Stalinismus davon, ohne eine entschiedene "Wende" einleiten zu können. Der Arbeiteraufstand vom Juni 1956 wird auf der fotografischen und der dokumentarischen Ebene gut belegt. Auch der "Polnische Oktober" als Beginn einer Liberalisierungsphase erfährt eine sprachlich-transparente Beschreibung. Die Abschnitte 9 und 10 sind der ausführlichen vergleichenden Darstellung der gescheiterten Entstalinisierung in Polen und in der DDR gewidmet. Eingeleitet durch ein Fotodokument mit dem Untertitel "Moskauer Souverän und Ost-Berliner Vasall – Ulbricht enthüllt am 19. August 1951 das Stalin-Denkmal in der Berliner Stalin-Allee" wird über die Auswirkungen des Posener Aufstands vom Juni auf das interne "Klima" an DDR-Universitäten sowie über die Repressionen des Ulbricht-Regimes gegen die Reformkräfte berichtet.
Den eigentlichen Vergleich zwischen beiden "Volksdemokratien" leisten der Abschnitt 10 und die anschließenden vergleichenden Illustrationen. Die Abbildung der politischen Grenzen mit dem Stand von 1950, als die DDR die Friedensgrenze Oder-Neiße zwischen beiden stalinistischen Diktaturen anerkannte, leitet über in die transparente, vergleichende Analyse der beiden Staaten zwischen 1945 und 1956. In diesem Abschnitt erzielt die Publikation ihren besonderen didaktischen Gewinn, weil Doliesen die wesentlichen Unterschiede zwischen dem katholischen Polen und der protestantischen DDR anschaulich darstellt. Außerdem gelingt es ihm, auf der Grundlage des bildlichen und grafischen Anschauungsmaterials die Propagandamittel der beiden Regime überzeugend zu veranschaulichen. Die übersichtlich aufgebaute Studie trägt zweifellos zur Bereicherung des Geschichtsunterrichts in der Sekundarstufe II und in der Erwachsenenbildung bei, vorausgesetzt, die Schulverwaltungen der Bundesländer und die Volkshochschulen zeigen ein verstärktes Interesse an der weithin verödeten Aufklärung über entscheidende Nachkriegsprozesse, unter denen besonders die Menschen in der damaligen DDR leiden mussten.
Blicke Ost – Blicke West
Thadden, Schlögel, Krzeminski: Blicke Ost – Blicke West (© Wallstein Verlag)
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Thadden, Schlögel, Krzeminski: Blicke Ost – Blicke West (© Wallstein Verlag)
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Der in der Reihe "Göttinger Sudelblätter" (Herausgeber Heinz Ludwig Arnold) erschienene Band ist zwei Historikern gewidmet, die im Jahr 2010 gemeinsam den Samuel Bohumil Linde-Literaturpreis der Universitäten in Göttingen und Torun erhielten. Seine Laudatio auf den renommierten Professor für Osteuropäische Geschichte Karl Schlögel und den in Deutschland bekanntesten polnischen Publizisten, Adam Krzemiński, leitet der emeritierte Professor für Neue und Mittlere Geschichte an der Universität Göttingen, Rudolf von Thadden, mit dem Verweis auf die doppelte Intention des auch in Historikerkreisen angesehenen Preises ein. Hervorragende Leistungen im Bereich Lyrik, Prosa, Dramatik und Essayistik im umfassenden Sinn möge er, so der Laudator, würdigen, wobei er die anderen Bereiche, die in der Ausschreibung genannt werden, nämlich Publizistik, Übersetzung, Literaturkritik und Edition, leider nicht ausdrücklich anführte. Ein Versehen, das der tiefgründigen Würdigung der beiden Preisträger nicht schadete, jedoch den Grad der Plausibilität für die Stichhaltigkeit der Argumente sicherlich erhöht hätte.
In seinen einleitenden Anmerkungen zum umfangreichen Werk Karl Schlögels lobte Thadden zunächst den Osteuropahistoriker, der die Geografie der Landstriche jenseits der Oder ernst nehme, der die "Wiederkehr Europas aus dem Geist der Städte" auch in den ländlichen Räumen und Dörfern entdecke, der die Karten nicht als bloße Hilfsmittel zur Erfassung von Landschaften benutze, sondern in ihnen Abbilder und Projektionen von Welten sehe, der den polnischen kulturgeschichtlichen Raum aus der östlichen Perspektive erfasst habe. Nicht umsonst ziere das Titelblatt der Publikation von Schlögel "Die Mitte liegt ostwärts" die Abbildung des in Krakau stehenden Denkmals zu Ehren von Adam Mickiewicz, und Adam Krzemiński habe ihm das große Epos des polnischen Nationaldichters "Pan Tadeusz" so ans Herz gelegt, dass sich "ein Pommer dadurch unmittelbar berührt fühlt." (10)
Die damit vom Laudator aufgezeigten vielschichtigen Verdienste des deutschen Preisträgers verbindet er in seinen folgenden Ausführungen mit der Würdigung des polnischen Preisträgers, der das heutige Polen ohne Romantik sehe, der bereits vor 1989 in zahlreichen Aufsätzen die polnisch-DDR-deutschen Verhältnisse kritisch beleuchtet habe, der in dem deutsch-polnischen Essayband (gemeinsam mit Gunter Hofman) eine Liste der verfehlten deutsch-polnischen Dialoge aufgestellt habe, der in zahlreichen Essays, sowohl in "Die Zeit" als auch in "Polityka", einen Dialog zwischen beiden Völkern gefordert habe, der schließlich auch die angesehene polnisch-deutsche Zeitschrift "Dialog" mitbegründet habe.
Nach so viel gerechtfertigtem Lob gaben sich die Preisträger in ihren Dankreden selbstverständlich bescheidener. Karl Schlögel beschrieb anschaulich seinen Lebensweg von einer bayerischen Klosterschule über die universitäre Ausbildung zum Osteuropahistoriker, seine Reisen in das im sozialistischen Reformeifer jubelnde Prag und in die dogmatisch-erstarrte Sowjetunion, die für ihn mit dem Blick auf die 1920er Jahre zum Laboratorium der Moderne und hinsichtlich der 1930er-Jahre der von Schrecken begleitete Abstieg in die Terrorwelt Stalins wurde. Zwei Zäsuren seien für ihn entscheidend gewesen: 1968 und 1989. Umso dankbarer sei er denen gewesen, die ihm mit ihrem Mut und ihren wissenschaftlichen Vorleistungen sein eigenes Werk ermöglicht hätten.
Es spricht für die Bescheidenheit der beiden Preisträger, dass sie sich eher als Interpreten umwälzender historischer Entwicklungsschübe im geopolitischen Raum zwischen Berlin und dem Ural sehen denn als Zeithistoriker und Publizisten, die gesellschaftliche und politische Umbrüche voraussahen. Ihre lobenden Worte auf die rasanten Entwicklungssprünge der letzten 20 Jahre in den gutnachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Polen und Deutschland einerseits und Polen und der Ukraine andererseits stimmen den Rezensenten ein wenig nachdenklich. Und das polnisch-russische Beziehungsgefüge, das nach der Flugzeugkatastrophe von Smolensk zunächst von tiefem Mitleid mit der polnischen Nation erfüllt war und in der Zwischenzeit leider wieder von – aus der nachbarschaftlichen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts gespeisten – Verschwörungstheorien und Verdächtigungen bestimmt wird?
Es ist noch viel aufzuarbeiten auf dem Feld der mentalen Verwüstungen zwischen den Deutschen, Polen und Russen. Umso weitsichtiger ist die Vergabe des Samuel Bohumil Linde-Literaturpreis an zwei Europäer, die als wissenschaftlich und publizistisch geschulte Therapeuten nicht nur Wege aus der lähmenden Enge der Nachkriegszeit aufgezeigt haben, sondern ganz im Sinne des zwischen 1800 und 1847 zwischen Leipzig und Warschau wirkenden bedeutenden Sprachwissenschaftlers Linde beiden Völkern und möglicherweise auch in naher Zukunft dem russischen Imperium zahlreiche kluge Impulse gegeben haben.