Einleitung
Mit dem Fall der Mauer verschwand bekanntlich auch West-Berlin. Zwar überdauerte die formale Trennung zwischen Ost- und West-Berlin sogar das Einheitsjahr 1990 – eine gemeinsame Verfassung trat erst am 11. Januar 1991 in Kraft –, doch war es die plötzliche Öffnung der Mauer im November 1989, die die "Insel" West-Berlin wieder an das "Festland" anschloss und dem eigenartigen Leben im Biotop ein Ende bereitete.
Zugleich scheinen aber die Ereignisse von 1989 und 1990 in merkwürdiger Weise an West-Berlin vorbeizugehen. In den allgemeinen Erzählungen von Revolution und Vereinigung bleibt die eigenartige Inselstadt, die zumindest geografisch doch im Zentrum der Ereignisse liegt, auffällig blass. Gewiss, vergessen wird West-Berlin nicht. Die dramatischen Szenen der "flutenden Massen" an zwischenstädtischen Grenzübergangsstellen führten zum finalen Legitimitätsverlust des DDR-Staates. Ohne West-Berlin hätte es diese Szenen so nicht gegeben – denn die Wiesen und Wälder an der innerdeutschen Grenze luden nicht wie der Kurfürstendamm zum freudetrunkenen und mit Sekt besprühten Trabi-Korso ein: Ohne West-Berlin also kein 9. November.
Doch in diesem Bild findet West-Berlin selbst kaum statt. Die "Insel" bleibt passiver Zielort in einer aus ostdeutscher Perspektive erzählten Geschichte des Mauerfalls. West-Berlin ist bloß Bühne und Dekor, es stellt den Ku'damm und das klatschende Publikum für die ostdeutsche Selbstbefreiung. Später liefert es in Gestalt seines Regierenden Bürgermeisters auch den Gastgeber für die symbolischen Grenzüberschreitungen namhafter Bundespolitiker und am Ende der Erzählung den Reichstag als Kulisse der Einheitsfeier.
Dementsprechend fehlen in der jüngeren Literatur zum Mauerfall und zum Einheitsprozess West-Berliner Handlungen und Perspektiven in auffälliger Weise. Der Blick schwingt von der West-Berliner Freudennacht des 9. November meist umgehend wieder zurück auf Ost-Berlin und alsbald dann auf Bonn. Aus West-Berliner Warte bleibt diese Geschichte größtenteils unerzählt.
Im Folgenden wird der Vermutung nachgegangen, dass Gründe für die auffällige West-Berliner Absenz in unseren Erzählungen sich nicht zuletzt im Verlauf der Ereignisse der Umbruchsjahre selbst finden lassen. Anhand einer knappen historischen Skizze werden hier drei mögliche Erklärungen für den Verlust der West-Berliner Perspektive unterschieden. Diese betreffen die soziokulturelle wie politische Distanz der "Insel" zum "Festland" der Bundesrepublik, den hochsymbolischen Aufprall zwischen Bonn und West-Berlin am "Tag danach" sowie schließlich die spezifische Konstellation der Erinnerungslandschaft des vereinigten Deutschlands.
I. Entfernung
West-Berliner Politiker haben, anders als die in Bonn, keine eigenen Spuren in die Geschichte des Mauerfalls und der Vereinigung prägen können. Die (Teil-)Stadt samt ihrer Führung war schwach, und vor 1989 war der Eindruck weit verbreitet, dass die historische Rolle der einstigen "Frontstadt" ausgespielt war. West-Berlin sei das "Abfallprodukt einer gescheiterten Politik", schrieb Peter Bender 1987 lakonisch, "ein zweckloses Gebilde".
Gerade in der vermeintlichen Vorzeigekommune schrumpften die zur Schau gestellte Zukunftsfähigkeit und Leistungskraft des westlichen Gesellschaftsmodells aufs Schmerzlichste. Politische und wirtschaftliche Skandale und Affären lädierten nachhaltig die öffentliche Kultur und den Ruf Berlins. Selbst in der von vielen als "golden" empfundenen kurzen Ära des Regierenden Bürgermeisters Richard von Weizsäcker (1981–1984) war die Provinzialisierung mit Händen zu greifen. Aus der Zeit gefallen wirkte in den 1980er-Jahren die Alliiertenhoheit der Franzosen, Briten und Amerikaner, die dessen ungeachtet peinlich genau gehandhabt wurde. Die ummauerte Stadt, Zentrum des geteilten Deutschlands, lag im deutschlandpolitischen Abseits.
Vieles weist darauf hin, dass für einen Großteil der West-Berliner die "Veränderungen im Osten" sich in einem separaten Paralleluniversum abspielten, das in der eigenen Erfahrungswelt, wenn überhaupt, nur wenig Bedeutung gewann. Auf der "Insel" tickten die Uhren nun einmal anders. Schon Helmut Kohls "geistig-moralische Wende" war in West-Berlin kaum durchzusetzen gewesen, wo Bürgerinitiativen die großen Museumspläne sabotierten und Identitätsdebatten eher im Bereich der Stadterneuerung geführt wurden.
Im unbewussten Anlauf zum historischen November verstärkte sich diese Isolation noch um ein Vielfaches, als in West-Berlin ausgerechnet im April 1989 ein experimenteller rot-grüner Senat antrat, der nun auch offiziell vorhatte, die überholten statusrechtlichen und an "Einheitsfantasien" orientierten Grundlagen West-Berlins endlich den scheinbar postnationalen Realitäten der Gegenwart anzupassen. Deutschlandpolitisch setzte der bundesweit zunächst eher unbekannte SPD-Politiker Walter Momper auf die Anerkennung der Teilung, und damit konnte er sich der Unterstützung weiter Teile der West-Berliner Gesellschaft sicher sein. Gerade in der einstigen "Frontstadt" waren die Einheitsideale angesichts der in Beton gegossenen Teilung erheblich verblasst. Momper hatte, wie so mancher in der SPD, seine Hoffnungen auf Reformer innerhalb der SED gesetzt und hielt auch in der finalen Krise der DDR an Kontakten zur Staatsführung fest. Das Verhältnis zu ostdeutschen Oppositionellen war schwierig und ungeklärt.
Unter der politischen Leitung dieses Senats verspielte West-Berlin zumindest aus Bonner Sicht seinen letzten Rest deutsch-deutscher Politikfähigkeit. Ohnehin sanken die Beziehungen zwischen der konservativen Regierung Kohl und dem linken Senat Momper rasch auf den Tiefpunkt. Schon bei den rot-grünen Koalitionsverhandlungen ließ FDP-Chef Otto Graf Lambsdorff verlauten, dass Bonn nicht "jeden Unfug" an der Spree mitfinanzieren werde.
Denn als sich die Krise der DDR im Herbst verschärfte, musste sich die West-Berliner Stadtverwaltung kurzfristig auf die Folgen einer möglichen Grenzöffnung vorbereiten. Die Senatsverwaltung erwartete einen Zustrom von ostdeutschen Besuchern an jenem "Tag X", an dem die DDR ihre rigide Grenzpolitik lockern würde. Zugleich sorgte man sich um die Stabilität des sozialistischen Umlands, von dem die isolierte Metropole in jeglicher Hinsicht abhängig war: vom geregelten Zugang über die Transitstrecke und die Wasserwege über die Müllabfuhr bis hin zur Stromversorgung etwa der S-Bahn sowie von U-Bahn-Tunneln unter Ost-Berliner Territorium. Vor diesem Hintergrund erhielten auch die Differenzen mit der Bonner Regierung neue Nahrung, denn die Inselstadt erhoffte sich in diesen Umbruchszeiten zusätzliche Unterstützung. Doch "wie üblich" stieß Momper mit seinen Hilferufen in Bonn "auf taube Ohren und Unverständnis",
Hier dürfte ein erster Grund für den Verlust der West-Berliner Perspektive in der historischen Forschungslandschaft nach 1990 liegen. Die Inselstadt hatte politisch wie gesellschaftlich starke Eigenkulturen entwickelt, die von der spezifischen Konstellation der städtischen Teilung abhängig waren. Dies führte in den entscheidenden Jahren zu einer politischen Führung, die zumindest aus bundesdeutscher Sicht im Abseits stand. Mompers im Rückblick wenig einflussreiche deutschlandpolitische Position trug wenig zum gesamten Gang der Entwicklungen bei – hin zur Deutschen Einheit. Auf das teleologische Element in dieser Begründung wird noch zurückzukommen sein.
II. Aufprall
Die ungleiche Deutungskonkurrenz zwischen Bonn und West-Berlin entlud sich auf gewaltige Weise im Chaos um den unerwarteten Fall der Mauer. Neben aller Freude über die plötzliche Grenzöffnung und über den bis dahin friedlichen Verlauf der Umwälzung lagen binnen kürzester Zeit alle politischen Nerven blank. Große Nervosität gab es bezüglich der Haltung der Sowjetarmee und der Reaktionen von Menschen in Ost und West. Der Kanzler war im Ausland, und Berlins Regierender Bürgermeister feierte seine Deutungshoheit über die spektakulären Ereignisse in der eben noch ausrangierten Stadt Berlin. Die ungeklärte Lage führte am "Tag danach" zu offenen Verstimmungen, die bis weit in den späteren Verlauf der Vereinigung hinein ihre Spuren hinterlassen sollten.
Denn eine erste Folge des Mauerfalls war, dass das soeben ins Abseits gestellte West-Berlin auf einmal ins Zentrum der Weltgeschichte rückte. Dadurch verschoben sich schlagartig alle topografischen Koordinaten innerhalb der Bundesrepublik: Auf einmal mussten die Bonner aus der Ferne anreisen, um "dabei" zu sein. Die neue, offene Konstellation führte zu einer Orientierungssuche, die sich symbolisch in zwei spiegelverkehrten Besuchsreisen verdichtete. Während Kohl alles daran setzte, schnell in die isolierte Inselstadt zu gelangen, wurde Momper am Freitagmorgen, dem 10. November, ausgerechnet in Bonn erwartet, um der bundesdeutschen Länderversammlung vorzusitzen.
Mompers Besuch in Bonn folgte auf eine sensationelle Nacht, in der West-Berlins Regierender Bürgermeister den festgefahrenen Verkehr zwischen Ost- und West-Berlin an der Grenzübergangsstelle Invalidenstraße mit einem Megafon geregelt hatte – einer der wenigen ikonischen Momente des West-Berliner Bürgermeisters im November 1989. Im Morgengrauen flog er nach Bonn, und zwar mit einem ihm persönlich zur Verfügung gestellten Transportflugzeug der US-Armee, damit er "nicht länger als unbedingt nötig" abwesend sein müsste. "In Bonn war von der fundamentalen Veränderung, die heute Nacht durch Deutschland gegangen war, nichts zu spüren", notierte Momper später hämisch: "Keine Trabis, keine jubelnden Massen, normaler Alltag. Fast unwirklich. Das Regierungsviertel war so früh am Morgen ruhig und leer."
Noch nachdrücklicher dokumentierte Helmut Kohls hastiger Besuch in West-Berlin das Aufeinanderprallen zweier Politikkulturen.
Helmut Kohl spricht vor dem Schöneberger Rathaus, 10. November 1989. Links der SPD-Vorsitzende Willy Brandt. (© AP)
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Helmut Kohl spricht vor dem Schöneberger Rathaus, 10. November 1989. Links der SPD-Vorsitzende Willy Brandt. (© AP)
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Es sollte nicht bei diesem einen Ärgernis bleiben. Die westdeutsche Prominenz traf im Laufe des Tages in der tobenden Inselstadt ein und versammelte sich im Abgeordnetenhaus, im Rathaus Schöneberg. Dort hielt die West-Berliner Volksvertretung gerade eine Sondersitzung ab, um gemeinsam eine Resolution zu den historischen Ereignissen abzugeben. Die Debatte wurde mit Lautsprechern live auf den Platz vor dem Rathaus übertragen, wo eine wachsende Menge auf die anschließende Kundgebung mit Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, Bundeskanzler Helmut Kohl und SPD-Chef Willy Brandt wartete. Während die Bundespolitiker, teilweise aus dem Westen, teilweise aus Polen kommend, im Abgeordnetenhaus eintrafen und in der ersten Reihe Platz nahmen, lief die feierliche Debatte der West-Berliner Abgeordneten zunehmend aus dem Ruder. CDU-Fraktionschef Eberhard Diepgen, Mompers Amtsvorgänger, hatte sofort den "Tag der nationalen Einheit" ausgerufen und rhetorisch alle Register gezogen: "Deshalb rufe ich Herrn Krenz zu: Öffnen Sie dieses Brandenburger Tor!" Die SPD reagierte irritiert auf dieses Nationalpathos. Die Alternative Liste (AL) weigerte sich daraufhin, einer Resolution zuzustimmen, in der das Wort "Einheit" vorkäme. Die Feier entgleiste nun völlig, und das Publikum draußen hielt sich mit Unmutsbekundungen nicht zurück. Zu allem Überfluss setzte ein Vertreter der Republikaner am Rednerpult zum Deutschlandlied an; bei der vierten Zeile wurde er "unter tumultartige[r] Unruhe" vom Ordnungsdienst des Abgeordnetenhauses entfernt. Die Resolution, die nach vielen Zänkereien und gegen die Stimmen der CDU und der Republikaner schließlich verabschiedet wurde, war ein haarsträubender Kompromiss zwischen AL und SPD. Die Senatsparteien hatten eine von der CDU vorgeschlagene Formulierung aus Willy Brandts Brief zur deutschen Einheit (1972) förmlich vergewaltigt, indem sie ausgerechnet den Begriff der "Einheit" durch einen unlesbaren Brei ersetzt hatten.
Doch damit noch immer nicht genug. Nach dem misslungenen Auftritt des Abgeordnetenhauses erschienen die führenden Politiker am späten Nachmittag im Portal des Schöneberger Rathauses. Am Kopf der Freitreppe war eine kleine Bühne improvisiert worden. Die Stimmung war angespannt. Die Alternative Liste – immerhin West-Berliner Senatspartei – hatte gleich ganz auf Vertretung verzichtet; für sie war jede Form von Wiedervereinigung ein "reaktionäres Projekt", und zum Mauerfall hatte sie dementsprechend wenig zu sagen. Die Redner waren, in dieser Reihenfolge, Momper, Wohlrabe, Genscher, Brandt und Kohl. Sie mussten in einem Eiertanz versuchen, der unerwarteten Lage am Tag nach dem Mauerfall Rechnung zu tragen und missverständliche Signale ans In- und Ausland zu vermeiden. Noch während der Reden auf der Schöneberger Treppe trafen laufend neue Nachrichten aus Ost-Berlin und aus Moskau bei den Spitzenpolitikern ein. Und vor ihren Füßen versammelte sich das aktivistische West-Berlin der späten 1980er-Jahre.
Das Publikum empfing Wohlrabe und vor allem den unpopulären Kanzler sofort mit einem Pfeifkonzert. Momper sprach als Erster und sagte demonstrativ: "Gestern war nicht der Tag der Wiedervereinigung, sondern der Tag des Wiedersehens in unserer Stadt!" Während er dem "Volk der DDR" zu seiner gelungenen Revolution gratulierte, zischte Kohl hinter ihm: "Volk der DDR – unglaublich, unglaublich". Momper wagte sich noch weiter vor: "Die demokratische Kultur der Bürger der DDR ist unverbraucht. Sie zeugt von sozialer Verantwortung und der Abneigung gegen die Ellenbogengesellschaft. Davon werden sich bei uns manche eine Scheibe abschneiden können." Jubel in West-Berlin, aber hinter ihm, so berichtet Momper, kochte Kohl vor Wut: "Lenin spricht, Lenin spricht."
Die gespenstische Szene am Schöneberger Rathaus bedeutete für die Delegation aus Bonn, bei aller Freude über die Öffnung der DDR, eine harte Landung im fernen Berlin. Wutentbrannt verließ Kohl nach Abschluss der Kundgebung die Szene. Dem Kanzler war der West-Berliner Senat, der bei den akuten und "existentiellen Schwierigkeiten" des immensen Besucherzustroms händeringend warmherzigen Zuspruch und harte Finanzmittel aus West-Deutschland brauchte, keinen Blick wert. Dass er kurz darauf bei der CDU-Kundgebung am Breitscheidplatz nach eigenen Angaben von einer großen Menge Berliner jubelnd empfangen wurde, registrierten die Medien nicht mehr, und nur aus Notizen seines Umfeldes erfahren wir von seinem spontanen Besuch am nunmehr weit geöffneten Checkpoint Charlie, wo ihm von vielen Ost-Berlinern frenetisch zugejubelt worden sei.
Und so lieferte Schöneberg am 10. November einen zweiten Grund für West-Berlins Absenz in den Erzählungen von 1989/90. Die peinliche Treppenszene fällt bis heute in jeder Fernsehdokumentation oder DVD aus der Reihe: Die "Insulaner" hatten sich danebenbenommen. Viele Bonner Gäste waren zutiefst enttäuscht und beleidigt. West-Berlin erwies sich endgültig sich als ein schwieriges, undankbares Pflaster, als eine eigene Erfahrungswelt. Der Affront sollte bei vielen Westdeutschen die Berlin-Skepsis bis tief in die Hauptstadtdebatte von 1991
III. Teleologie
Öffnung des Grenzüberganges am Brandenburger Tor (© AP)
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Öffnung des Grenzüberganges am Brandenburger Tor (© AP)
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Vorweihnachtliche Freude: Bei der Öffnung des Grenzüberganges am Brandenburger Tor wurde Bundeskanzler Helmut Kohl nicht ausgepfiffen. Neben ihm DDR-Ministerpräsident Hans Modrow (2. v.r.) und Walter Momper; links hinter Kohl sein Kanzleramtsminister Rudolf Seiters. 22. Dezember 1989.
Der Schöneberger Kater dokumentierte in hoher Dichte die Orientierungskrise, in die der Mauerfall zunächst die alte Bundesrepublik stürzte. Er demonstrierte ebenfalls, wie sehr die Stadt Berlin in der alten Bundesrepublik symbolisch überfrachtet worden war und wie tief der Graben zur West-Berliner Realität der 1980er-Jahre klaffte. Die Veranstaltung am Rathaus suchte in Pathos, Form und Ort Anschluss an die Tradition der legendären Jahre 1948 und 1963, an die großen Berlin-Reden von Ernst Reuter und John F. Kennedy. Doch das versammelte West-Berlin war im November 1989 nicht mehr das heroische Volk, das der bundesdeutschen Mythologie nach tapfer viele Krisen bestanden, die von Stalin und Ulbricht bedrohte Demokratie verteidigt und der gebeutelten Stadt in aussichtsloser Lage stets die Treue gehalten hatte. Seit den späten 1960er-Jahren war ein neues, oft aus West-Deutschland zugewandertes, junges und kritisches West-Berlin hinzugekommen, und diese Polarität prägte jetzt den Erfahrungsraum der Inselstadt.
Doch gerade dieses wirkliche, nun plötzlich in Auflösung begriffene West-Berlin hat in der Forschung bislang kaum Konturen angenommen. Die politische Realität (oder auch: Irrealität) im letzten Jahr des alten West-Berlins legt die Umrisse einer politischen Stadtkultur bloß, die in die bundesdeutsche Meistererzählung des Mauerfalls nicht hineinpassen will. Mit seiner von Kohls Zehn-Punkte-Programm geleiteten und auf die deutsche Einheit vom 3. Oktober 1990 ausgerichteten Teleologie verweist dieses Narrativ die Stimmen, Vorstellungen und Praxen West-Berlins in ein historisch ungültiges, da vom "Lauf der Geschichte" widerlegtes Universum. Die vielfach anderen zeitgenössischen Lesarten degenerieren aus dieser auf den 3. Oktober fixierten Nach-Sicht zu postnationalen Spinnereien einer unbedeutenden Minderheit. Auf diese Weise verschließt man sich dem Zugang zum eigenartigen, auf jeden Fall einmaligen West-Berliner Erfahrungsraum, der in den hektischen Novembertagen die erste und prominenteste Bühne für die epochemachenden Veränderungen in Deutschland hergab. Die Träger dieses kulturellen Erfahrungsraumes griffen vielfach in die unmittelbare Nach- und Interpretationsgeschichte des Mauerfalls ein, bis hin zu den verkaterten Kopfschmerzen der Schöneberger Treppenszene "am Tag danach".
Und hierin läge eine dritte Erklärung für den Verlust der West-Berliner Perspektive. Die Atmosphäre dieses eigenartigen Biotops verschwand im Moment seiner Öffnung. Und nach der Vereinigung ging alles rasch im Strom des "Neuen Berlin" auf. West-Berlin existierte somit nicht, wie die neuen Bundesländer, mit erkennbarer Identität in der Nachwendezeit fort; es hatte keine Stimme in der gesamtdeutschen Erinnerungslandschaft, wurde weder angeklagt noch verteidigt. Die Merkwürdigkeiten etwa des Transitverkehrs oder der Kreuzberger Szene reichten für das Raritätenkabinett des geteilten Deutschlands, nicht aber für eine fortlebende Vertretung in den Geschichtsdebatten nach 1990. So ging der eigenartige Beobachtungsstandpunkt "West-Berlin" nach 1990 verloren, auch in der Historiografie.
Obwohl – bei näherem Hinsehen könnte man diese letzte Erklärung für das Schweigen West-Berlins und über West-Berlin auch umdrehen. Dessen Ursachen lägen dann nicht so sehr im Verschwinden, sondern gerade in den zunächst unvermuteten, dann aber augenfälligen Kontinuitäten zur Hauptstadt der neuen, "Berliner" Republik. Denn die offenkundige Feststellung, dass West-Berlin Ende 1990 lautlos unterging, wird auf den zweiten Blick als gewaltige Täuschung offenbar – denn sie bezeugt vor allem, dass vieles aus West-Berlin eben gerade nicht verschwand, sondern nahtlos in das "neue Berlin" überging. Dies betrifft neben der Politik, der Justiz und der Verwaltung auch zahllose stadtplanerische, gedächtniskulturelle und symbolpolitische Strukturen und umfasst überraschenderweise viele prominente Projekte des "Neuen Berlins", wie etwa die Renovierung des Reichstags (diskutiert seit 1985), die Neubebauung des Spreebogens (seit 1982), die Erschließung des Potsdamer Platzes (seit 1988), die "kritische Rekonstruktion" (seit 1984) und die Errichtung eines Holocaust-Denkmals (seit 1988). Trotz der gewaltigen kontextuellen Veränderungen, die solche Projekte ideell teilweise in ihr Gegenteil verkehren ließen, verlaufen personell, topografisch und diskursiv zahlreiche Linien vom alten West-Berlin in die neue Bundeshauptstadt. So liegt die Vermutung nahe, dass es bei aller Entfremdung gerade auch die perspektivische und oft biografische Nähe ist, die einer Distanzierung vom späten West-Berlin und somit dessen Historisierung bis heute im Wege steht.