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Informationen zur politischen Bildung Nr. 357/2023

Beruf oder Berufung? Arbeitswelten, Schutz und Repräsentation von Athletinnen und Athleten

Jürgen Mittag

/ 12 Minuten zu lesen

Nach Fehlentwicklungen rücken die beruflichen Rahmenbedingungen des professionellen Sports ins Blickfeld und es entsteht eine verstärkte unabhängige Interessenvertretung für Athletinnen und Athleten.

Spitzensportlerinnen werden schlechter bezahlt als Spitzensportler. Fans fordern vor dem Spiel der kanadischen Frauenfußballmannschaft gegen die brasilianische am 19. Februar 2023 eine faire Bezahlung der Fußballerinnen. (© picture-alliance, REUTERS | USA Today Sports)

Im Zentrum der Idee des Spitzensports stehen Athletinnen und Athleten. Ihr Training, ihre Wettkämpfe, ihre Erfolge und Niederlagen bilden die Grundlage für die Attraktivität des Sports. Sie sorgen dafür, dass der Sport als Publikumssport von begeisterten Anhängerinnen und Anhängern vor Ort oder in den Medien verfolgt wird. Damit tragen die Sportlerinnen und Sportler – zumindest aus nationalstaatlicher Perspektive – zu einem öffentlichen Gut bei. Dies umso mehr, da der Spitzensport in erheblichem Maße mit Steuermitteln finanziert wird.

In Medien und öffentlicher Kommunikation kommt gerade im Kontext von Sportgroßereignissen dem nationalen Prestige in Form der Nationenwertung sowie dem Medaillenspiegel und dem Abschneiden in populären Sportarten ein besonderer Stellenwert zu. Wie umfassend sich bei Sportwettbewerben der Erfolg jedoch in Identifikation und Akzeptanz der Bevölkerung niederschlägt, hängt auch von Prinzipien wie dem Auftreten und Verhalten der Athletinnen und Athleten, von Fairness, Chancengleichheit und Transparenz – und damit vom Zustandekommen des Erfolgs – ab.

Ungeachtet ihrer Bedeutung für den professionellen Sport und dessen Rezeption ist Athletinnen und Athleten als kollektiven Akteuren bis in die jüngste Vergangenheit sportpolitisch nur begrenzte Aufmerksamkeit gewidmet worden. Vielmehr wurden sie lange Zeit als integraler Bestandteil der Verbände und Vereine gesehen, deren Organisationsleistungen den sportlichen Erfolg der Athletinnen und Athleten erst ermöglichen. Im Verlauf der 2010er-Jahre haben zahlreiche sportpolitische Kontroversen aber zu einer deutlichen Veränderung der Rolle von Sportlerinnen und Sportlern im Geflecht von Verband und Staat geführt. Mittlerweile haben sich diese sportpolitisch als eigenständige Akteure etabliert.

Spitzensportförderung in Deutschland

Die staatlichen Mittel zur Förderung des Sports in Deutschland stellen eine komplexe Mixtur unmittelbarer und mittelbarer Förderung dar, die zudem aus unterschiedlichen Töpfen erfolgt. Ausweislich des 15. Sportberichts der Bundesregierung von 2023 wurde im Zeitraum von 2018 bis 2021 ein Gesamtbetrag von rund 2,3 Milliarden Euro an Bundesmitteln für den Sport aufgewendet. Der nähere Blick auf die Spitzensportförderung des Bundes zeigt Mittel in Höhe von rund 300 Millionen für 2023, die vom BMI für den Spitzensport verantwortet werden. Dies bedeutet eine deutliche Ausweitung seit den 2010er-Jahren. Belief sich die Zuwendung des BMI für die Bundesverbände – als Teilausschnitt der Spitzensportförderung – im Jahr 2013 noch auf 51,6 Millionen, so stieg sie bis 2022 auf 95,2 Millionen Euro jährlich an.

Der finanzielle Aufwuchs ging jedoch nicht in gleichem Maße mit einem sportlichen Medaillenzuwachs einher. Vielmehr hat das „Team Deutschland“, wie die deutsche Equipe seit 2018 bezeichnet wird, bei den Spielen in Tokio 2021 den sich seit den Olympischen Sommerspielen von London 2012 abzeichnenden Rückgang in der Medaillenwertung fortgesetzt. Wurden in London noch 86 Medaillen gewonnen, so waren es bei den Spielen 2016 in Rio de Janeiro 42 und in Tokio insgesamt 37 Medaillen. Dies war die niedrigste Medaillenausbeute seit der deutsch-deutschen Vereinigung. Ebenso wie nach Rio setzte auch nach Tokio eine Debatte über eine Reform der Spitzensportförderung in Deutschland ein.

Im Jahr 2016 forcierten die Hauptprotagonisten der Reformdebatte – DOSB und BMI – neben der Konzentration der Bundes- und Olympiastützpunkte ein Potenzialanalysesystem (PotAS), das auf Athletinnen und Athleten mit Medaillenpotenzial und Sportarten mit Erfolgschancen ausgerichtet war. Nach Tokio setzt man – unter Federführung von BMI und DOSB und in Anlehnung an einen Passus des Koalitionsvertrags der „Ampel-Regierung“ – auf ein neues Leistungssport-Fördersystem. Dessen Kern soll eine unabhängige Sportagentur bilden, die den Spitzensport steuert und der wiederum ein Sportfördergesetz zugrunde liegen soll.

Die politische Debatte über die Reform des Spitzensports wird flankiert von Stellungnahmen weiterer Akteure, unter denen – anders als bei früheren Reformdebatten – den Athletinnen und Athleten selbst verstärkte Bedeutung zukommt. Seitens der 2017 gegründeten Athletenvertretung „Athleten Deutschland“ wurde ein umfassendes Positionspapier erstellt, das sich gegen die Annahme wendet, mit mehr Mitteln zwingend auch mehr Medaillen erzielen zu können.

Nicht nur mit Blick auf das bereits bestehende „globale Wettrüsten“ bei der Spitzensportförderung, sondern auch auf unterschiedliche nationale Wertehorizonte, die zum Beispiel bei der Nachwuchsrekrutierung angelegt werden, trat die Athletenvertretung für eine stärker am Gemeinwohl orientierte Spitzensportförderung ein. Gefordert wurde zudem eine gesellschaftspolitische Grundsatzdebatte zum Stellenwert des Spitzensports. So stellt sich die Frage, ob Medaillen das richtige oder auch nur ein hinreichendes Kriterium für die Definition von Erfolg sind. Was sind den Bürgerinnen und Bürgern Medaillen wert und wieviel dürfen sie kosten?

Rahmenbedingungen des professionellen Sports

Wenn es um den Spitzensport geht, stellt sich auch die Frage nach den Arbeits- und Lebenswelten, in denen Athletinnen und Athleten Sport ausüben. Das Einkommen von Sportlerinnen und Sportlern in Deutschland variiert grundsätzlich stark und hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie zum Beispiel der Sportart, dem Erfolg, dem Geschlecht, der Medienpräsenz oder auch individuellen Vereinbarungen mit Verbänden und Sponsoren. Profisportler verdienen in Deutschland in den großen und populären (Mannschafts-)Sportarten wie Fußball, Basketball und Handball vergleichsweise gut, zahlreiche Stars sind Einkommensmillionäre.

In der Fußball-Bundesliga der Männer, der höchsten deutschen Spielklasse, erreicht selbst das durchschnittliche Spielergehalt die Millionengrenze. Im olympischen Sport haben Athletinnen und Athleten hingegen in der Regel ein deutlich geringeres Einkommen als ihre Pendants in den großen Profiligen. In einigen Fällen bewegen sie sich sogar in prekären Kontexten. Einer auf Umfragen unter Sportlerinnen und Sportlern basierenden Studie der „Stiftung Deutschen Sporthilfe“ aus dem Jahre 2018 zufolge geben rund 35 Prozent der Athletinnen und Athleten an, sich aufgrund ihrer finanziellen Lage zumindest nicht hinreichend auf den Sport konzentrieren zu können.

Der nähere Blick auf die Rahmenbedingungen professioneller Athletinnen und Athleten in Deutschland veranschaulicht auf Grundlage der Befragung, dass diese im Mittel eine Arbeitswoche von 56 Stunden haben. Davon werden knapp 32 Stunden für die Ausübung des Sports genutzt, während 24 Stunden für andere berufliche Tätigkeiten oder Ausbildungszwecke aufgewendet werden. Die Befragten erzielen monatliche Bruttoeinnahmen von durchschnittlich 1560 Euro im Monat; davon stammt ein Anteil von rund 25 Prozent aus privaten Quellen.

Die hier angeführten Zahlen dokumentieren, dass zum Verständnis der Arbeits- und Lebenswelt von professionellen Sportlerinnen und Sportlern auch arbeitsbezogene und sozialpolitische Fragen von erheblicher Bedeutung sind. Wesentlich ist die Existenz eines formellen Anstellungsverhältnisses, da für formal angestellte Athletinnen und Athleten die arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen gelten, die auch andere Arbeitnehmende in Anspruch nehmen können wie etwa Urlaubsregelungen oder Krankenversicherungen. Privilegiert sind sogenannte Sportsoldatinnen und -soldaten, die als Beschäftigte der Bundeswehr eine besondere sportliche Förderung erhalten. Das Konzept der Sportsoldatinnen und -soldaten, die herausragende sportliche Leistungen erbringen, wurde 1967 eingeführt, um den Spitzensport in Deutschland zu unterstützen. Es existiert in vergleichbarer Form aber auch beim Zoll, der Bundespolizei und beim Bundesgrenzschutz.

Das Gros der Athletinnen und Athleten im olympischen Sport kann in Deutschland jedoch keine aus einer Anstellung resultierenden arbeitsrechtlichen Ansprüche geltend machen. Athletenvereinbarungen oder Förderverträge, die von den Sportlerinnen und Sportlern mit den nationalen Fachverbänden abgeschlossen werden, tragen ebenso wie Stipendien oder Vereinbarungen mit spezifischen Elitesportorganisationen wie der „Sporthilfe“ wesentlich zur finanziellen Unterstützung der Athletinnen und Athleten bei. Sie begründen aber kein Arbeitsverhältnis und auch keine Ansprüche bei der Altersversorgung.

Sportpolitisch umstritten ist die Frage, inwieweit sich Athletinnen und Athleten selbst während der Olympischen Spiele vermarkten dürfen. Erst durch einen Entscheid des Bundeskartellamts 2019 gegen missbräuchliche Werbebeschränkungen von DOSB und IOC wurde eine Lockerung der Regel 40.3 der Olympischen Charta erwirkt. Diese Regel hatte Sportlerinnen und Sportlern bis dahin die Möglichkeit untersagt, während der Dauer der Olympischen Spiele die eigene Teilnahme für Werbezwecke und zum Selbstmarketing zu nutzen.

Das angeführte Beispiel dokumentiert, dass die anhaltenden Veränderungen im olympischen Sport zu einem grundlegenden Wandel in den Arbeitsbeziehungen von Sportprofis führen, der wiederum weitere sportpolitische Debatten nach sich zieht. Dies umso reger, als auch VN-Organisationen wie die ILO, die Internationale Arbeitsorganisation, im Rahmen des Global Dialogue Forum on Decent Work in the World of Sport und sportbezogene Interessenorganisationen (World Players Association, EU Athletes) dem Thema verstärkte Aufmerksamkeit verleihen. Zugleich entfalten internationale Standards wie die 2011 vom VN-Menschenrechtsrat verabschiedeten VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte Wirkung, da aus ihnen auch eine menschenrechtliche Verantwortung im (deutschen) Sport abgeleitet werden kann.

Missbrauchsskandale und Safe Sport

Angesichts des staatlich organisierten systematischen Dopings von Hochleistungssportlern in der DDR stand bei der Aufarbeitung der DDR-Sportgeschichte lange Jahre vor allem die Debatte über Dopingopfer im Blickfeld. Im Zuge der 2002 und 2016 verabschiedeten Dopingopfer-Hilfegesetze wurde ein staatlicher Fonds eingerichtet, der anspruchsberechtigten Leistungssportlerinnen und -sportlern finanzielle Unterstützung gewährte. Mit Blick auf die erheblichen Folgewirkungen, zum Teil sogar mit Auswirkungen auf die eigenen Kinder, blieb aber sowohl die Höhe der Zahlungen als auch die grundsätzliche Interpretation der Dopinggeschichte im DDR-Sport stets umstritten.

Erst im Verlauf der 2010er-Jahre wurde das Problem interpersonaler Gewalt im Sport zum Gegenstand öffentlicher Debatten. Dieses umfasst alle Formen physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt, die sich nicht nur im Spitzen- und Hochleistungssport, sondern auch im Breitensport findet. Das Ausmaß an Gewalt ist beträchtlich, die Dunkelziffer hoch: Einer deutschen Studie zufolge waren von 1800 Leistungssportlerinnen und -sportlern mehr als ein Drittel betroffen.

Welches Ausmaß der Missbrauch im Sport haben kann, dokumentiert der sexuelle Missbrauch bei USA Gymnastics, dem nationalen Dachverband für Turnen der Vereinigten Staaten. Bekannt wurden mehrere hundert Fälle, in denen Athletinnen und Athleten von Trainern, Mannschaftsbetreuerinnen und Verantwortlichen von Sportstätten missbraucht wurden.

Die spezifischen Rahmenbedingungen des Leistungssports haben den Missbrauch und psychische, körperliche oder sexualisierte Gewalt im Sport begünstigt: so etwa die große persönliche Nähe zwischen Athletinnen, Athleten und Trainingspersonal; das Machtgefälle zwischen Aktiven vor allem im Kinder- und Jugendalter sowie erwachsenem Trainings-, Betreuungs- und Medizinpersonal; die oftmals längere Abwesenheit von zu Hause und der Aufenthalt in Trainingslagern, aber auch Sonderbehandlungen und reale oder vermeintliche Vertrauens- und Liebesbeziehungen (Grooming). Im Zuge einer sukzessiven Aufarbeitung des Problemfeldes hat sich der organisierte Sport verpflichtet, in einem „Stufenmodell“ Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt umzusetzen. Zugleich haben die Sportverbände aber auch begonnen, frühere Missbrauchsfälle systematisch durch eigens zu diesem Zweck gebildeten externen Kommissionen aufzuarbeiten.

Anknüpfend an eine Vereinbarung im Koalitionsvertrag der Regierung von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, wurde vom Bundesinnenministerium und den Ländern gemeinsam mit dem Verein „Athleten Deutschland“, der zuvor schon eine eigene Anlaufstelle etabliert hatte, der Verein „Safe Sport e.V.“ gegründet. Dieser eröffnete als Trägerverein im Juli 2023 eine unabhängige Ansprechstelle für Gewalt im Sport. Als langfristiges Ziel wird hier ein „Zentrum für Safe Sport“ in den Blick genommen, das auch Maßnahmen zur Prävention und Aufarbeitung koordinieren soll.

QuellentextSexualisierte Gewalt im Sport

[…] Es war mitten im Studium, als Ann-Christin Anders [Name geändert – Anm. d. Red.] von ihrem vermeintlich heilen Leben in ein früheres Leben zurückkatapultiert wurde: in ihre Kindheit, in der sie im Alter von neun bis 14 Jahren massiv sexuell missbraucht worden war.

„Ich saß in einer Prüfung und habe plötzlich als Einser-Kandidatin nichts mehr gewusst“, erzählt sie. Wie aus dem Nichts war der Kopf leer, und ihr war klar, dass das ein Signal war: für etwas, von dem sie zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte, wie schrecklich die Aufarbeitung sein würde.

Sie nahm das Signal ernst, und auf dem Weg, auf den sie sich damit begab, kam der schlimmste, verdrängte Teil ihres Lebens zurück in ihr Bewusstsein. Die Jahre, in denen ihr Sporttrainer sie als Kind regelmäßig brutal vergewaltigt und gewürgt hatte, getarnt als „Sondertraining“, in einer freien Umkleide des Vereins, bei dem sie mit vielen anderen Mädchen erfolgreich Handball trainierte. Was „Sondertraining“ wirklich bedeutete, durfte sie niemandem anvertrauen, „sonst bringe ich dich um“, hatte er gedroht. Und dass er es ernst meinte, hatte er ihr oft genug gezeigt.

Ann-Christin Anders ist eine starke Frau, das ist im Gespräch mit ihr gleich zu spüren. Das Signal, welches ihr Körper oder ihre Psyche ihr während ihres Studiums völlig unvermittelt sendeten, war der Auftakt für die Aufarbeitung des Missbrauchs. […] Dem folgte ein jahrelanger Aufarbeitungsprozess, von dem „die ersten zehn Jahre unglaublich hart waren“, wie sie in einem Videogespräch erzählt: „Ich habe am Anfang Gott sei Dank nicht gewusst, wie lange es dauert.“ […]

Weil [Ann-Christin Anders] will, dass das System Sport endlich sicherer wird, hat sie das „massive Schweigegebot“ des Täters noch einmal gebrochen, um ihre Geschichte der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindermissbrauchs zu erzählen.

Die Kommission veröffentlicht an diesem Dienstag [27.09.2022, Anm. d. Red.] einen Bericht, den sie aufgrund der Schilderungen von 72 Betroffenen und Zeitzeugen erstellt hat. […] Der Bericht, an dem unter anderen die Sportsoziologin Bettina Rulofs beteiligt war, wirft ein klares Licht auf die systemischen Missstände, die Missbrauch im Sport nach wie vor begünstigen – ob es der leichte Zugang der Täter zu ihren Opfern oder die „romantisierende Erzählung vom gesunden, fairen und schönen Sport“ ist. Er zeigt die vielen blinden Flecken auf, die es gibt: fehlende vertrauenswürdige Ansprechstellen für Betroffene; fehlendes Bewusstsein innerhalb der Vereine; fehlender Wille in Sport, Politik und Gesellschaft, das Problem umfassend einzuräumen und anzupacken. […]

Laut dem Bericht sind bisher kaum Gewalt- und Missbrauchserfahrungen „in den Sportorganisationen aufgedeckt und aufgearbeitet“ worden – weil sich betroffene Personen kaum jemandem anvertraut haben. Sei es, weil sie eingeschüchtert oder bedroht wurden, weil sie sich den Tätern verpflichtet oder angesichts sportlicher Erfolge dankbar gefühlt haben oder abhängig von ihnen waren. Was vor allem der Fall war, wenn Kinder oder Jugendliche in schwierigen Familienverhältnissen aufwuchsen. […]

Die meisten Betroffenen erlebten sexualisierte Gewalt regelmäßig, meist im organisierten Sport. Die Disziplinen variieren, die meistgenannten waren Fußball und Turnen. Viele schämen sich oder denken sogar, sie seien selbst am eigenen Missbrauch schuld. Zudem möchten sie ihrem Verein, der bisweilen wie eine Familie ist, nicht schaden: „Sie betrachten das eigene Leid oftmals als das geringere Übel“, heißt es in der Studie. Gerade in kleinen Vereinen oder bei Nischensportarten kennen sich die Menschen häufig gut, teils sind Familienmitglieder involviert. Dadurch gibt es kaum unabhängige Vertrauenspersonen, und Vorwürfe werden zurückgewiesen: „Die vielfach abwehrende Haltung der Vereine führte zu erheblichen psychischen Belastungen und bedeutete oft eine Retraumatisierung“, schreibt die Aufarbeitungskommission. „Die Erfahrung, dass Vereine einen Reputationsschaden möglichst von sich abwenden wollen“, teilten nahezu alle Betroffenen.

Paradoxerweise müssen Opfer und diejenigen, die aufklären wollen, Vereine häufig verlassen – weil „sich diejenigen durchsetzen, die kein Interesse an Aufarbeitung haben“. Täter strahlen häufig Autorität aus und sind, beispielsweise als Trainer, anerkannt. Und wenn doch einmal einer aus einem Verein austritt, wird oft woanders weitergemacht, „in anderen Vereinen, Städten oder Ländern“. Häufig fehle ein wirkliches Bewusstsein für die Problematik: „Es ist, als ob das Offensichtliche, das zum Teil vor den Augen aller geschah, für die meisten ,unsichtbar' gewesen sei.“ Für die Kommission ist besonders deutlich geworden, „wie erschütternd nicht nur die einzelnen Erfahrungen sexualisierter Gewalt der Betroffenen sind, sondern auch die immer wieder beschriebenen systematischen Verdeckungsprozesse in den Strukturen des Sports“. […]

Betroffene können hier Hilfe finden: Infotelefon Aufarbeitung sexueller Kindesmissbrauch, 0800-4030040 (kostenfrei und anonym), www.aufarbeitungskommission.de; Hilfe-Telefon sexueller Missbrauch, 0800-2255530 (kostenfrei und anonym), Externer Link: www.hilfe-portal-missbrauch.de […]

Nina Bovensiepen/Anna Dreher/Elena Kuch/Hendrik Maassen, „Das Grauen hinter der Kabinentür“, in: Süddeutsche Zeitung vom 27. September 2022

Equal Pay

Zu den langfristigen sportpolitischen Entwicklungen der letzten Dekaden zählt die zunehmende Gleichstellung von Frauen und Männern im nationalen und internationalen Sport, die jedoch weiterhin auch Gegenstand von Kontroversen ist. Während Frauen in den Gremien von Sportorganisationen weiterhin deutlich unterrepräsentiert sind, finden infolge reger Lobbyarbeit, der Aktivitäten sozialer Bewegungen und medialen Drucks zunehmend mehr auf Frauen ausgerichtete Wettbewerbe statt.

Für Aufsehen sorgten die dänischen Fußballerinnen, die als amtierende Vize-Europameisterinnen im September 2017 nicht zum geplanten Freundschaftsspiel gegen die Mannschaft aus den Niederlanden antraten. Die Däninnen kritisierten, dass sie umgerechnet nur rund 340 Euro für ein Qualifikationsspiel erhielten und forderten eine angemessene finanzielle Vergütung. Der dänische Verband bot in der Folge zwar eine deutliche Erhöhung der Zuwendungen an, die jedoch von den Spielerinnen nicht akzeptiert wurde. Die Ablehnung erfolgte auch unter dem Eindruck, dass die norwegischen Nationalspielerinnen kurz zuvor die Zusage erhalten hatten, künftig die gleichen Summen wie die männlichen Spieler zu bekommen. Angesichts des schwelenden Konfliktes bestreikten die dänischen Spielerinnen auch ihr nächstes Spiel im Oktober 2017, bei dem es sich um ein wichtiges Qualifikationsspiel gegen den Erzrivalen Schweden handelte. Erst im Nachgang wurde eine Einigung mit dem Verband erzielt. Frauenfußballerinnen aus Australien, Spanien und Kanada folgten dem dänischen Vorstoß in den nachfolgenden Jahren mit Protestaktionen gegen unterschiedliche Bezahlungen von Männern und Frauen im Fußball.

Die Frage nach der Gleichstellung von Frauen und Männern bei Gehältern, Aufwandsentschädigungen, Boni und vertraglichen Ausgestaltungen im Sport hatte zuvor auch schon die USA beschäftigt. Die US-Fußballerinnen monierten im Jahr 2016 als amtierende Weltmeisterinnen bei der zuständigen Bundesbehörde unter anderem, dass die Männer erste Klasse, sie selbst jedoch lediglich Economy-Klasse zu Länderspielen fliegen. Erst nach jahrelangen Auseinandersetzungen wurde hier im Mai 2022 eine Vereinbarung zwischen den Gewerkschaften der Frauen- und Männer-Nationalmannschaften sowie dem nationalen Fußballverband erzielt, die den US-Nationalspielerinnen Zuwendungen auf Augenhöhe garantierte. Mit Verweis auf die unterschiedlichen finanziellen Umsätze von Männer- und Frauenfußball sind entsprechende Debatten in Deutschland bislang nicht gleichermaßen konfrontativ ausgetragen worden. Auch dann nicht, als Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem Besuch des neuen DFB-Campus im Jahr 2022 die Equal Pay-Forderung erhob.

Athletenkommissionen, Athletenvertretungen und Spielergewerkschaften

Die Idee zur Einrichtung von Athletenvertretungen entstand aus dem Bedürfnis, die Stimme der Athletinnen und Athleten in sportpolitischen Angelegenheiten zu stärken. Die Mitglieder der zu Beginn der 1980er-Jahre gegründeten Athletenkommission des IOC wurden bis 1993 vom IOC-Präsidenten ernannt, erst dann entschieden Sportlerinnen und Sportler selbst über die Bestellung der Kommission. Seit der Jahrhundertwende werden Mitglieder der Athletenkommission auch in das IOC aufgenommen, der Sprecher oder die Sprecherin erhält einen Platz im IOC-Exekutivkomitee.

Einhergehend mit der zunehmenden Professionalisierung und Internationalisierung des Sports richteten auch andere Sportfachverbände Athletenkommissionen ein. Da Athletenkommissionen in die Strukturen der Sportverbände eingebettet sind, wurde ihnen oftmals vorgehalten, nicht vollständig unabhängig zu agieren und nicht genügend Einfluss zu besitzen. Von den Athletenkommissionen wurde dies auch selbst im Zuge der Debatte um die Verschiebung der Olympischen Spiele in Tokio bestätigt. Zudem wurde bisweilen Kritik an der mangelnden Repräsentativität der Athletenkommissionen im Hinblick auf die Gesamtheit der professionellen Sportlerinnen und Sportler geäußert oder ihre Zusammensetzung in Frage gestellt.

Während im US-Sport Gewerkschaften eine bedeutende Rolle spielen, ist dies in Europa nicht in gleichem Maße der Fall. In den Vereinigten Staaten gibt es mehrere Gewerkschaften, die eigens für den US-Profisport gegründet wurden. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben ist es, Tarifverhandlungen mit den Liga- oder Verbandsbesitzern zu führen, um kollektive Arbeitsverträge auszuhandeln, die immer wieder auch zu Arbeitskämpfen führten: In den hochprofessionellen und -kommerziellen Major Leagues hatten Spielerstreiks und Aussperrungen durch die Teambesitzer wie 1994/95 im Baseball (MLB) oder 2004/05 im Eishockey (NHL) zur Absage ganzer Spielzeiten geführt.

In Europa variiert der Einfluss der Gewerkschaften von Land zu Land und von Sportart zu Sportart, grundsätzlich spielen sie aber eher eine untergeordnete Rolle, vor allem für Athletinnen und Athleten in den olympischen Sportarten, in denen es in der Regel keine Tarifverträge für Sportlerinnen und Sportler gibt. In Deutschland wurden eigene Interessenvertretungen von Athletinnen und Athleten oder Spielenden nur zögerlich oder wie im Fall der Vereinigung der Vertragsfußballspieler (VDV) zunächst eher als Berufsverbände etabliert. Versuche der traditionellen Gewerkschaften, im Feld Fuß zu fassen, waren wenig erfolgreich.

Große Resonanz erzielte die im Oktober 2017 von 45 Aktiven im Zuge einer Athletenvollversammlung in Köln in die Wege geleitete Gründung von „Athleten Deutschland“. Mit diesem vom Deutschen Olympischen Sportbund unabhängigen Verein verfolgen die Athletinnen und Athleten das Ziel, ihre Interessen in Bereichen wie Vergütung, Trainingsbedingungen oder Absicherung nach der Sportkarriere wirksamer zu vertreten. Deutschland folgte damit der Entwicklung in anderen europäischen Ländern wie Dänemark, Frankreich, Kroatien oder Großbritannien, in denen es ebenfalls unabhängige Athletenvereinigungen gibt. Besonders umstritten war im deutschen Fall die Finanzierung einer eigenen Geschäftsstelle, die erst nach kontroversen Debatten vom Deutschen Bundestag übernommen wurde. Obgleich die neue Athletenvereinigung sich nicht als Gewerkschaft versteht, zeichnen sich weitere Kontroversen ab, so geschehen, als der Verein forderte, 25 Prozent aller IOC-Einnahmen in einem olympischen Zyklus direkt an die teilnehmenden Sportler auszuschütten.

Mit der Forderung nach grundsätzlicher Mitbestimmung durch die unabhängigen Athletenvereinigungen zeichnet sich auch hier ein weiteres sportpolitisches Konfliktfeld ab. Dabei stellt sich vor allem die Frage, ob der Sport allgemeinen sozialpolitischen Überlegungen folgt und Athletinnen sowie Athleten künftig eher als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Mitbestimmungsrechten zu betrachten sind oder ob bestimmte Besonderheiten des Sports weiterhin bestehen bleiben, die – wie etwa im Fall der Sport-Schiedsgerichte – auch eine Spezifizität des Sports oder einen eigenen rechtlichen Rahmen bedingen. Damit verbunden sind wiederum grundsätzlichere Fragen zur Repräsentation und Demokratie im Sport.

Geschlechtliche Vielfalt als Herausforderung

Der Leistungssport basiert traditionell auf einem binären Geschlechtersystem mit einer Einteilung in Männer- und Frauenkategorien. Die sich in der Gesellschaft zunehmend abzeichnende Vielfalt stellt den Sport vor neue, wichtige Herausforderungen.

Exemplarisch für die beträchtliche Komplexität ist der Fall der 800-Meter-Läuferin Caster Semenya. Die südafrikanische Mittelstreckenläuferin wurde nicht nur als dreifache Weltmeisterin und Doppelolympiasiegerin bekannt, sondern auch, weil sie intergeschlechtliche Merkmale besitzt. Bei der Geburt wurde sie als weiblich eingestuft. Caster Semenya weist aber natürlich erhöhte Testosteronwerte auf, die jene Schwelle überschreiten, die vom internationalen Leichtathletikverband (heute: World Athletics) vorgesehen ist, um in der weiblichen Kategorie starten zu dürfen.

Im Jahr 2019 bestätigte der Internationale Sportgerichtshof (Court of Arbitration for Sport, CAS) die Aufforderung von World Athletics gegenüber Semenya, ihren Testosteronspiegel durch Medikamente zu senken, um weiterhin an den bisherigen Wettbewerben der Frauen teilnehmen zu können. Dem verweigerte sich Semenya.

Im Juli 2023 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg der Klage von Caster Semenya gegen den CAS stattgegeben und ihren Ausschluss von Wettbewerben als Diskriminierung verurteilt. Damit werden neue Fragen über Geschlechteridentität im Sport aufgeworfen und Debatten über die Kontoverse ausgelöst, in welchem Verhältnis Fairness und Gleichstellung im Wettkampf zu ethischen und menschenrechtlichen Argumenten stehen.

QuellentextTransgeschlechtlichkeit im Sport

Die Zwölftklässlerinnen Andraya Yearwood und Terry Miller sind schnell. So schnell, dass andere Schülerinnen es unfair finden. Sogar schnell genug, dass diese Schülerinnen und ihre Familien deshalb vor Gericht ziehen.

Die Läuferinnen Yearwood und Miller sind junge transgender Frauen aus Connecticut. Beide galten bei der Geburt als männlich, identifizieren sich aber mit dem weiblichen Geschlecht und unterziehen sich laut ihren Anwälten einer Hormontherapie. Als sie mit der Leichtathletik begannen, traten sie noch gegen Jungen an. Vor drei Jahren schloss sich Yearwood dem Mädchenteam ihrer Schule an, Miller tat es ihr gleich.

Zusammen haben Yearwood und Miller fünfzehn der prestigeträchtigen Landestitel bei Indoor- und Outdoor-Events geholt. Sie gehören zu den wenigen transgender Athletinnen, die durch ihre Erfolge öffentlich bekannt wurden. Damit einher gingen Missgunst und Kontroversen, ebenso eine grundlegende Frage: Wie geht man im Sport, wo trennscharf zwischen zwei Geschlechtern unterschieden wird, mit Transidentität und Intersexualität um? Muss er sich zwischen Inklusion und Fairness entscheiden? Es ist die Zukunftsfrage des Sports, doch von einer klaren Antwort ist man derzeit sehr weit entfernt, auch in Deutschland. […]

Grundsätzlich ist die Trennung von Mann und Frau in den meisten Sportarten sinnvoll, gerade im Leistungssport. Gute Läufer sind in der Regel zehn bis zwölf Prozent schneller als gute Läuferinnen. Elaine Thompson, Olympiasiegerin 2016, lief im Finale 100 Meter in 10,71 Sekunden. Bei den Männern wäre sie damit in fünf von acht Vorläufen Letzte geworden.

„Der Kern der Sache ist: Wie können wir den Frauensport schützen und gleichzeitig die Rechte eines marginalisierten Teils der Menschheit wahren?“, sagt Joanna Harper in einem Skype-Telefonat. Sie promoviert an der Loughborough University, das Internationale Olympische Komitee (IOC) setzt auf die Expertise der Wissenschaftlerin, Sportlerin und transgender Frau.

2004, damals 47 Jahre alt, begann Harper mit einer Hormontherapie, um ihr Geschlecht anzugleichen. „Es gab einen spürbaren Leistungsrückgang. In wenigen Wochen habe ich festgestellt, dass ich langsamer werde, nach drei Monaten bin ich sogar deutlich langsamer gelaufen“, sagt sie. Nach neun Monaten war sie immer noch eine gute Läuferin, aber rund zwölf Prozent langsamer als mit einem für Männer typischen Testosteronspiegel.

2015 veröffentlichte Harper die erste Studie, die den Effekt von Hormontherapien auf die sportliche Leistungsfähigkeit von transgender Athletinnen untersuchte. Die Ergebnisse stimmten mit Harpers persönlichen Erfahrungen überein: Die Läuferinnen wurden langsamer und waren in Rennen gegen Frauen nicht erfolgreicher, als sie es gegen Männer gewesen waren.

Einige Wissenschaftler gehen jedoch davon aus, dass transgender Frauen Vorteile haben, die auch nach der Senkung des Testosteronspiegels bestehen bleiben. Besonders dann, wenn mit der Hormontherapie erst nach der Pubertät angefangen wurde. Laut Alison Heather, Physiologin an der University of Otago in Neuseeland, haben transgender Sportlerinnen ein größeres Herz, mehr Lungenvolumen und eine Knochenstruktur, von der sie im Sport profitieren.

Doch transgender Frauen können auch Nachteile haben, etwa „diese größeren Körper, die jetzt durch eine wesentlich geringere aerobe Kapazität und eine reduzierte Muskulatur angetrieben werden“, entgegnet Harper. Der größte Nachteil von transgender Frauen im Sport habe ohnehin nichts mit körperlichen Merkmalen zu tun. „Transgender Personen sind in der Gesellschaft nicht sehr willkommen, insbesondere im Sport. Sie leiden häufiger an Depressionen, die Rate der Suizidversuche unter transgender Personen liegt bei rund 40 Prozent.“

Wenn also nicht alle Menschen in das aktuelle Sportsystem passen, muss dann ein neues her? […]

Sportverbände kommen jedenfalls nicht um eine Auseinandersetzung mit dieser große Zukunftsfrage herum. […] Fast alle [deutschen] Verbände haben noch keine expliziten Regeln, sondern treffen Einzelfallentscheidungen. „In Deutschland ist das noch eine Nische.“

Zu den wenigen Ausnahmen gehört der Berliner Fußball-Verband. In der Hauptstadt dürfen sich Menschen mit dem Personenstandseintrag „divers“ aussuchen, bei welchem Geschlecht sie spielberechtigt sind. Zudem können transgender Personen während einer Geschlechtsangleichung uneingeschränkt am Spielbetrieb des Geschlechts teilnehmen, an das der Körper angeglichen wird. […]

Lukas Brems, „Sie sind im Sport nicht willkommen“, in: ZEIT ONLINE vom 9. Juli 2020. Online: Externer Link: https://www.zeit.de/sport/2020-07/geschlechtertrennung-sport-aufhebung-fairer-wettbewerb-rechtsstreit-connecticut/komplettansicht