Mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) verbinden sich große Hoffnungen. Die KSZE-Schlußakte von Helsinki — die umfassend, verbindlich, konkret und auf ganz Europa anwendbar ist — formuliert ein gemeinsames Entspannungsverständnis von 35 KSZE-Staaten und schafft eine Berufungsgrundlage für eine friedliche Transformation überkommener europäischer Verhältnisse. Der KSZE-Prozeß gibt einer gesamteuropäischen Entwicklung eine gute Perspektive, das heißt, alle Bestrebungen. die sich auf eine schrittweise Überwindung der Teilung Europas richten. können sich auf die KSZE-Schlußakte berufen. Der Überblick über die Bilanz und die Perspektiven des KSZE-Prozesses versucht, u. a. folgende Fragen zu beantworten: Welche Stationen nahm der KSZE-Prozeß? Wo liegen die Probleme und wo die Perspektiven? Wie ist der gegenwärtige Stand der Wiener KSZE-Beratungen zu bewerten? Welche Rolle spielen die beiden deutschen Staaten? ünd nicht zuletzt: Welche Erfahrungen und Erkenntnisse vermittelt der KSZE-Prozeß von 1972 bis 1988?
I. Einführung
Für die Bemühungen, die Ost-West-Beziehungen erheblich zu verbessern mit der Perspektive einer europäischen Friedensordnung oder, wie zunehmend gesagt wird, eines gemeinsamen Hauses Europa. gibt es ein wichtiges Ost-West-Dokument: die Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) vom August 1975. Da wir uns nach übereinstimmender Auffassung von Vertretern aus Ost wie West in einer Phase befinden, in der die Ost-West-Beziehungen neuen Schwung erhalten, lohnt es sich, sich der Erfahrungen und Erkenntnisse zu vergewissern, die der KSZE-Prozeß, an dem alle europäischen Staaten mit Ausnahme Albaniens teilnehmen, hervorgebracht hat 1).
Welche Fortschritte hat die KSZE-Schlußakte von Helsinki ermöglicht? Welche Stationen nahm der KSZE-Prozeß? Wo liegen die Probleme und wo die Perspektiven? Wie ist der gegenwärtige Stand der Wiener KSZE-Beratungen zu bewerten? Welche Perspektiven ergeben sich für die umfassende Entwicklung der politischen, ökonomisch-ökologischen. militärischen wie humanitären Komponente des KSZE-Prozesses als des organisierten Ausdrucks der Ost-West-Beziehungen?
Als am 1. August 1975 in Helsinki 35 Regierungschefs und Staatsoberhäupter die Schlußakte der KSZE unterzeichneten, haben sie damit die wichtigste Bezugsgrundlage für die Entwicklung der Ost-West-Beziehungen geschaffen und damit einen Prozeß in Gang gesetzt, der die konfrontativen Ost-West-Beziehungen zunehmend kooperativ gestaltet. Kernstück des KSZE-Prozesses ist seine Schlußakte.
II. Die KSZE-Schlußakte
Die KSZE-Schlußakte ist umfassend, konkret, politisch verbindlich und auf ganz Europa anwendbar. Die Schlußakte ist umfassend, denn sie deckt alle Bereiche der Ost-West-Beziehungen ab. das heißt, sie enthält eine politische, eine ökonomisch-ökologische und eine humanitäre Komponente, verteilt auf die drei „Körbe“. (Die militärische Komponente wird allerdings vernachlässigt, sieht man einmal von den vertrauensbildenden Maßnahmen ab.)
Die Schlußakte von Helsinki ist konkret, das heißt, die Staaten haben sich auf etwa 600 Empfehlungen zur ökonomisch-ökologischen, wissenschaftlich-technischen wie humanitären Zusammenarbeit verständigt.
Die Schlußakte ist in der Form einer politischen Erklärung von den 35 Staats-bzw. Regierungschefs (bzw. Parteiführer) unterschrieben worden und hat damit den höchsten politischen Verbindlichkeitsgrad. den ein solches Dokument überhaupt haben kann. Sie ist jedoch kein völkerrechtlicher Vertrag. Die Schlußakte von Helsinki ist schließlich aufganz Europa anwendbar. Das heißt, sie gilt für alle Staaten. unabhängig von ihrer jeweiligen Gesellschaftsordnung. Die Teilnehmerstaaten haben in der Präambel erklärt, daß die Ergebnisse der Konferenz volle Wirksamkeit entfalten sollen zwischen „ihren Staaten und in ganz Europa“. Die Teilnehmerstaaten erklären ihre Entschlossenheit, daß die Prinzipien wie souveräne Gleichheit, Enthaltung von der Androhung oder Anwendung von Gewalt. Unverletzlichkeit der Grenzen, friedliche Regelung von Streitfällen, territoriale Integrität der Staaten, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, aber auch Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten nicht nur von grundlegender Bedeutung sind und ihre gegenseitigen Beziehungen leiten sollen, sondern daß sie „ein jeder in seinen Beziehungen zu allen anderen Teilnehmerstaaten, ungeachtet ihrer politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Systeme als auch ihrer Größe, geographischen Lage oder ihres wirtschaftlichen Entwicklungsstandes zu achten und in die Praxis umzusetzen“ habe. Das heißt, nach dem erklärten Willen aller 35 Teilnehmerstaaten gilt die Schlußakte von Helsinki als Basis des KSZE-Prozesses für ganz Europa und für die staatlichen Beziehungen zwischen den europäischen Staaten.
Allerdings wird die Schlußakte bei uns nicht immer richtig verstanden bzw. nicht richtig gelesen — etwa dann, wenn unter Bezugnahme aufdie Schlußakte der freie Austausch von Menschen und Meinungen gefordert wird. Die Teilnehmerstaaten haben sich lediglich darauf verständigt (was schon sehr viel ist), die „freiere und umfassendere Verbreitung von Informationen aller Art zu erleichtern“, das heißt, sie haben den Komparativ gewählt. Damit kommt auch zum Ausdruck, daß die Schlußakte nicht von heute auf morgen alles ganz anders werden lassen, sondern prozeßhaft, Schritt für Schritt, die Lage verbessern wollte.
Der KSZE-Prozeß ist auch keine Block-zu-Block-Veranstaltung, also keine Ost-West-Konferenz in dem Sinne, daß Ost-Staaten West-Staaten gegenüberstehen. Zum einen sind die 35 KSZE-Staaten unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu den jeweiligen Wirtschafts-und Militär-Bündnissen beteiligt, und zum anderen gibt es Interessenkoalitionen, die sich den Ost-West-Zuordnungen entziehen. So hatte z. B. Ungarn zusammen mit Kanada einen Konferenzvorschlag zum Schutz nationaler Minderheiten eingebracht, der sich gegen ein Bündnismitglied Ungarns, nämlich gegen Rumänien, richtete.
Der KSZE-Prozeß kennt keine Appellationsinstanz, das heißt, Verletzungen der Schlußakte sind nicht einklagbar. Obgleich es an einer solchen Instanz fehlt, werden die Überprüfungstreffen der KSZE von den Staaten häufig als ein Forum begriffen. das zur Anklage von Verletzungen genutzt wird, während die angegriffenen Staaten das Forum benutzen, um sich zu verteidigen bzw. zu rechtfertigen. Der KSZE-Prozeß unterscheidet sich jedoch von einem Gerichtsverfahren, und zwar in zwei entscheidenden Punkten: Es gibt keinen Richter, der einen verbindlichen Spruch in einer konkreten Situation ausspräche, und es gibt keinen analog des innerstaatlichen Rechts funktionierenden Durchsetzungs-bzw. Vollstreckungsmechanismus. Dennoch verhalten sich die meisten Staaten — insbesondere vor den anstehenden Überprüfungskonferenzen — so. daß sie ihrer in der KSZE-Schlußakte dokumentierten Absicht gerecht werden, sich um eine Verbesserung ihres Verhaltens zu bemühen.
III. Die entspannungspolitische Bedeutung der KSZE-Schlußakte
Die Ost-West-Beziehungen traten in ein neues Stadium, als am 1. August 1975 von 35 Staaten die Schlußakte von Helsinki unterzeichnet wurde. Diese Schlußakte, die auch die „Magna Charta“ europäischer Entspannung genannt wird, war und ist der zentrale Bezugsrahmen für die politische, ökonomische und humanitär-kommunikative Entspannung in Europa. Sie ist zu einem anerkannten Maßstab geworden, an dem das Handeln der Unterzeichnerstaaten (darunter die beiden deutschen Staaten) gemessen wird.
War der Entspannungsbegriff im gesamteuropäischen Rahmen bis 1975 eher diffus und mehr Ausdruck willkürlicher — östlicher wie westlicher — Wünsche, so hat er durch den KSZE-Prozeß und durch die Schlußakte von Helsinki etwas konkretere Formen und einen bestimmteren Inhalt bekommen. Zum ersten Mal wurde ein Mindeststandard dessen formuliert, was Entspannung im Ost-West-Verhältnis bedeuten soll. Nach den sogenannten „Körben“ geordnet, kann von politischer Entspannung (friedliche Regelung von Streitigkeiten. Gewaltverzicht u. ä.) — Korb 1 — gesprochen werden wie von wirtschaftlicher Entspannung (Transparenz von Wirtschaftsabläufen, Intensivierung der Zusam-B menarbeit u. ä.) — Korb — sowie von humanitär-ideologischer Entspannung (Abbau von Barrieren bei der grenzüberschreitenden Information und Kommunikation, Reiseerleichterungen u. ä.) — Korb 3. Die sogenannte militärische Entspannung (Rüstungskontrolle und Abrüstung) ist zwar im Helsinki-Dokument angesprochen — etwa im Abschnitt über vertrauensbildende Maßnahmen —, wird jedoch im wesentlichen außerhalb des KSZE-Rahmens bilateral zwischen den USA und der UdSSR, regional im Rahmen der Wiener Truppenreduzierungsgespräche (MBFR) und weltweit im Rahmen der UNO (Genfer Abrüstungskonferenz) verhandelt.
Der KSZE-Prozeß verlangt von den beteiligten Staaten alle Anstrengungen, „zur Entwicklung besserer und engerer Beziehungen untereinander auf allen Gebieten und damit zur Überwindung der aus dem Charakter ihrer früheren Beziehungen herrührenden Konfrontation sowie zu besserem gegenseitigen Verständnis“ zu kommen.
Es gibt eine weitverbreitete These, wonach eine Intensivierung internationaler wie transnationaler Wechselbeziehungen, das heißt, ein wachsender Austausch von Ideen und Gütern über die Grenzen hinweg, geeignet sei. die internationale Sicherheit durch Vertrauenszuwachs und Kooperationsintensität zu festigen. Eine solche These kann sich auf die Schlußakte der KSZE stützen, denn diese legt einen breiten Entspannungs-und Sicherheitsbegriff zugrunde.der nicht nur den militärischen Faktor umfaßt. sondern ökonomische, politische und humanitäre Aspekte umgreift. Diesen breiten Entspannungs-und Sicherheitsbegriff brachte Helsinki zum Ausdruck: Sicherheit bedeutet nicht, einen Zaun zu bauen, sondern eine Tür zu öffnen 2). Als „Türöffner“ eignet sich der KSZE-Prozeß. „Souveränität“ und „innere Angelegenheiten“ — zwei wichtige Prinzipien — sind zwar durch die Entspannung und durch die Schlußakte von Helsinki nicht obsolet geworden, haben jedoch unter den Bedingungen der politischen Interdependenz eine andere Qualität erhalten
IV. Konferenzfolgen als Herzstück des KSZE-Prozesses
Keiner der Beteiligten ist 1975 davon ausgegangen, daß die Verabredungen und Empfehlungen der KSZE-Schlußakte von einem Tage zum anderen Praxis werden würden. Es sollte vielmehr darum gehen, Schritt für Schritt zu Verbesserungen zu kommen. Der Prozeßcharakter manifestiert sich auch in einer relativ dichten Konferenzfolge, wie dies aus dem Schaubild (S. 30) hervorgeht. Ausgangspunkt ist die Festlegung in der Schlußakte selbst, und zwar im Abschnitt „Folgen der Konferenz“. Im Rahmen von Überprüfungskonferenzen soll der „eingeleitete multilaterale Prozeß“ geprüft werden, das heißt, die KSZE-Teilnehmer haben sich verpflichtet, sowohl „über die Durchführung der Bestimmungen der Schlußakte und die Ausführung der von der Konferenz definierten Aufgaben als auch im Zusammenhang mit den von ihr behandelten Fragen, über die Vertiefung ihrer gegenseitigen Beziehungen, die Verbesserung der Sicherheit und die Entwicklung der Zusammenarbeit in Europa und die Entwicklung des Entspannungsprozesses in der Zukunft“ einen „vertieften Meinungsaustausch“ vorzunehmen. Ferner wurde zur multilateralen Stärkung und Verstetigung des KSZE-Prozesses die Einrichtung von soge-nannten Expertentreffen geschaffen (wie beispielsweise vom Wissenschafts-Forum in Hamburg über Expertentreffen zur Streitschlichtung bis zum Berner Expertentreffen über menschliche Kontakte).
Die beiden ersten Folgetreffen (Belgrad vom Oktober 1977 bis 9. März 1978) und Madrid (vom 11. November 1980 bis 9. September 1983) verliefen recht unterschiedlich. In Belgrad 4) dominierte das Menschenrechtsthema die Debatte; dies führte dazu, daß die USA aus dem Folgetreffen ein Tribunal über die Situation der Menschenrechte in Osteuropa, insbesondere in der UdSSR, machten. In einer Konfrontationssituation schafften es die 35 KSZE-Staaten lediglich, ein Datum für das nächste Überprüfungstreffen zu formulieren. Dieser bescheidene Ertrag war absolut notwendig, denn ohne Festsetzung eines Datums für die nächste Folgekonferenz wäre der KSZE-Prozeß 1978 zu Ende gewesen. Obgleich die internationalen Rahmenbedingungen auch für die Madrider Folgekonferenz nicht optimal waren (Polen-Krise und konfrontative Reaktion des Warschauer Pakts auf den NATO-Doppelbeschluß), gelang es. sich auf ein weiterführendes Mandat für die Stockholmer KVAE zu verstän-digen wie auch über die dritte Überprüfungskonferenz in Wien, die am 4. November 1986 begann.
Obgleich es nicht gelang, sich bei den Expertentreffen über Menschenrechte in Ottawa (April bis Juni 1985) über menschliche Kontakte in Bem (April bis Mai 1986) wie auch beim Kulturforum in Bu-dapest von Oktober bis November 1985 auf ein Schlußdokument zu verständigen, so wurden hier doch Vorschläge in den einzelnen Bereichen gemacht. an die jederzeit angeknüpft werden kann. Bemerkenswert war die Konferenz in Bern: Auf der Grundlage eines vermittelnden Vorschlages der Neutralen gelang es. die Auswanderungsrechte zu präzisieren, darunter auch die von Minderheiten. Da sich die USA weigerten, dem Text zuzustimmen (vermutlich wegen nicht hundertprozentiger Garantien für die Ausreise von Juden aus der UdSSR). kam es nicht zu einem einvernehmlichen Schlußdokument. Dies hat zu erheblichen Verstimmungen innerhalb des Westens geführt. Es wurde deutlich, daß nicht immer der Ost-West-Konflikt einvernehmliche Regelungen im KSZE-Prozeß verhindert, sondern auch West-West-Konflikte (dies zeigt sich ebenfalls bei den Verhandlungen über ein Mandat für konventionelle Stabilität in Europa wie bei der Behandlung von Menschenrechten insgesamt
V, Probleme bei der Anwendung der Schlußakte
Ohne hier in eine Detailprüfung des Entspannungsbefundes eintreten zu können, sollte darauf hingewiesen werden, daß die Ost-West-Wirklichkeit dreizehn Jahre nach Verabschiedung der KSZE-Schlußakte auch heute noch, während der dritten Nachfolgekonferenz in Wien, die am 4. November 1986 begann, durch drei Schwierigkeiten gekennzeichnet ist:
Die Schlußakte ist zwar zum anerkannten Bezugs-dokument geworden, das sich die Teilnehmerstaaten wechselseitig vorhalten. Sie wird jedoch unterschiedlich, ja teilweise gegensätzlich interpretiert. Während die einen den Korb 1 (Prinzipien-Katalog) und hier auch nur ausgewählte Prinzipien herausstellen (wie die Staaten des Warschauer Pakts), reduzieren andere (vornehmlich die westlichen Staaten) die Schlußakte auf den Korb 3 (humanitäre Fragen). Es gibt also zwischen Ost und West einen praxiswirksamen Interpretationsdissens.
Die über 600 Detailempfehlungen der Schlußakte sind bislang nicht bzw. nur unzulänglich realisiert worden. Ost und West werfen sich wechselseitig vor — wenn auch jeweils unter anderen Vorzeichen —, sie würden die Schlußakte nicht zum Bestandteil ihrer Politik machen. Es gibt also ein Vollzugsdefizit. Beispiele: Die wirtschaftliche Entspannung bleibt weitgehend eine unzulänglich erfüllte Forderung. Die ökonomische Interaktion ist nicht intensiver geworden. Die Transparenz von Außenhandelsvorgängen und nationalökonomischen Entwicklungen ist in einigen Fällen sogar schlechter geworden. Intensivere Kooperationsformen wie Joint Ventures und andere sind zwar in der Literatur in Ost und West durchaus wohlwollend behandelt worden, weisen jedoch ein hohes Maß an Realitätsdefizit aus. Der Befund beim sensitiven Korb 3 ist ambivalent: Neben Fortschritten, etwa beim Reiseverkehr und der Familienzusammenführung, gibt es Stillstand und sogar Rückschläge. Wie beim Korb 2 muß man hier jedoch die bilateralen Beziehungen im einzelnen untersuchen. So ließe sich feststellen, daß etwa im deutsch-deutschen Verhältnis eine bessere Entwicklung zu verzeichnen ist als etwa im tschechoslowakisch-bundesdeutschen Verhältnis
Neben dem Vollzugsdefizit gibt es ein erhebliches Komplettierungsdefizit. Das heißt, daß es bisher nicht gelungen ist. die politische Entspannung durch die militärische (Abrüstung) zu ergänzen Die KSZE-Staaten sind sich einig, daß insbesondere das Wettrüsten, das trotz der Entspannungsfortschritte ungehemmt weiterging und weitergeht, die Entspannung in eine schwere Krise gestürzt hat.
VI. Konferenzprojekte aus den einzelnen Körben
Im folgenden befassen wir uns mit drei großen Konferenz-Projekten: mit dem Projekt einer Konferenz über konventionelle Abrüstung, einer Wirtschaftskonferenz sowie einer Menschenrechtskonferenz. Diese drei Konferenzen symbolisieren das fragile Gleichgewicht zwischen den einzelnen Elementen des KSZE-Prozesses. also zwischen Sicherheit. Zusammenarbeit und Menschenrechten. Wenn wir uns mit diesen drei ausgewählten Konferenzprojekten befassen, dann bedeutet dies nicht, daß es nicht auch noch andere Konferenzvorschläge zu weniger brisanten Themen gäbe (so gibt es beispielsweise einen Konferenzvorschlag zur kulturellen Identität Europas, der ganz sicher im Konsens angenommen wird). 1. Konventionelle Stabilität vom Atlantik bis zum Ural als Konferenzaufgabe Nach der vertraglichen Einigung von Washington vom 8. Dezember 1987, die nuklearen Waffen von 500 bis 5 000 km Reichweite zu vernichten, konzentriert sich das Interesse auf die konventionellen Waffen und auf die Hoffnung auf eine baldige Aufnahme von Verhandlungen sowohl über konventionelle Stabilität wie auf die Fortsetzung einer Konferenz über vertrauens-und sicherheitsbildende Maßnahmen (KVAE II). Beide Konferenzen müßten ihr Mandat von der KSZE erhalten.
Die Beratungen über ein Mandat für eine Konferenz über konventionelle Stabilität in Europa (KSE) haben im Kreise der 23 (16 NATO-Staaten und 7 Warschauer Pakt-Staaten) am 17. Februar 1987 in Wien begonnen. Alle Beteiligten sind sich einig, daß die Verhandlungen über konventionelle Stabilität vom Atlantik bis zum Ural die schwierigsten Abrüstungsgespräche sein werden, die es je gab, denn hier geht es nicht nur um das Zählen von Gefechtsköpfen und den dazu gehörigen Trägern (wie bei der Abrüstungsvereinbarung von Washington), sondern hier gilt es. historisch gewachsene und damit höchst unterschiedliche Streitkräfte-strukturen, unterschiedliche Einsatzgrade von Soldaten, unterschiedliche Qualitäten von Waffen. Dislozierungen u. a. zu berücksichtigen wie auch die hinter den Waffen und Streitkräften stehenden Militärdoktrinen mit der Ausrichtung Vorneverteidigung bei der NATO und Vorwärtsverteidigung beim Warschauer Pakt. Diese Stichworte zeigen bereits, wie schwierig und komplex Verhandlungen über konventionelle Stabilität sein werden Ei-nen Teil der Schwierigkeiten versucht der Kreis der 23 durch die Verhandlungen über ein Mandat zu beseitigen. Hier ist man gut vorangekommen. Die nachfolgende (verkürzte) Übersicht zeigt den Stand der Mandatsverhandlungen:
Im Grunde gelöst (wenngleich noch nicht offiziell beschlossen) sind folgende strittige Punkte:
— Die Konferenz über konventionelle Stabilität findet im Kreise von 23 statt. Es ist sichergestellt, daß die paktunabhängigen Staaten informationsmäßig beteiligt werden, — Der Konferenzort wird voraussichtlich Wien sein.
Nicht gelöst ist der Punkt „Gegenstandsbereich“ der Verhandlungen: Der Osten möchte die nuklearen Gefechtsfeldwaffen einbeziehen. Der Westen, insbesondere Frankreich, weigert sich, nukleare Waffen im Kreis der 23 zu verhandeln. Denkbar wäre hier, daß die taktischen Nuklearwaffen an einem anderen Tisch verhandelt werden, wobei zwischen beiden Verhandlungstischen Zusammenhänge hergestellt werden. Jedenfalls zeichnet sich eine solche getrennte parallele Behandlung nach dem Besuch des sowjetischen Außenministers Schewardnadse in Bonn ab.
Feststeht, daß die KSZE zwei Konferenzen einsetzen wird: Eine über konventionelle Abrüstung und eine über die Fortsetzung der Konferenz über vertrauens-und sicherheitsbildende Maßnahmen in Europa (KVAE II). Bekanntlich haben die 35 KSZE-Staaten sich am 22. September 1986 in Stockholm auf ein Dokument der Vertrauens-und Sicherheitsbildung geeinigt.
Mit dem „Dokument von Stockholm“ haben 35 Staaten etwas bewiesen, das auch für die Beratungen in Wien von zenträler Bedeutung ist: die Fähigkeit und den Willen zum Kompromiß. Ohne diese Kompromißfähigkeit wäre es in Stockholm nicht gelungen, sich auf wichtige vertrauens-und sicherheitsbildende Maßnahmen zu verständigen: Ab dem 1. Januar 1987 müssen alle militärischen Manöver und Truppenverlegungen in Europa über 13. 000 Soldaten oder 300 Panzer mindestens 42 Tage vorher angemeldet werden. Wenn an solchen Manövern und Truppenverlegungen über Positionen von NATO und Warschauer Pakt zur Konferenz über konventionelle Abrüstung Hauptelemente des vom Warschauer Pakt am Hauptelemente des von der Nato am 27. Juli 22. Juni 1987 präsentierten inoffiziellen Arbeitspapiers 1987 bei den Sondierungsgesprächen der 23 Allianzmitglieder über künftige konventionelle Abrüstungsgespräche: eingebrachten Mandatsentwurfs:
• Künftige konventionelle Abrüstungsverhandlungen • Die 23 Mitgliedsstaaten der Bündnisse in Europa sollen im Rahmen der KSZE erfolgen nehmen gesonderte Verhandlungen und alle 35 Teilnehmer einschließen; daß geeignete über die Herstellung konventioneller Stabilität Forum dafür wäre die zweite Phase auf. werden die restlichen zwölf KSZE-Staaten der KVAE. aber regelmäßig über ihre Gespräche • Ziel der Verhandlungen sollte die „substantielle informieren.
und gegenseitige etappenweise Reduzierung von Streitkräften und Rüstungen in Europa • Ziel der Verhandlungen soll die „Schaffung vom Atlantik bis zum Ural“ sein, um auf eines stabilen und sicheren Gleichgewichts diese Weise bestehende Ungleichgewichte abzubauen. konventioneller Streitkräfte in Europa auf niedrigerem Niveau“ sein.
• Gegenstand der Verhandlungen sollte die Reduzierung • Zu diesem Zweck sollen militärische Un-gleichgewichte aller Komponenten der Landstreitkräfte eliminiert und vordringlich die und taktischen Angriffsfliegerkräfte Fähigkeit zu Überrraschungsangriffen und sein.
großangelegten Offensiven beseitigt werden. • Über die konventionellen Reduzierungen sollte zusammen mit den taktischen Nuklearwaffen • Gegenstand der Verhandlungen sollen insbesondere (atomare Kurzstreckenraketen bis zu die konventionellen Landstreitkräfte 500 Kilometern Reichweite) verhandelt werden.
sein. Nukleare oder chemische Waffen sollen
nicht behandelt werden.
• Maßnahmen gegen Überraschungsangriffe sind ebenso zu beschließen wie ein wirksames • Besondere Bedeutung ist der Vereinbarung und strenges Verifikationssystem. von Verifikationsmaßnahmen beizumessen. 17. 000 Mann teilnehmen, müssen militärische Beobachter sämtlicher Teilnehmerstaaten rechtzeitig dazu eingeladen werden. Jedes Jahr wird ein sogenannter Jahreskalender der militärischen Manöver und Truppenverlegungen ausgetauscht. Bis zuletzt umstritten waren die Regelungen über Verifikationsmaßnahmen. Hier gab es dann den größten Fortschritt in den Ost-West-Beziehungen, mit Folgen für die militärische Entspannung: Der Sowjetunion konnte das Einverständnis abgerungen werden, Kontrollmaßnahmen auf ihrem eigenen Territorium (Inspektionen vor Ort) zuzulassen. Dreimal im Jahr muß sich jedes Land Inspektionen gefallen lassen, ohne dagegen Ablehnungseinwände vorbringen zu können. Mit diesen Maßnahmen wurde der völkerrechtliche Gewaltverzicht im Rahmen der KVAE konkretisiert 2. Das Projekt einer „Ost-West-Wirtschaftskonferenz"
Der Ost-West-Handel stagniert Ohne Strukturveränderungen ist sein Volumen nicht zu vergrößern — das ist jedenfalls Expertenkonsens. Dabei werden durchaus neue Formen der Ost-West-Kooperation gesucht. Im Korb 2 der Schlußakte von Helsinki über „Zusammenarbeit in den Bereichen der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Technik sowie der Umwelt“ gibt es dazu eine Reihe von Vorschlägen. So reicht etwa die Vorschlagspalette im Bereich der industriellen Kooperation vom Austausch von Know-how über Zusammenarbeit in Drittländern bis hin zu Gemeinschaftsunternehmen (Joint Ventures). Die sogenannten Joint Ventures scheinen die interessantesten Perspektiven zu eröffnen. Allerdings ist dies auch die anspruchsvollste Ost-West-Kooperation und bedarf daher besonderer Vorbereitungen Auch die wissenschaftlich-technische Kooperation reicht von der Harmonisierung der Normen über die Zusammenarbeit in der medizinischen Forschung bis hin zur Zusammenarbeit beim Umweltschutz.
Einig sind sich die Vertreter von Ost und West, daß eine weitere Teilung Europas, nämlich die technologische Teilung, nicht zugelassen werden darf. Denkbar wäre eine engere Zusammenarbeit von EUREKA im Westen und Komplexprogramm 2000 des RGW.
Eine KSZE-Wirtschaftskonferenz hätte Vorschläge zu unterbreiten für die Intensivierung der ökonomischen wie wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit. Es gibt zwei Konferenzvorschläge: Der eine kommt von der Tschechoslowakei und wird von den anderen RGW-Staaten unterstützt, der andere von der Bundesrepublik Deutschland, der inzwischen als offizieller EG-Vorschlag vertreten wird. Man wird beide Konferenzeinladungen berücksichtigen müssen. Hier ist die Kompromißfähigkeit und -bereitschaft von Ost und West gefragt. Eine Kompromißvariante wäre, daß die Wirtschaftskonferenz entweder arbeitsteilig vorgeht, das heißt, einen Teil der Materie in Prag und einen anderen Teil in Bonn behandeln läßt, oder sie so abläuft, daß sie in Prag beginnt und in Bonn zu Ende geführt wird (oder umgekehrt). 3. Menschenrechtskonferenz Die Menschenrechte gehören zum Kernbestandteil der Schlußakte und des KSZE-Prozesses. Die Schlußakte von Helsinki hat insofern einen Fortschritt gebracht, als zum ersten Mal von allen 35 KSZE-Staaten ein Zusammenhang zwischen Frieden und Menschenrechten hergestellt wurde. Nach dem Prinzip 7 des ersten Korbes heißt es: „Die Teilnehmerstaaten anerkennen die universelle Bedeutung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Achtung ein wesentlicher Faktor für den Frieden . . .“ ist. Damit ist sichergestellt, daß zwischen dem Eintreten für Menschenrechte und der Friedenspolitik kein antagonistisches Verhältnis hergestellt werden darf. Vielmehr handelt es sich hier, wie die Schlußakte formuliert, darum, daß die Menschenrechte ein wesentlicher Faktor für den Frieden sind
Bis weit in die achtziger Jahre erschienen die Menschenrechte auf den Folgekonferenzen der KSZE wie auch auf den Spezialkonferenzen (insbesondere in Bern und Ottawa) als ein Thema, bei dem der Westen die osteuropäischen KSZE-Teilnehmer in die Defensive brachte und die KSZE-Staaten Osteuropas den Eindruck vermittelten, als seien sie gegen jedwede internationale Behandlung des Menschenrechts-Themas. Unter Gorbatschow hat sich dies insofern geändert, als nun das Menschenrechts-Thema offensiv in den KSZE-Prozeß eingebracht wurde, und zwar auf zweifache Weise:
— Auf Kritik an Menschenrechtsverletzungen in Osteuropa wird nicht mehr mit dem abwehrenden Hinweis auf das Verbot, sich in innere Angelegenheiten einzumischen, reagiert. Vielmehr wird offensiv auf Vorwürfe des Westens durch Gegenvorwürfe geantwortet. Dies bringt den Westen gelegentlich in Schwierigkeiten, denn immerhin kann das Recht auf Arbeit als ein Menschenrecht angesehen werden, und der Westen muß hier Voraussetzungen für die Realisierung eines solchen Menschenrechtes schaffen. Schwierigkeiten des Westens ergeben sich auch dann, wenn der Ostblock auf die Forderungen des Westens nach Freizügigkeit und Ausreisefreiheit nicht nur pauschal mit Schweigen oder sachfremden Attacken aufden Westen reagiert, sondern wenn geantwortet wird, daß man für Ausreisefreiheit sei. vorausgesetzt, der Westen lasse jeden einreisen, der dies wünsche. Hier hat es insbesondere auf der KSZE-Konferenz in Wien Ratlosigkeit auf Seiten westlicher Staaten gegeben.
— Zum anderen hat die Sowjetunion zu einer KSZE-Menschenrechtskonferenz nach Moskau eingeladen. Wie ist dieses Projekt zu bewerten? Wie ist der Stand der Beratung in Wien auf der dritten KSZE-Folgekonferenz?
Die unterschiedlichen Menschenrechtsauffassungen zwischen West und Ost finden ihren Ausdruck in zwei konkurrierenden Menschenrechtsprojekten: Nicht nur Moskau hat zu einer Konferenz eingeladen, sondern auch Paris. Die EG-Staaten und die nichtpaktgebundenen Staaten unterstützen eine Menschenrechtskonferenz in Moskau nur dann, wenn diese „unter angemessenen Umständen“ auf der Grundlage eines konkreten, weiterführenden Mandats zusammentreten kann. Entscheidend ist für die Unterstützung auch, daß sich das Mandat für eine solche Menschenrechtskonferenz aufdie in der Schlußakte von Helsinki aufgezählten Rechte beschränkt und nicht irgendwelche neuen Kategorien von Menschenrechten hinzugefügt werden („Recht auf Frieden“ etwa). Die Bedingung „unter angemessenen Umständen“ heißt, daß die UdSSR allen Pressebeobachtem sowie den Vertretern nichtgouvemementaler Menschenrechtsgruppen während der Zeit der Konferenz die Anreise erlaubt. Es kommt jetzt darauf an, daß die UdSSR auf der derzeitigen Wiener KSZE-Folgekonferenz einen konkreten Mandatsvorschlag unterbreitet und auf die westlichen Bedingungen eingeht Möglicherweise gibt es jedoch zwei Konferenzen: Eine in Paris und eine in Moskau, bzw. in zwei Phasen: Die erste Phase findet in Moskau statt und die abschließende zweite Phase in Paris.
Insgesamt hat der KSZE-Prozeß Fortschritte in der Menschenrechtsfrage gebracht. Im Rahmen des KSZE-Prozesses ist es möglich, das schwierige Thema der Menschenrechte zu diskutieren. Bezugspunkte sind zum einen das Prinzip 7. wonach die Menschenrechtsfrage Bestandteil des Friedens ist. ferner die Bestimmungen des Korbes 3. Dabei kommt es darauf an, den Gesamtzusammenhang zu beachten, allerdings nicht in dem Sinne, daß erst „alles andere“ in der Schlußakte realisiert werden muß, um dann zur Diskussion über die Menschenrechte zu kommen.
Hier müssen Ost und West lernen, mit dem Menschenrechtsthema so umzugehen, daß sowohl die zwischenstaatlichen Beziehungen nicht belastet, aber auch Menschenrechtsverletzungen beendet werden. Bei der Behandlung des Menschenrechts-themas muß erkennbar sein, daß derjeweilige Staat sich nicht auf die Abwehr von Kritik an seiner Menschenrechtspolitik beschränkt, sondern sich um eine Verbesserung der menschenrechtlichen Lage bemüht, für die er verantwortlich ist, die aber keine ausschließliche innere Angelegenheit mehr ist. Eine Kritik an Staaten, die Menschenrechtsverletzungen begehen, stellt keine Einmischung in innere Angelegenheiten dar. Dies ist inzwischen Expertenkonsens. Diese Position kann sich auf die beiden Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen sowie auf die KSZE-Schlußakte von Helsinki berufen.
Wenn man sich zurecht mit Entschiedenheit gegen Politiker wendet, die die Menschenrechte zu Kreuzzugsparolen für die ideologische Kriegführung degradieren und von der Mißachtung grundlegender Menschenrechte im eigenen Lager ablenken wollen, so muß man sich auch gegen Versuche wenden, Menschenrechte zu hierarchisieren und so zu definieren, daß sie zwar den eigenen Interessen genügen, aber nicht vereinbar sind mit dem geltenden Völkerrecht sowie der Schlußakte von Helsinki
VII. Ungleichzeitigkeit in der Entwicklung des KSZE-Prozesses
Der KSZE-Prozeß ist durch eine Ungleichzeitigkeit in der Entwicklung der politischen, ökonomischen und humanitären Komponente gekennzeichnet. Weit vorangekommen ist man in Wien in Fragen der ökonomischen Zusammenarbeit, obgleich sich die Staaten noch nicht formell auf die Wirtschaftskonferenz verständigt haben. Ost wie West haben ein hohes und annäherungsfähiges Interesse an konkreten Verabredungen. Beide gehen davon aus. daß es hier ein großes, unausgeschöpftes Potential gibt. Relativ weit fortgeschritten ist die Erörterung von Materien aus dem Korb 1. insbesondere, was die beiden Konferenzen über konventionelle Abrüstung wie über vertrauens-und sicherheitsbildende Maßnahmen in Europa betrifft. Auch hier gibt es ein intensives Interesse von Ost und West, sich auf eine Regelung zu verständigen, damit die Konferenzen ihre Arbeit aufnehmen können. Es zeigt sich auch in Wien, daß der sensibelste Bereich der der humanitären Zusammenarbeit ist (also der Korb 3).
Mit der kurzen Skizzierung des Entwicklungsstandes kommen wir zu einem weiteren Kennzeichen des KSZE-Prozesses: Ost und West haben stets Verknüpfungen zwischen den drei „Körben“ vorgenommen. Obgleich keine Seite bislang von Junktims gesprochen hat, ergibt sich aus der erklärten Gleichrangigkeit und Gleichgewichtigkeit der drei Körbe, daß ein substantielles Dokument in Wien nicht verabschiedet wird, wenn nicht in allen drei 18 Bereichen die Interessen angenähert werden. So hat auch der bundesdeutsche Delegationsleiter in Wien. Ekkehard Eickhoff, in einem Interview den Zusammenhang zwischen allen drei Körben unterstrichen, aber bestritten, daß es ein „mechanisches Junktim" gäbe
Wie auch immer man den Wirkungszusammenhang der drei Körbe der Schlußakte bezeichnet — die EG-Staaten werden in Wien kein substantielles Schlußdokument unterzeichnen ohne konkrete Festlegungen von Verbesserungen der menschen-rechtlichen Situation! Insofern ist die Aussage von Botschafter Eickhoff stellvertretend für den westlichen Ansatz bei der KSZE: „Wir wollen eine bessere Erfüllung der schon bestehenden Verpflichtungen durch präzise Regelungen.“
VIII. Zur Rolle der beiden deutschen Staaten
Zur Geschichte bzw. Vorgeschichte der KSZE gehört auch eine deutschlandpolitische Komponente, auf die die DDR heute selbst nicht mehr zurückkommt und die bei uns offenbar vergessen wurde. In der „Deklaration über die Festigung des Friedens und der Sicherheit in Europa, angenommen vom Politischen Beratenden Ausschuß der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages auf der Konferenz in Bukarest“ am 5. Juli 1966, an der auch die DDR mitgewirkt hat. heißt es im „Maßnahmen" -Katalog zur „Festigung der Sicherheit in Europa“ unter Ziffer 6. daß die „deutsche Friedensregelung den Interessen des Friedens in Europa“ entspräche. Die sozialistischen Staaten seien bereit, „die Suche nach der Lösung dieses Problems fortzusetzen“
Als Basis für die „Lösung dieses Problems“ wird die „Anerkennung der Existenz zweier deutscher Staaten“ genannt. „Gleichzeitig ist für die deutsche Friedensregelung unerläßlich, daß die bestehenden Grenzen anerkannt werden und beide deutsche Staaten auf Kernwaffen verzichten.“ Die „gleichberechtigte Teilnahme beider deutscher Staaten“ an der „Entwicklung und Festigung der europäischen Zusammenarbeit“ sei eine Voraussetzung für die europäische Sicherheit. „Was die Frage der Vereinigung der beiden deutschen Staaten betrifft, so führt der Weg zu ihrer Verwirklichung über die Entspannung, über die allmähliche Annäherung zwischen den beiden souveränen deutschen Staaten und über Abmachungen zwischen ihnen, über Abrüstungsvereinbarungen in Deutschland und in Europa. auf der Grundlage des Prinzips, daß das zukünftige vereinigte Deutschland ein wirklich friedbebender demokratischer Staat sein wird, von dem niemals eine Bedrohung seiner Nachbarn und des europäischen Friedens ausgehen wird.“
In einem grundsätzlichen Dokument des War-schauer Pakts aus dem Jahre 1966 wurde also die Vereinigung der beiden deutschen Staaten als ein mit dem Frieden und der Sicherheit in Europa zu vereinbarendes Ziel angesehen. Interessant ist die Beobachtung, daß auch in dem grundlegenden Ost-West-Dokument der NATO aus dem Jahre 1967 (Harmel) die deutsche Frage angesprochen und die Vereinigung beider deutscher Staaten mit dem europäischen Entspannungsprozeß verbunden wurde Es dauerte dann bis 1975. als am 1. August jenes Jahres 35 Staaten, unter ihnen die Bundesrepublik und die DDR. in Helsinki die Schlußakte der KSZE unterschrieben. Dazwischen liegen wichtige Etappen, die von beiden deutschen Staaten geprägt worden sind: der Grundlagenvertrag von 1972/73.der UNO-Beitritt von 1973 (auch hier warb die DDR in ihrem ersten Beitrittsgesuch von 1966 mit der Vereinigung Deutschlands) sowie die Verbesserung der deutsch-deutschen Beziehungen
Seit 1981 sprechen beide deutsche Staaten auch davon, daß von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen dürfe (Treffen des Bundeskanzlers Helmut Schmidt mit Erich Honecker in Werbellin), was 1987 anläßlich des ersten Besuches eines DDR-Staatsratsvorsitzenden in der Bundesrepublik bekräftigt wurde Beide deutsche Staaten sind an Abrüstungsverhandlungen und -Vereinbarungen beteiligt. Insofern kann man eine Linie von 1966 bis heute ziehen, wenngleich die Bedingungen sich erheblich verändert haben: Es handelt sich um zwei souveräne, gefestigte deutsche Staaten, die in ihren Beziehungen zueinander ein Faktor europäischer Entspannung sein wollen und es auch sind.
Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik sind Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung, die in konkurrierenden Wirtschaftsgemeinschaften und antagonistischen Militärbündnissen organisiert sind — mit höchst unterschiedlichen Ideologien. Daraus ergeben sich Unterschiede und Konflikte. Wir sind jedoch auch Nachbarn und wichtige Staaten mit gemeinsamen Interessen in Europa, die sich mit der Schlußakte von Helsinki ein gemeinsames Programm für die Bewältigung grenzüberschreitender Probleme und die Gestaltung europäischer Sicherheit gegeben haben. Daraus ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten zur Kooperation. Hier sollte man den Schwerpunkt künftiger deutsch-deutscher Beziehungen setzen — bei allen Unterschieden, die bleiben.
Die beiden deutschen Staaten sind nur zwei der 35 KSZE-Staaten. Von ihrer Mitwirkung und ihren Initiativen kann jedoch eine erhebliche Verbesserung der Ost-West-Beziehungen ausgehen. Für Initiativen von Seiten der Bundesrepublik und der DDR bietet die Schlußakte ein breites Aktionsfeld. Dabei sollten sie ihr Augenmerk vor allem auf den Korb 2 richten, aber vernünftigen Vorschlägen aus den anderen Bereichen nicht aus dem Wege gehen
Nach der letzten KSZE-Konsultation zwischen den beiden Delegationsleitern Ekkehard Eickhoff und Peter Steglich in Ost-Berlin haben beide übereinstimmend hervorgehoben, daß es jetzt darum gehe, „substantielle und ausgewogene Vereinbarungen zu allen Teilen der Schlußakte von Helsinki unter Berücksichtigung der legitimen Interessen aller Beteiligten“ zu erreichen Beide deutsche Staaten also wollen, daß das Schlußdokument die allgemeine KSZE-Philosophie von der Gleichrangigkeit aller Körbe widerspiegelt.
IX. Erfahrungen und Perspektiven im KSZE-Prozeß
Die Einigung aufdie KSZE-Schlußakte vom 1. August 1975, die zwei abgeschlossenen Folgekonferenzen von Belgrad und Madrid, die laufende dritte Folgekonferenz der KSZE in Wien, aber auch die Einigung auf das Dokument über vertrauens-und sicherheitsbildende Maßnahmen der KVAE in Stockholm sowie die zahlreichen Expertenkonferenzen (von der Familienzusammenführung über Streitschlichtung bis zum Wissenschaftsforum) vermitteln uns eine Reihe wichtiger Erkenntnisse und Erfahrungen, die für die Fortsetzung des KSZE-Prozesses von großer Bedeutung sind. Die vier wichtigsten:
1. Es muß ein reales Interesse an der Fortsetzung des KSZE-Prozesses bei den beteiligten Staaten vorhanden sein, und sei es nur an bestimmten Elementen dieses Prozesses.
2. Alle beteiligten Staaten müssen kompromißfähig und kompromißbereit sein (dieses Erfordernis ergibt sich schon aus der Festlegung, daß Beschlüsse im KSZE-Prozeß nur im Konsensverfahren gefaßt werden können).
3. Es muß stets auf die Ausgewogenheit der einzelnen Materien geachtet werden, das heißt, es darf keine Dominanz von Themen geben, die dann zu Lasten anderer gehen. So läßt sich für die erste Folgekonferenz in Belgrad feststellen, daß sich die Teilnehmer deshalb blockierten, weil westliche Staaten fast nur über Menschenrechte (in der Sowjetunion) reden wollten, während die Sowjetunion ausschließlich über Abrüstungsfragen sprechen wollte. Eine solche Unausgewogenheit führte dazu, daß sich die Teilnehmer lediglich auf ein formelles Abschlußdokument verständigen konnten, wobei die wichtigste Festlegung darin bestand, daß der KSZE-Prozeß weitergeht. Substantielles wurde hier also nicht gemeinsam verabschiedet.
4. Keiner darf den anderen überfordern. Es handelt sich um einen langfristigen Prozeß, in dessen Gefolge erst schrittweise die Verabredungen Praxis werden.
Diese vier Erkenntnisse und Erfahrungen reichen jedoch nicht aus. wenn die internationalen Rahmenbedingungen einem konstruktiven Herangehen nicht förderlich sind. Dies wurde insbesondere bei der Belgrader Konferenz deutlich. Allerdings zeigt der Vergleich der Belgrader Folgekonferenz mit dem zweiten Folgetreffen in Madrid auch, daß trotz schlechter internationaler Rahmenbedingungen ein substantielles Ergebnis erarbeitet werden kann. Denn trotz der fortdauernden Polenkrise sowie der Stagnation in der Ost-West-Entspannungspolitik gelang es, sich auf ein Mandat für die Stockholmer KVAE-Beratungen zu verständigen, das den Beratungen über vertrauens-und sicherheitsbildende Maßnahmen vier Kriterien mit auf den Weg gab. Danach sollten vertrauens-und sicherheitsbildende Maßnahmen politisch verbindlich, militärisch bedeutsam. auf ganz Europa anwendbar und kontrollierbar sein.
Der Stand der noch laufenden dritten Wiener Folgekonferenz läßt sich wie folgt charakterisieren: Erkennbar ist ein konstruktives Herangehen der meisten Teilnehmerstaaten an die Frage der Umsetzung der KSZE-Schlußakte. Die etwa 150 Vorschläge zeigen ein unvermindert starkes Interesse an der Fortsetzung des KSZE-Prozesses. Kritik an der noch fehlenden Umsetzung einzelner Teile der KSZE-Schlußakte führt nicht zur Konfrontation. Die internationalen Rahmenbedingungen sind durch das amerikanisch-sowjetische Abkommen über die nukleare Abrüstung vom 8. Dezember 1987 erheblich verbessert worden. Obgleich es diese günstigen Rahmenbedingungen gibt, konnten sich die 35 KSZE-Staaten bislang noch nicht auf ein Abschlußdokument verständigen. Sie mußten zweimal die Konferenz verlängern und haben sich nunmehr als Zieldatum den Sommer 1988 vorgenommen. Die Frage stellt sich, warum dies so ist. Der Konferenzverlauf zeigt, daß es insbesondere an der Kompromißfähigkeit bzw. -Willigkeit bei der Beratung über die einzelnen Körbe liegt. Ost wie West wollen auf „ihren“ Gebieten Maximales (nicht Optimales) herausholen. Die USA wollen insbesondere durch eine extensive Behandlung der Menschenrechtsproblematik in der Sowjetunion die UdSSR dazu zwingen, Zugeständnisse (insbesondere bei der Auswanderung) zu machen. Die Sowjetunion drängt auf eine baldige Konferenz über konventionelle Abrüstung. Dazwischen liegen die Bundesrepublik, aber auch die DDR, die sich für die Ausarbeitung von Vereinbarungen des Korbes 2 über wirtschaftliche Zusammenarbeit aussprechen, ohne menschenrechtliche wie abrüstungspolitische Themen zu vernachlässigen.
Die Schlußakte von Helsinki ist kein (Ersatz) -Friedensvertrag. Sie kann jedoch die gemeinsame politische Basis für eine dauerhafte und gerechte Europäische Friedensordnung sein. Es gibt kein anderes Ost-West-Dokument, das so umfassende, politisch verbindliche und auf ganz Europa anwendbare Festlegungen und detaillierte Empfehlungen enthält. Der KSZE-Prozeß mit der Schlußakte von Helsinki gibt einer gesamteuropäischen Entwicklung eine gute Perspektive. Das heißt, alle Bestrebungen. die sich auf eine schrittweise Überwindung der Teilung Europas richten, können sich auf die Schlußakte von Helsinki berufen.
In den Ost-West-Beziehungen zeigt sich immer deutlicher: Außenpolitik entfaltet innenpolitische Wirkungen. Entspannungspolitik ist kein Vorgang, der auf Außenbeziehungen beschränkt ist, sondern sie umfaßt sowohl die zwischenstaatlichen Beziehungen wie intrastaatliche Entwicklungen — erwünschte wie unerwünschte. Der Staat ist nicht mehr der einzige Akteur im Entspannungsprozeß. Die Schlußakte von Helsinki hat ein Entspannungsverständnis geschaffen, das sowohl zwischenstaatliche Vorgänge umfaßt wie ökonomische Austausch-prozesse und Kommunikationsbeziehungen zwischen den Menschen. Darin liegt normativ der Fortschritt von „Helsinki“.
Die Schlußakte von Helsinki hat ein Europa zum Ziel, in dem die bestehenden Grenzen ihren trennenden Charakter verlieren, oder, wie der österreichische Bundeskanzler bei der Eröffnung des dritten Wiener Folgetreffens am 4. November 1986 sagte: „Jede europäische Grenze, an der Menschen psychisch oder physisch scheitern, ist letztlich — und an unseren vereinbarten Maßstäben gemessen — ein unerträglicher historischer Anachronismus.“
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