„Keine Freiheit den Feinden der Freiheit" — diese eingängige Formel ist jedermann geläufig, der in der letzten Zeit die Diskussion um den „Radikalenerlaß" und ein Verbot der „KGruppen" verfolgt hat. Politiker, die sich selbst als konservativ, und Intellektuelle, die sich als progressiv verstehen, haben sich dieser Formel — als deren Urheber Saint-Just, Theoretiker und Praktiker politischen Terrors, gilt — zur Charakterisierung der Intentionen und Ansprüche des Verfassungsgrundsatzes der streitbaren Demokratie bedient. Wie wenig allerdings diese Formel geeignet ist, dieses tragende Verfassungsprinzip mit seinen verfassungspolitischen Zielsetzungen und seinen rechtlichen Auslegungsmöglichkeiten in der Gegenwart interpretierend zu erfassen, dies nachzuweisen ist das Ziel der folgenden Überlegungen Sie setzen sich zugleich mit der vielfach vertretenen Auffassung auseinander, daß ein sich gegen anti-demokratische Bestrebungen wehrender Rechtsstaat notwendig seinen demokratischen Charakter verliert.
Meine Grundthese lautet: Der Parlamentarische Rat hat sich bei seinen Erwägungen zum präventiven Demokratieschutz bewußt und mit Erfolg von der Absicht leiten lassen, durch seine Entscheidungen keiner Entwicklung der neu zu gründenden Demokratie zu einer intellektuell und politisch „geschlossenen Gesellschaft" Vorschub zu leisten Einer solchen Gesellschaft war man ja gerade entronnen; den Gründungsvorgang neuer „geschlossener Gesellschaften" hatte man vor Augen und war zum Teil — bei der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED — selbst wiederum von ihm betroffen.
I. Formale Toleranz und klassisch-liberales Marktmodell der Demokratie
Die liberal-demokratischen Intentionen der Väter des Grundgesetzes treten am deutlichsten hervor, wenn man die konkrete Ausformung „streitbarer Demokratie" mit den alternativen Lösungsmöglichkeiten konfrontiert, die in der die Gründungsphase der Bundesrepublik begleitenden öffentlichen Diskussion vertreten wurden. Wie bei anderen grundgesetzlichen Regelungen auch, handelt es sich bei der in den Artikeln 9, 18 und 21 GG verankerten „streitbaren Demokratie" ja keineswegs um die einzig denkbare oder einzig mögliche Lösung eines verfassungspolitischen Problems. Dies um so weniger, als der Parlamentarische Rat (wie auch die verfassungsgebenden Versammlungen der Länder) mit den rechtlichen Regelungen, die zusammenfassend als „streitbare Demokratie" bezeichnet werden, verfassungspolitisches Neuland betrat.
Keine andere Konstituante hatte bis dahin den Versuch unternommen, eine „streitbare Demokratie" auf Verfassungsebene zu verankern.
Die Problemlage, die dem Parlamentarischen Rat als regelungsbedürftig galt, läßt sich — mit dem Blick auf hier vor allem bedeutsame demokratie-theoretische Grundfragen — folgendermaßen beschreiben: Das „klassische“
Institutionengefüge liberal-rechtsstaatlicher Demokratien war in der Weimarer Republik mit antidemokratischen Intentionen überspielt bzw. unterlaufen worden. Das die Verfassung der ersten deutschen Republik prägende, „wertrelativistisch" begründete klassisch-liberale Markt-Modell der Demokratie hatte politische Entwicklungen begünstigt, die die Existenz der Demokratie selbst aufs Spiel setzten. Demokratie als Methode normativ uneingeschränkter Konkurrenz um freie Stimmen zur Erringung politischer Verantwortung im Staat war erfolgreich zur gewaltlosen Durchsetzung antidemokratischer Bestrebungen benutzt worden, nämlich zur Außerkraftsetzung des Prinzips der Parteien-konkurrenz zugunsten des Herrschaftsmonopols einer politischen Bewegung und ihres „Führers" und zu Lasten der Souveränität des Volkes als einem fundamentalen Legitimitätsprinzip des demokratischen Verfassungsstaates. Der Verfassungsrechtler und Politikwissenschaftler Karl Loewenstein hat diese verfassungspolitische Problemlage in den ersten Jahren seines Exils mit folgenden Worten beschrieben: „Demokratie und demokratische Toleranz sind zum Zwecke ihrer Zerstörung ausgenützt worden. Unter dem schützenden Dach von Grundrechten und rechtsstaatlichen Verfahren konnte eine anti-demokratische Maschine aufgebaut und legal in Betrieb gesetzt werden. Von dem zutreffenden Kalkül ausgehend, daß die Demokratie, ohne Selbstverleugnung, keiner Gruppierung in der Öffentlichkeit den uneingeschränkten Gebrauch der freiheitlichen Institutionen der Meinungs-, Presse-und Versammlungsfreiheit und parlamentarischer Partizipation versagen würde, haben faschistische Funktionäre systematisch die demokratische Ordnung diskreditiert und sie durch Paralysierung ihrer Funktionen arbeitsunfähig gemacht bis zum Einbruch des politischen Chaos ... Der Faschismus hat das (liberal-demokratische) Legalitätsprinzip in aller Offenheit annektiert. Nachdem die Erfahrung in anderen Ländern die Antiquiertheit des Staatsstreichs erwiesen hat, wird die Machtbildung auf der Ebene der Legalität gesucht ... Das Einparteiensystem war die logische Antwort auf die formale demokratische Toleranz ..."
Loewenstein ging es darum, im Bewußtsein der Bedeutung ökonomischer Faktoren und politischer Bewußtseinsstrukturen für den Untergang der Weimarer Republik, deutlich zu machen, daß es für die noch existierenden Demokratien — wie neu zu gründender — darauf ankomme, den neuen Techniken gewaltlosen Machterwerbs ein adäquates Instrumentarium politischer und rechtlicher Art entgegenzustellen, das geeignet erscheinen konnte, die Demokratie wirksam zu verteidigen, ohne gleichzeitig den „Wesensgehalt"
demokratischer Grundrechte und Struktur-prinzipien zu verletzen. Den von antidemokratischen Bewegungen bedrohten demokratischen Verfassungsstaaten sprach er das Recht und die Pflicht zu, unter bestimmten Bedingungen, zeitlich und inhaltlich begrenzt, Grundrechte zu suspendieren und Verbote von nichtdemokratischen Parteien und paramilitärischen Verbänden zu erlassen; Loewenstein hatte hier zunächst faschistische Gruppierungen vor Augen, in weiteren Veröffentlichungen bezog er ausdrücklich kommunistische Gruppen ein.
Eine erfolgreiche Verteidigung der Demokratie hatte nach Auffassung Loewensteins allerdings zugleich die Revision einer klassisch-liberalen Demokratieauffassung zur Voraussetzung, die im Zeitalter des (auf Zensuswahlrecht basierenden) „Honoratiorenparlamentarismus" wurzelte und vom Gedanken eines positiv-rechtlich uneingeschränkten Konkurrenzkampfes um politische Führung geprägt war. Loewenstein bezeichnet diese Auffassung als demokratie-theoretischen „Fundamentalismus". In der Gegenwart sei er zur Grundlage suizidaler Lethargie gegenüber formell-legalen Formen der Liquidierung demokratischer Verfassungsnormen durch antidemokratische Bewegungen geworden. Das uneingeschränkte Konkurrenzmodell der Demokratie und der ihm verbundene Gedanke der „reinen" Toleranz, wonach alle in einer Gesellschaft zu irgendeiner Zeit vertretenen Werte ungeachtet ihres Inhaltes und ihres möglichen Wahrheitsgehaltes als gleichrangig zu betrachten und ihnen vom Gesetzgeber grundsätzlich uneingeschränkt Chancen-gleichheit im Hinblick auf ihre Verbreitungsund Durchsetzungsmöglichkeiten einzuräumen seien (solange ihre Anhänger sich dabei nicht des Mittels der physischen Gewaltsamkeit bedienen) bedürfe wie in der politischen Praxis so auch in der Theorie moderner Demokratien einer Revision.
II. Alternativvorstellungen zur „streitbaren Demokratie" des Grundgesetzes
Im Parlamentarischen Rat griff man in der Sache auf die Überlegungen Loewensteins zurück, die ihrerseits inhaltlich an die Republikschutzgesetze von Weimar anknüpfen Die Ansiedelung des präventiven Demokratie-schutzes auf Verfassungsebene ist ein Zeugnis sowohl für die Bedeutung, die der Parlamentarische Rat dem Problem beimaß, als auch für das Bemühen um eine rechtsstaatliche Regelung. Die Entscheidung über so gravierende Eingriffe wie den des Partei-Verbots sollte weder dem einfachen Gesetzgeber noch der Exekutive überlassen bleiben.
Die vom Grundgesetzgeber getroffene Entscheidung für eine streitbare Demokratie hatte in ihren einzelnen Regelungen zwar im Parlamentarischen Rat nicht zu kontroversen Debatten geführt und blieb auch bei der Verabschiedung ohne Gegenstimmen jedoch wurde die konkrete Ausformung der streitbaren Demokratie Im Demokratiegründungsprozeß der Bundesrepublik und in den ihm vor-aufgegangenen bzw. ihn begleitenden Diskussionen in der Öffentlichkeit nicht als die einzig mögliche Problemlösung angesehen. Nur die wichtigsten Alternativvorstellungen können hier — und zwar vornehmlich im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Institut des Parteiverbots -— kurz skizziert werden. Es handelt sich um drei — zum Teil rechtliche Regelungen gar nicht ins Auge fassende —-Alternativkonzeptionen: 1) Die von Vertretern des politisch einflußreichen Neo-Liberalismus stark betonte Notwendigkeit von Gegenideologieund politischer Eliten-Bildung als conditio sine qua non der Abwehrfähigkeit gegenüber antidemokratischen Bestrebungen;
2) um den vornehmlich von SPD-Politikern verfochtenen Vorschlag, eine Lizenzierungs-pilicht für politische Parteien einzuführen;
3) um das von der „Deutschen Wählergesellschaft" engagiert vertretene Mehrheitswahlrecht, dem eine Tendenz zur politischen Entradikalisierung beigemessen wurde. 1. Gegenideologie und politische Elitenbildung Die Auffassung von der Notwendigkeit einer Art „ideologischer Aufrüstung" des Westens, einer Gegenideologiebildung, wie sie im Umkreis des Neo-Liberalismus vertreten wurde, erwuchs aus der Überzeugung, daß es letztlich „Degenerationserscheinungen" im geistig-moralischen Bereich gewesen seien, die zum Untergang der ersten deutschen Republik geführt hatten. So sah einer der führenden Vertreter des Neo-Liberalismus, Wilhelm Röpke, eine „Schwächung der moralischen Reflexe“ als eine Hauptursache der Entstehung des Nationalsozialismus in Deutschland und darüber hinaus als „den wahrscheinlich . . . letzten Ursprung der Weltkrise" an. Neben der Aufgabe des ökonomischen und politischen Wiederaufbaus kam es daher nach Röpkes Meinung vorrangig auf die Wiederherstellung einer sozialen Wertstruktur an. Die wirtschaftliche und politische Reorganisation Deutschlands müsse von einer geistigen Rekonstruktion begleitet sein; die eine dulde so wenig Aufschub wie die andere: Wie für den menschlichen Körper, so seien auch für „die Gesundheit des sozialen Körpers" „sicher und unbedingt arbeitende" „soziale Wertreflexe" eine unabdingbare Existenzvoraussetzung -— „Reflexe der Zustimmung und solche der Ablehnung, die uns darüber Aufschluß geben, daß die Gesellschaft von unverbrüchlichen Wertvorstellungen geleitet wird"
Röpkes Vorstellung von einer geistigen Rekonstruktion in der Form der Wiederherstellung einer reflexhaften Wertstruktur läuft in der Praxis auf eine offensive Strategie der politischen Bewußtseinsbildung hinaus: Es geht um die Formulierung und Vermittlung einer Gegenideologie als einer religion civile der westlichen Demokratie im Interesse ihrer Abwehrfähigkeit gegenüber antidemokratischen Einflußnahmen von innen oder außen, insbesondere ihrer Wettbewerbsfähigkeit mit den sozialistischen Ländern
War diese Forderung nach Gegenideologiebildung notwendige Folge des — in der Sicht des neoliberalen politischen Denkens — allgemein zu beobachtenden Wertverfalls der westlichen Kultur, so erwuchs aus der als Konsequenz von Industrialisierung und Demokratisierung diagnostizierten Vermassung — eine weitere Hauptursache der „Krise der abendländischen Gesellschaft" — die Forderung, eine führungsfähige Elite zum verantwortlichen Träger des politischen Willensbildungsprozesses zu machen und gleichzeitig die Einflußmöglichkeiten der unverantwortlichen „Masse" in diesem Prozeß einzuschränken.
An dieser Stelle ist ein bemerkenswerter Widerspruch im neoliberalen Denken festzustellen: Während für den ökonomischen Bereich den Menschen generell ein hinreichendes Maß an „gesundem Menschenverstand" zugesprochen wird, das es ihnen erlaubt, als Konsumenten eine vernünftig begründete Wahl unter konkurrierenden Gütern zu treffen, so wird dieser Optimismus nicht in den Bereich politischen Handelns übernommen. Hier wird im Gegenteil dem common man kein zureichender common sense zum Zwecke einer rationalen Partizipation am politischen Willensbildungsprozeß zugebilligt. Vielmehr setzt die Mehrzahl der Vertreter neoliberaler Theorie — mit der Ausnahme vor allem Alexander Rüstows — den „gemeinen Mann" mit dem Massenmenschen Ortega y Gassets gleich. Diese Gleichsetzung führt zu einem „Demokratiepessimismus" dem die Tendenz innewohnt, „die konstitutionelle Demokratie mit der anarchistischen Majoritätsdemokratie zu verwechseln, wie sie die Jakobiner in Rousseau hinein-interpretierten, und die totalitäre Demokratie als unausweichliche Folge anzusehen"
Es ist dieser Demokratiepessimismus, der Wilhelm Röpke zu dem Vorschlag veranlaßt hat, durch eine entsprechende Ausgestaltung des Wahlrechts den Primat im politischen Willensbildungsprozeß einer verantwortungsund führungsfähigen Elite vorzubehalten: Vor allem kommt es Röpke auf „eine vernünftige Festsetzung des Wahlalters" an; zugleich faßt er die Möglichkeit eines Pluralwahlrechts ins Auge, das „den Familienvätern und den in ihrem Beruf Bewährten mehrere Stimmen geben würde" In analoger Weise hatte schon Josef Schumpeter, ohne allerdings an Modifikationen des allgemeinen und gleichen Wahlrechts zu denken, seinem Konkurrenzmodell der Demokratie ein aristokratisch akzentuiertes Elitekonzept eingefügt, um in einer auf diese Weise gesellschaftlich geschlossenen Demokratie der Gefahr formell legaler Machtübernahme durch antidemokratische Massen-bewegungen zu begegnen 2. Lizenzierungspflicht für politische Parteien Gegenüber den neoliberalen Alternativvorstellungen zur grundgesetzlichen Verankerung der streitbaren Demokratie wurde, vornehmlich von Vertretern der Sozialdemokratischen Parteien, eine Regelung verfochten, die sich an der Lizenzierungspraxis politischer Parteien durch die westlichen Alliierten im besetzten Deutschland orientierte. In Bayern hatte Wilhelm Hoegner, im September 1945 von der amerikanischen Militärregierung als Nachfolger Fritz Schäffers zum Ministerpräsidenten ernannt, während seiner kurzen Amtszeit (bis zum Dezember 1946) den Entwurf eines Gesetzes über politische Parteien vorgelegt, der ihre Gründung von der Genehmigung durch einen Verfassungsgerichtshof abhängig macht und den Widerruf der Zulassung und Normativbestimmungen für ihre Satzungen vorsieht Eine Lizenzierung durch einen Staatsgerichtshof sah auch der unter dem damaligen hessisehen Justizminister Georg August Zinn (seit Februar 1947) ausgearbeitete Referentenentwurf für ein Parteiengesetz vor, der im Sommer 1948 in der „Wandlung" veröffentlicht und zur Diskussion gestellt wurde Wie über die Zulassung oder Ablehnung neu zu gründender Parteien sollte über den Widerruf einer bereits erteilten Zulassung auch in Hessen der Staatsgerichtshof befinden.
In dem Entwurf einer Begründung des hessischen Gesetzentwurfs wurde unter Hinweis auf Artikel 146 Abs. 2 der Verfassung Hessens ausgeführt, daß für diese „im Unterschied von der Weimarer Verfassung das Grundrecht der Vereinsfreiheit nicht nur ein formales Prinzip (ist), sondern ein substantielles, indem es in der Demokratie Freiheit nur für die Demokratie, aber nicht gegen sie geben kann... Anders als vor 1933 darf und wird es deshalb nicht mehr zulässig sein, Parteien zu bilden, die ihrer Organisation und ihren Zielen nach nicht demokratisch sind, die also demokratiefeindlich sind, sondern eine Demokratie muß, um nicht selbst die Hand zu ihrer Vernichtung zu bieten, auch von den Parteien verlangen, daß es demokratische Parteien sind. Infolgedessen bleibt es erforderlich, für die Bildung einer politischen Partei eine besondere Zulassung zu verlangen."
Welche Normen und Regeln im einzelnen als „Grundgedanken der Demokratie" anzusehen seien, auf die im Hinblick u. a. nach § 5 Abs. 2 des Gesetzentwurfs eine Zulassung oder Ablehnung nicht bereits im Landtag vertretener Parteien durch den Staatsgerichshof erfolgen sollte, wird in der Begründung des Gesetzentwurfs einerseits als ein Ergebnis der Entwicklung der Rechtsprechung des Staats-gerichtshof selbst angesehen, andererseits wird einschränkend außer auf die in der Verfassung niedergelegten Grundrechte vor allem auf den Weg der Rechtsvergleichung verwiesen und zugleich § 5 Abs. 2 des Gesetz-entwurfs als eine den Staatsgerichtshof bindende Richtlinie des Gesetzgebers interpretiert 3. Mehrheitswahlrecht Eine dritte Alternative zur späteren Entscheidung des Grundgesetzgebers für eine streitbare Demokratie und der Möglichkeit des Parteienverbots vertrat Dolf Sternberger. Als Mitbegründer der „Wählergesellschaft", die sich für die Einführung des Mehrheitswahlrechts in der neu zu gründenden Bundesrepublik einsetzte, sah er in diesem Wahlsystem das adäquate demokratie-immanente Mittel zur Regelung des Problems der Abwehr gewaltlos vorgehender antidemokratischer Bestrebungen Ausgehend von den dem Mehrheitswahlrecht zugeschriebenen praktisch-politischen Wirkungen vor allem im Hinblick auf das Parteiensystem, gab Sternberger vor Verabschiedung des Grundgesetzes in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Die Wandlung" der Besorgnis eines streitbaren Liberalen Ausdruck daß aus dem in der Beratung befindlichen Grundgesetz eine vornehmlich aus Angst vor der Wiederkehr vergangener politischer Schrekken geborene „Gegenverfassung" werde, die lediglich negativ auf die Vergangenheit fixiert bleibe. Die in der Öffentlichkeit verbreitete Angst vor den Schemen der Vergangenheit sah Sternberger als „eine Art öffentlichen Krankheitszustand" und als die bewegende Kraft jener politisch Verantwortlichen an, die „im Namen der Demokratie" „mit Zulassungsund Prozentklauseln, Lizenzen, Pflichten und Verboten" die Demokratie vor ihren möglichen Feinden sichern und die Verfassung hüten wollten
Angst sei jedoch der schlechteste Lehrmeister: Sie ziehe nämlich jene Gefahr herauf, der zu begegnen ihr erklärtes Ziel sei. Ein doppeltes Verhängnis wohne ihr daher inne: „Einmal wird der furchtsam auf Sicherheit bedachte Machthaber, wie gut er es auch meinen mag, selber zum unfreiwilligen Unterdrücker; und zugleich lockt er die Gegner an, die sich auf dieses Geschäft besser verstehen — die freiwilligen Unterdrücker." Gegen die Gefahren der Vergangenheit seien daher künstliche Sicherungen der in der Öffentlichkeit diskutierten Art untauglich; hier gebe es letztlich nur eine einzige wirksame Sicherung: „den positiven Gebrauch der Freiheit“ Die vom Parlamentarischen Rat vorgesehenen und in den Länderverfassungen zum Teil bereits verwirklichten Regelungen zur Stabilisierung und zum Schutz der Demokratie sah Sternberger — wie auch die Einführung des Verhältniswahlrechts — auf die Gründung einer Demokratie der Furcht hinauslaufen: „Die Furcht — vor den Feinden der Demokratie, vor dem Wechsel der Verantwortung, vor der Mehrheitsentscheidung, vor dem Risiko des offenen Marktes, vor der Opposition, vor der Legitimität schlechthin."
Dieser Demokratie der Furcht und ihrem System von Sicherungen stellte Sternberger die politische Alternative einer Demokratie der Courage auf der Basis des Mehrheitswahlrechts entgegen: „Machen wir den Strom stark und bauen wir ihm ein gutes Bett — anstatt der Schleusen und Wehre —, so werden auch wilde Wasser nichts zerstören, sondern unsere Mühlen treiben." Noch 1953, vor den Wahlen zum zweiten deutschen Bundestag, wiederholte Sternberger in einem Beitrag für „Die Gegenwart" seine Bedenken: „Die Klammer des konstruktiven Mißtrauensvotums, die Schranke oder Hürde der Sperrklausel und der elektrisch geladene Zaun der Parteiverbotsdrohung . . . , alle diese drei Vorkehrungen (sind) vom gleichen Schlag: es sind Kunstbauten, errichtet in der verzweifelten Entschlossenheit, das Parteiensystem und damit zugleich freilich -auch die Chance der Demokratie selber (denn sie hat nur auf dem Boden des gegebenen Parteiensystems überhaupt eine Chance!) vor Zersetzung, bösartiger Wucherung und vor Ohnmacht zu bewah-ren. Alle diese Vorkehrungen verleihen unserer tatsächlichen Verfassung einen wunderlich krampfhaften und gramvollen Zug, den nur eine positive, hoffnungsvolle und couragierte Bewegung zu echter Selbstregierung des Volkes aus ihrem Antlitz würde verscheuchen können."
III. Kritik der Alternativ-Konzeption
Die am Mehrheitswahlrecht orientierte politische Alternative zur grundgesetzlich verankerten streitbaren Demokratie stellt unter den drei skizzierten Positionen ohne Zweifel eine system-adäquate, demokratie-immanente Alternative dar. Dagegen hätte eine Lizenzierungspflicht politischer Parteien eine schwerwiegende Beeinträchtigung des liberal-demokratischen Grundsatzes der Freiheit der Parteigründung bedeutet, der — vielfach gerade mit dem Hinweis auf die vierzigerJahre — als ein grundlegendes Unterscheidungskriterium zwischen demokratischen Verfassungsstaaten und monopolistisch strukturierten autoritären oder totalitären Regimen angesehen wird. Heinrich von Brentano, ebenfalls Mitglied der „Wählergesellschaft", hat daher — wenige Wochen, ehe er Mitglied des Parlamentarischen Rates wurde — „sehr ernste und gründsätzliche Bedenken" gegenüber dem Vorschlag einer Lizenzierungspflicht geäußert; sie erschien ihm „bestens geeignet, eine freie und lebendige politische Entwicklung zu behindern"
Weniger noch als die zeitgebundene Konzeption einer Lizenzierungspflicht sind die Vorstellungen des Neo-Liberalismus mit Grund-postulaten liberaler Demokratie und einer „offenen Gesellschaft" zu vereinbaren: Der Gedanke an eine in sich geschlossene Gegen-ideologie der freien Welt gleicht eher einem Salto mortale aus dem Dilemma einer normativ unbeschränkten, reinen Toleranz, als daß er eine überzeugende politische Alternative darstellte. So selbstverständlich und gut begründet einerseits die Forderung nach einer selbstbewußten Verteidigung der Demokratie und ihrer Grundwerte und Grundregeln nach den Erfahrungen mit gewaltlosen Formen der Machtergreifung durch antidemokratische Bewegungen im 20. Jahrhundert ist, so hieße es doch andererseits den Teufel mit dem Beelzebub austreiben, wollten Bürger demokratischer Verfassungsstaaten und ihre Regierungen auf antidemokratische Herausforderungen (in der geschilderten Weise) reflexhaft — und das heißt doch: in einem „Stimulusresponse-Schema" wie Pawlowsche Hunde auf die Reize eines Verhaltensforschers — reagieren. Nicht soziale Wertreflexe oder Staatsgesinnung, sondern ein die Verhältnismäßigkeit der Mittel besonnen abwägendes demokratisches Verfassungsbewußtsein kann allein die Basis der Auseinandersetzung mit antidemokratischen Bestrebungen und ihrer Abwehr sein. Demokratische Toleranz und reflexhaftes Verhalten, ausgehend von einer in sich geschlossenen Gegenideologie, sind jedenfalls zwei miteinander grundsätzlich unvereinbare Haltungen. Ein „Terror der Anständigkeit" als Ausfluß intakter Wertreflexe ist die Untugend eifernder Selbstgerechtigkeit, aber kein Zeugnis demokratischen* Selbstbewußtseins und ohne Zweifel keine Alternative zur Haltung „suizidaler Lethargie".
Es ist nicht verwunderlich und zeugt für das Vorhandensein und die Stärke eines demokratischen Verfassungsbewußtseins — das sich nicht an Parteizugehörigkeiten knüpfte —, daß sich alsbald gegen Röpkes Form der „Wehrhaftigkeit" entschiedener Widerspruch zu Wort meldete: Adolf Arndt warnte in einem Vortrag über „Das Toleranzproblem aus der Sicht des Staates" vor der „Grundversuchung unserer Zeit", dem „Hang, sich ideologisch aufzurüsten" Otto Heinrich von der Gablentz erblickte wie Karl Popper in der neoliberalen Forderung nach einer „religion civile" der „freien Welt" den Ausdruck einer negativen Fixierung auf den politischen Gegner und mahnte: „Man kann das Prinzip des Gegners nicht übernehmen, ohne sich ihm auszuliefern. In gleichem Sinne wandte sich Popper gegen „jene wohlmeinenden Enthusiasten, die den Wunsch und das Bedürfnis haben, den Westen unter der Führung einer begeisternden Idee zu vereinheitlichen . .. Sie wissen nicht, daß sie mit dem Feuer spielen — daß es die totalitäre Idee ist, die sie anlockt ... Diese weitverbreitete Ansicht ist überaus verständlich. Aber ich halte sie für grundfalsch. Unser Stolz sollte es sein, daß wir nicht eine Idee haben, sondern viele Ideen, gute und schlechte; daß wir nicht einen Glauben haben, nicht eine Religion... Es ist ein Zeichen der überragenden Kraft des Westens, daß wir uns das leisten können. Die Einigung des Westens auf eine Idee, auf einen Glauben, auf eine Religion wäre das Ende des Westens, unsere Kapitulation, unsere bedingungslose Unterwerfung unter die totalitäre Idee.“
IV. Demokratie und Toleranz im Grundgesetz
In seiner Entscheidung für die streitbare Demokratie und ihre rechtliche Ausgestaltung hat sich der Parlamentarische Rat mit Erfolg von der Absicht leiten lassen, zu einer liberalen Regelung zu gelangen und eine Demokratie der Courage zu gründen. Den in der zeitgenössischen Diskussion erkennbaren antiliberalen Strömungen in der öffentlichen Meinung hat er ebensowenig nachgegeben wie er zugleich zu vermeiden wußte, der häufig beschworenen Gefahr einer ausschließlich negativen Fixierung auf die jüngste Vergangenheit zu erliegen. Durch die Erfahrungen mit gewaltlos vorgehenden demokratie-feindlichen Bestrebungen im 20. Jahrhundert belehrt, wollte er einer Erosion der Demokratie in ihrem eigenen Rahmen und mit ihren eigenen Mitteln — soweit dies mit Hilfe rechtlicher Regelungen möglich ist — vorbeugen, ohne dabei der Entstehung einer politisch, sozial oder geistig „geschlossenen Gesellschaft" Vorschub zu leisten.
Die liberal-demokratische Grundintention des Verfassungsgebers läßt sich in wenigen Thesen zusammenfassend darstellen: 1. Bei grundsätzlicher Verpflichtung des demokratischen Staates zu weltanschaulicher Neutralität tritt an die Stelle der wertindifferenten formalen Toleranz der ersten deutschen Republik eine norm-und regelbezogene materiale Toleranz, die nur noch solchen politischen Richtungen eine Chance einräumt, Mehrheit zu werden, die einen unabstimmbaren Kernbereich demokratischer Legitimität unangetastet lassen. Die rechtliche Möglichkeit und politische Notwendigkeit politischer Intoleranz wird klar und eindeutig auf den Fall begrenzt, daß dieser durch bestimmte unverbrüchliche Grundnormen und Grundregeln vom Verfassungsgeber definierte Kernbereich demokratischer Legitimität von einzelnen Bürgern oder Gruppen aktiv bekämpft wird, und zwar unabhängig von der Frage der Gewaltanwendung bei der Durchsetzung verfassungsfeindlicher Bestrebungen. Die „wertbezogene Toleranz" (A. Arndt) des Grundgesetzes, die „allen Formen einer verordneten religion civile eine Absage erteilt" geht da-von aus, daß es einen „allen Parteien zumutbaren Sinn" (H. Heller) der politischen Auseinandersetzung gibt, in der über die politische Entwicklungsrichtung im einzelnen nach dem Mehrheitsprinzip entschieden wird.
Die Neubestimmung des Verhältnisses von Demokratie und Toleranz im Grundgesetz der Bundesrepublik ist gelegentlich mit der Formulierung umschrieben worden, daß an die Stelle der formalen Toleranz von Weimar das Prinzip der gegenseitigen Toleranz getreten sei Diese Umschreibung geht jedoch am Kem der rechtlichen Ausgestaltung des Toleranzprinzips im Grundgesetz vorbei, deren Charakteristikum nicht in erster Linie in der Gegenseitigkeit, sondern in der Bindung an unverbrüchliche Grundnormen und Grundregeln besteht. Gleichwohl erfaßt diese Umschreibung einen bezeichnenden Grundzug sowohl der Absicht der Verfassungsgeber wie der rechtlichen Ausformung des Toleranz-prinzips.
An den für ein Partei-Verbot vorgesehenen Verfahren läßt sich leicht verdeutlichen, was gemeint ist: Das Grundgesetz verlangt von den verantwortlichen politischen Instanzen im Falle der Aufkündigung der Toleranz (der aktiven Bekämpfung des unabstimmbaren Kernbereichs demokratischer Legitimität) seitens einer politischen Partei nicht, das rechtlich verfügbare Instrumentarium der streitbaren Demokratie unverzüglich anzuwenden, also gleichsam automatisch Intoleranz gegen Intoleranz zu setzen. Vielmehr sind die zuständigen politischen Instanzen gehalten, ihr Handeln am Toleranzprinzip als einem konstitutiven Element liberal-demokratischer Verfassungsordnung solange zu orientieren — und das heißt hier: auch verfassungsfeindlichen Parteien solange den uneingeschränkten Gebrauch grundgesetzlich verbürgter Freiheitsrechte zu gewährleisten —, als diese nach begründetem und politisch-demokratisch zu verantwortendem Ermessen keine Bedrohung für den demokratischen Verfassungsstaat darstellen. Toleranz — pragmatische Toleranz — also insoweit auch gegenüber prinzipieller Intoleranz. 2. Der Verfassungsgeber hat bewußt der offenen politischen Auseinandersetzung mit verfassungsfeindlichen Bestrebungen den Primat vor den Mitteln des präventiven Demokratie-schutzes zuerkannt. Das liberale Markt-modell der Demokratie, die freie Konkurrenz politischer Parteien um politische Verantwortung im Staat, bleibt im Konzept der streitbaren Demokratie grundsätzlich erhalten. Erst wenn das „freie Spiel der Kräfte" die Einhaltung der unabstimmbaren Grundnormen und Grundregeln des demokratischen Willensbildungsprozesses nicht mehr zu gewährleisten vermag, ist eine Intervention demokratisch legitimierter politischer Instanzen vorgesehen. Mit anderen Worten: Streitbare Demokratie besagt nicht, daß die Verantwortung und Initiative in der Abwehr demokratie-feindlicher Bestrebungen zuerst oder gar ausschließlich bei Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat läge; sie liegt vielmehr zugleich und — wie ich meine — zunächst bei der Wählerschaft, bei Parteien, Verbänden und — nicht zuletzt — beim einzelnen Bürger. Der Verfassungsgeber macht in der rechtlichen Ausgestaltung der streitbaren Demokratie die Voraussetzung der Bereitschaft und der Fähigkeit gesellschaftlicher Kräfte, sich einer „Beute-Politik"
antidemokratischer Gruppierungen aus eigener Kraft zu widersetzen. Es liegt in der Natur einer bewußt liberalen Regelung dieses „größten Dilemmas des konstitutionell-demokratischen Staates seit seiner Entstehung" daß sie ein politisches Wagnis enthält.
Daß die Mitglieder des Parlamentarischen Rates als bevorzugtes Mittel politischer Auseinandersetzung mit verfassungsfeindlichen Gruppierungen kaum eine Podiumsdiskussion der Vorsitzenden der im Parlament vertretenen Parteien mit.den Chefs antiparlamentarischer Parteien vor Augen gehabt haben (ebensowenig wie dies heute bei Verantwortlichen in Parteien und Verbänden der Fall ist), dürfte klar zu Tage liegen Offene und offensive politische Auseinandersetzung heißt zum Beispiel: klare politische Abgrenzung gegenüber als verfassungsfeindlich angesehenen Parteien und Organisationen über die verbindliche Festlegung und Vertretung politisch-programmatischer „essentials“; die Ablehnung von „Bündnispolitik“ und von „Aktionseinheiten"; der Versuch politischer Isolierung extremistische; Gruppierungen als Resultat von Informations-und Diskussionsprozessen im Hinblick auf die Wählerschaft (Beispiel: Bürgerinitiativen gegen die NPD im Wahlkampf 1969 in Baden-Württemberg); innerparteiliche und innerverbandliche „Parallelaktionen" gegenüber extremistischen Gruppierungen.
Wo erkennbar wird, daß die Initiative gesellschaftlicher Kräfte allein nicht zum gewünschten Erfolg führt, wo die vom Verfassungsgeber vorausgesetzte Fähigkeit zur offenen und kämpferischen politischen Auseinandersetzung mit antidemokratischen Gruppierungen nur unzureichend wirksam wird (zum Beispiel wegen jener zu Recht beklagten „traurigen Dekomposition des liberalen Geistes", dem man nicht selten „gerade unter politisch ahnungslosen und anpassungsbereiten Liberalen" begegnet liegt es im Ermessen von Bundesregierung, Bundestag oder Bundesrat, das rechtliche Instrumentarium der streitbaren Demokratie anzuwenden 3. In der für die Intervention vorgesehenen Form kommt die liberal-demokratische Grundintention des Verfassungsgebers erneut zum Ausdruck: Für das Verbot einer politischen Partei sind die im demokratischen Prozeß miteinander um die politische Macht konkurrierenden Kärfte lediglich antragsberechtigt; entscheidungsberechtigt ist dagegen allein das Bundesverfassungsgericht (so schon im Herrenchiemsee-Entwurf). Eine Regelung des Problems der Abwehr antidemokratischer Bestrebungen politischer Parteien auf dem Verordnungsund Gesetzgebungswege wie in der Weimarer Republik und wie in anderen westlichen Demokratien ist damit ausdrücklich ausgeschlossen worden
Die hier beschriebene Grundintention des Verfassungsgebers bliebe in vollem Umfang gewahrt, wenn der Gesetzgeber den kürzlich von Günther Willms, Richter am Bundesgerichtshof, unterbreiteten Vorschlag aufnehmen sollte, der die Erklärung der Verfassungswidrigkeit einer Partei von einem Verbot in der Weise trennen will, daß dem Bundesverfassungsgericht nurmehr das erstere, der Exekutive dagegen der förmliche Ausspruch eines Verbots auf der Basis eines verfassungsgerichtlichen Urteils obliegt. Ob Willms Vorschlag wirksamere und elastischere Wege der Bekämpfung verfassungsfeindlicher Parteien eröffnet, als „die nur scheinbar so durchgreifende äußerste Maßnahme eines Verbots", ist gründlicher Überlegung wert. Zweifelhaft erscheint dagegen, ob das Verständnis der westlichen Welt, die — wie Willms sicher zu Recht feststellt — „dem im Grundgesetz enthaltenen Konzept der streitbaren Demokratie ziemlich fremd gegenübersteht", dadurch erhöht werden kann, daß der Ausspruch eines Parteiverbots — wenn auch an die Vorentscheidung des Bundesverfassungsgerichts für die Verfassungswidrigkeit einer Partei gebunden — in den Verantwortungsbereich der Exekutive verlegt wird
V. Streitbare Demokratie — eine „antidemokratische Sottise"?
In der politikwissenschaftlichen Diskussion der Bundesrepublik hat der Verfassungsgrundsatz der streitbaren Demokratie im Vergleich zu anderen tragenden Verfassungsprinzipien trotz der bald nach Gründung der Bundesrepublik vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochenen Partei-Verbote wenig Beachtung gefunden.
Für diesen Sachverhalt bieten sich mindestens zwei plausible Erklärungen an: die bis in die sechziger Jahre hineinreichende zeitgeschichtliche Evidenz des Konzepts einer streitbaren Demokratie einerseits; die geringfügige politische Bedeutung gewaltfrei vorgehender antidemokratischer Bestrebungen andererseits. Unter diesen Umständen standen andere Verfassungsprinzipien vorrangig auf der Tagesordnung der neubegründeten Politikwissenschaft: das Rechtsstaatsprinzip, die Parteiendemokratie und allgemeiner das Pluralismuskonzept, die Sozialstaatsklausel.
Einen Beleg für die zuerst angeführte zeitgeschichtliche Evidenz der „abwehrbereiten Demokratie" sehe ich in der Tatsache, daß in der Kritik des KPD-Verbots durch Wolfgang Abendroth und Helmut Ridder — im Unterschied zu später von beiden Autoren vertretenen Positionen — das Verfassungsprinzip der streitbaren Demokratie und insbesondere das Rechtsinstitut des Parteiverbots nicht als antidemokratisch, gar als „antidemokratische Sottise" bewertet wird. Abgesehen von juristischer Detailkritik am KPD-Urteil richten sich Abendroths Einwände zum einen auf die Frage der politischen Opportunität des Antrags der Bundesregierung vom No-vember 1951. Dabei betont Abendroth jedoch, daß „die stalinistischen Entartungsformen des modernen Kommunismus . .. mit freiheitlich-demokratischem Denken unvereinbare politische Tendenzen darstellen und keinen legitimen, sondern nur einen taktischen Anspruch darauf haben können, im politischen Kräftefeld einer Demokratie geduldet zu werden ..." Zum anderen vertritt Abendroth die Auffassung, daß das Rechtsinstitut des Parteiverbots im Unterschied zum SRP-Urteil eine „undifferenzierte Anwendung auf die KPD" erfahren habe In diesem Rahmen kann auf Einzelheiten der Argumentation Abendroths nicht eingegangen werden; worauf es in diesem Zusammenhang ankommt, ist die Tatsache, daß in der Auseinandersetzung mit dem KPD-Verbot das Verfassungsprinzip der streitbaren Demokratie als solches keiner demokratie-theoretischen Grundsatzkritik unterworfen wird.
Noch Abendroths zehn Jahre später in erster Auflage erschienene „Einführung in das Grundgesetz und seine politischen Probleme" läßt das Thema der streitbaren Demokratie unberücksichtigt, und dies ungeachtet der dort vorgetragenen massiven Kritik schon am Entwurf von Herrenchiemsee, der nach Abendroths Auffassung bereits eine zunächst in der Bevölkerung nach dem Zusammenbruch erkennbare „radikale Wendung" zur Demokratie rückgängig gemacht und die verfassungspolitische Restauration in der Bundesrepublik eingeleitet habe. Diese These sucht Abendroth mit dem Hinweis auf die Kanzler-Demokratie zu belegen, die ohne nähere Begründung in „fundamentalistischer" Weise als eine autoritäre Verformung des „reinen Parlamentarismus" interpretiert wird
Seit Beginn der siebziger Jahre, seit der Grundsatzentscheidung des Hamburger Senats vom 23. November 1971 und der Ministerpräsidenten-Erklärung vom 28. Januar 1972 ist das Desinteresse der Wissenschaft, vornehmlich der Staatsrechtslehre am Konzept der streitbaren Demokratie rückläufig. Abgesehen von Einzelfall-Kritik an der unterschiedlichen Praxis streitbarer Demokratie auf der Ebene von Bund und Ländern, die hier nicht Gegenstand der Überlegungen ist, wird auf grundsätzlicher, demokratie-theoretisch relevanter Ebene in einer Reihe von Publikationen eine Art offensiver Doppelstrategie erkennbar: Sie besteht einerseits in dem Versuch, das Prinzip der streitbaren Demokratie auf einen verfassungsrechtlichen „Ehrenplatz" abzuschieben, das heißt — in der Terminologie von Walter Bagehot — es von einem eiiicient in einen di-gnified part of the Constitution zu verwandeln mit der Begründung, daß es seine Wurzel in der „anti-faschistisch-demokratischen" Früh-phase der Bundesrepublik habe.
Die strategische Ergänzung bzw. Alternative hierzu liegt in dem Bemühen, das Konzept der militanten Demokratie als -einen höchst un-ehrwürdigen Bestandteil des Grundgesetzes, nämlich als antikommunistisches Relikt aus der McCarthy-Ära in dem vom „US-Imperialismus" abhängigen Westdeutschland zu diskreditieren. m. a. W.: es als seiner Substanz nach antidemokratisch zu disqualifizieren.
Sieht man von der Pamphlet-Literatur gegen den „Radikalen-Erlaß" ab, in deren Rahmen in direkter Fortschreibung der Marxschen Agentur-Theorie des Staates die streitbare Demokratie als „das politische Instrument der bürgerlichen Klasse zur Verteidigung dieser von der Verfassung selbst absolut gesetzten bürgerlichen Klasseninteressen" gesehen wird so ist die skizzierte Doppelstrategie vor allem von Helmut Ridder entwickelt und vertreten worden. In seinem Beitrag zu dem fünften Band der „Bad Wildunger Beiträge zur Gemeinschaftskunde", der unter dem Titel „Verfassungsrecht" 1975 erschienen ist, nennt Ridder „das ganze Institut der Parteiillegalisierung .., ein Konstrukt antiliberalen und antidemokratischen Denkens“. Zwar sei es richtig, „daß manche , Väter’ des Grundgesetzes subjektiv von der höchst redlichen Über-zeugung getragen waren, mit Art. 21 Abs. 2 vor allem eine Waffe gegen einen wiederauflebenden Faschismus zu schmieden" Zu diesem Zwecke hätte es jedoch der allgemeinen verfassungsrechtlichen Festschreibung des Instituts des Parteiverbots nach Ridders Auffassung nicht bedurft. Vielmehr wäre von der damals gegebenen Rechtslage her ein bloß exekutivisches Vorgehen gegen die SRP sowohl rechtlich möglich als auch politisch wirksam gewesen
Mit dieser These verknüpft Ridder eine Art Verschwörungstheorie im Hinblick auf die Intentionen eines großen Teils der Mitglieder des Parlamentarischen Rates: „Wäre so — vermeintlich , unrechtsstaatlich’ — bloß exekutivisch gegen die SRP vorgegangen worden, hätte sich die perverse „List'des zur Ausformung eines , Prinzips'der streitbaren Demokratie hochgejubelten Art. 21 Abs. 2 nicht entfalten können." Diese „List” — angewandt von der um ihren „Verlust" bangenden „Mitte" — bestand nach Auffassung Ridders darin, zwar im „Datenkranz" des Jahres 1949 „antifaschistisch" zu argumentieren, de facto jedoch „einsinnige antikommunistische" Intentionen mit dem allgemein gehaltenen Art. 21, 2 zu verbrämen: „Im System auch der bürgerlich parlamentarischen Demokratie ist die(se) Bestimmung ein notständischer Fremdkörper, der politische Opportunitätsmaßnahmen gegen legale politische Betätigung ermöglicht: solche Betätigung wird durch gleichheitswidrige Einzelfall-entscheidung mit dem Stempel der Illegalität versehen."
Auf jeden Fall sei es unzulässig, Art. 21, 2 in Verbindung mit Art. 9 und 18 zu einem die ganze Verfassung durchdringenden Prinzip der streitbaren Demokratie, „wie es sich mittlerweile der Rechtsprechung aller Sparten und Instanzen als Brett vor den Kopf gelegt“ habe, „aufzudonnern"
In einem Beitrag zu dem 1976 erschienen Sammelband mit dem Titel „Die Zerstörung der Demokratie durch Berufsverbote" hat Ridder seine Position noch einmal in formelhafter Zuspitzung zusammengefaßt: „ ... . streitbare Demokratie'(ist) ... keine Demokratie". Zwar handele es sich bei Art. 9, 18 und 21 „unzweifelhaft (um) geltendes Verfassungsrecht". Gleichwohl stellen sie nach Meinung Ridders antidemokratische Sottisen dar, „und zwar Sottisen von Geblüt, von deutschem Geblüt nämlich, das sich als ewiger Widersacher der Vernunft gefällt ... alle diese Vorschriften (weichen) radikal von dem Verfassungsrecht der westeuropäischen Staaten ab". „ ... das , Prinzip’ der . wehrhaften Demokratie’ (ist) das neue Sammelbecken aller antidemokratischen Ideologien .... die schon der Reichsrepublik von Weimar das Rückgrat gebrochen haben". Es „(ist) ein phantastisches Amalgam aus wilhelminischem Antidemokratismus und unausgewaschenem braunem Gedankendreck"
Ein demagogischer Kraftakt — er zielt gewiß nicht auf wissenschaftliche Auseinandersetzung. Gleichwohl verlangt er eine ideologie-kritische Antwort, eine Klarlegung der ihm zugrunde liegenden Motive. Dies gilt insbesondere dort, wo das Verfassungsrecht westlicher Demokratien — das kein Parteien-privileg kennt und ein Verbotsverfahren auf der Basis des Vereinsrechts durch einen Akt der Exekutive erlaubt, das ferner (ebenfalls im Gegensatz zum Grundgesetz der Bundesrepublik) Parteiverbote durch (qualifizierte) Mehrheiten des Gesetzgebers nicht ausschließt — im Vergleich zum Verfassungsrecht der Bundesrepublik als demokratisch und rechtstaatlich vorbildlich hingestellt wird.
Befremdlich angesichts Ridders Engagement für die Demokratie in ihrer bürgerlichen Ausprägung ist sein stillschweigendes übergehen so einschneidender Vorschläge, wie sie Herbert Marcuse in seinem Beitrag zu dem vielfach aufgelegten Sammelband „Zur Kritik der reinen Toleranz" formuliert hat Marcuse kritisiert darin die „unparteiische Toleranz", die in den bürgerlichen Demokratien „der Rechten wie der Linken gewährt wird ..., der Partei des Hasses ebenso wie der der Menschlichkeit", und fordert Intoleranz auf der Ebene des Handelns sowohl wie der Diskussion und Propaganda „vor allem gegenüber den Konservativen und der politischen Rechten"
Nach Marcuses Auffassung würde dazu gehören, „daß Gruppen und Bewegungen die Rede-und Versammlungsfreiheit entzogen wird, die eine aggressive Politik, Aufrüstung, Chauvinismus und Diskriminierung aus rassistischen und religiösen Gründen befürworten oder sich der Ausweitung öffentlicher Dienste, sozialer Sicherheit, medizinischer Fürsorge usw. widersetzen". Darüber hinaus sei an „neue und strenge Beschränkungen der Lehren und Praktiken in den pädagogischen Institutionen" zu denken „Systematischer" Entzug bürgerlicher Grundfreiheiten also nicht allein für rechtsextremistische . Feinde der Freiheit', sondern auch für Vertreter des politischen Konservativismus. Sie sind Feinde „wahrer Befriedung" der Gesamtgesellschaft und als solche „rational auf empirischem Boden" auszumachen. Der hierzu erforderliche Prozeß der Urteilsbildung und Entscheidungsfindung weicht in beiden Fällen radikal von den umständlichen Prozeduren etablierter bürgerlicher Demokratien ab. Er ist kurz und nicht formalisiert: „qualifiziert .... diese Unter-Scheidungen, Definitionen und Ermittlungen für die Gesamtgesellschaft vorzunehmen ... (ist) jeder, der gelernt hat, rational und autonom zu denken"
Unter gegenwärtigen Bedingungen kann es sich Marcuse zufolge nur um Minderheiten handeln. Durch Inanspruchnahme eines „Naturrechts" auf Widerstand beschleunigen sie das Werk der Befreiung: „Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltung zu predigen."
VI. Zum gegenwärtigen Stand politikwissenschaftlicher Forschung
Im Unterschied zur Staatsrechtslehre sind von Seiten der Politikwissenschaft bisher keine Beiträge zur Kontroverse um den Geltungsanspruch des Konzepts der streitbaren Demokratie zu verzeichnen. Der gegenwärtige fach-wissenschaftliche „Diskussionsstand" läßt sich am ehesten durch die Übertragung einer aphoristischen Formulierung Ernst Fraenkels zur späten Entdeckung der Kanzlerdemokratie durch die Politikwissenschaft charakterisieren: „Das vielleicht erstaunlichste an der neudeutschen . Kanzlerdemokratie’ ist das Erstaunen, das die Entdeckung ihrer Existenz hervorgerufen hat." Entsprechendes ist mehr als fünfundzwanzig Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes im Hinblick auf die „streitbare Demokratie" zu konstatieren — wobei hinzuzufügen ist, daß dem Erstaunen über die Entdeckung ihrer Existenz eine nicht unbeträchtliche Portion Verlegenheit beigemischt ist
Die Politikwissenschaft könnte ohne Zweifel einen gewichtigen Beitrag in die Diskussion um die „streitbare Demokratie" einbringen: Eine vergleichende Untersuchung dieses Konzepts im systematischen Kontext der Demokratie-Theorie und ihrer Entwicklung im 20. Jahrhundert, unter Heranziehung einschlägiger zeitgeschichtlicher Quellen, steht noch aus. Bei gleichzeitiger Berücksichtigung praktischer Alternativen könnte eine solche Untersuchung die Grundlage sowohl für eine kritische Überprüfung der demokratie-theoretischen Grundsatzkritik am Konzept der streitbaren Demokratie als auch seines Geltungsanspruchs und seiner Auslegungsmöglichkeiten bilden. Angesichts bereits ergangener wie noch ausstehender Urteile insbesondere des Bundesverfassungsgerichts ist dies eine in ihrer Bedeutung gewiß nicht gering zu veranschlagende Aufgabe für eine schon von ihrem Gründungsauftrag her der Praxis in der Demokratie verpflichteten Wissenschaft.