Keine anderen Sorgen?
Eine knappe Million junger Menschen werden in Deutschland jährlich aus den allgemeinbildenden Schulen entlassen. Zusammen mit Absolventen der beruflichen Schulen, Schulabsolventen vergangener Jahre und abzüglich derer, die studieren wollen, Wehr- oder Zivildienst leisten oder jobben, treten sie auf dem Ausbildungsmarkt als Bewerber auf. 60 Prozent dieser Bewerber nimmt die reguläre berufliche Bildung auf. Der Rest, gut 500.000 junge Menschen jährlich, bleibt erst einmal stecken: im Übergang von der Schule in den Beruf. Sechs Prozent der Deutschen, 22 Prozent der Ausländerinnen und Ausländer unter ihnen, finden auch nach vier Jahren keine Ausbildungsstelle.
Knapp zwei Fünftel der – wiederum eine knappe Million – Grundsicherungsempfänger ("Hartz IV") unter 25 Jahren befanden sich im Jahresdurchschnitt 2007 in den Maßnahmen der sogenannten "aktivierenden" Arbeitsmarktpolitik. In den Jahren 2005 bis 2006 fanden 70 Prozent der von der Grundsicherung abhängigen 18- bis 29-Jährigen auch nach zwei Jahren nicht aus dem Hilfebezug heraus.
Und diese jungen Leute – unter ihnen ein hoher Anteil von Hauptschülern und von Einwanderern bzw. ihren Kindern – hätten nun keine anderen Sorgen, als sich auch noch "kulturell bilden" zu lassen? Hatte nicht Hartmut von Hentig schon 1993 geschrieben: "Nein, unsere Probleme verlangen politische und pädagogische Antworten, nicht ästhetische?"
In der Tat ist Skepsis angebracht. Je weniger die deutsche Bildungspolitik in der Lage ist, ihren Problemen mit einem wirklichen Paradigmenwechsel des schulischen Lehrens und Lernens zu begegnen, desto mehr spricht sie derzeit von "Kunst und Kultur". So erfreulich es auch ist, dass Programme aufgelegt werden, die Kultur- und Bildungsträger in der Jugendbildung zusammenarbeiten lassen: Ihre geringe materielle Ausstattung und die gleichzeitige Abwicklung von Einrichtungen der Jugendhilfe lassen bei den betroffenen Einrichtungen den Verdacht aufkommen, hier solle die traurige Lebens- und Lernwirklichkeit der bildungsbenachteiligten Kinder und Jugendlichen hinter ein paar leuchtenden Events dem Blick der Öffentlichkeit entzogen werden. Wer glaubt, die "Kunst als solche", wenn man sie hier und da, mit möglichst großem Bahnhof und kurzen Fristen, betreibe, könne an dieser Wirklichkeit irgendetwas nachhaltig ändern, der irrt. Aber darum geht es nicht.
Wovon reden wir?
Der Übergang Schule-Beruf – das ist (a) das für viele Jugendliche und junge Erwachsene sehr, wenn nicht gar endlos lang gewordene Stück Weg, das zwischen den allgemeinbildenden Schulen verschiedenen Typs und der regulären Berufsausbildung, d.h. dem Dualen System, den vollqualifizierenden beruflichen Schulen und den Hochschulen, liegt. In einem weiteren Sinne ist der Übergang Schule-Beruf (b) auch der Weg von Schule und/oder Ausbildung in Beschäftigung überhaupt. Als Praxisfeld ist der Übergang Schule-Beruf (c) die Gesamtheit der Bemühungen, die Lehrer, Ausbilder, Sozialpädagogen, Coaches, Bildungsbegleiter, Berater, Fallmanager, Vermittler mit den Jugendlichen unternehmen, damit sie diesen Weg gehen können.
Dieses Praxisfeld hat sich zum Teil (d) als "Übergangssystem Schule-Beruf" institutionalisiert. Das sind zum einen die Anbauten ans Schulsystem wie z.B. das Berufsgrundbildungsjahr, zum anderen vor allem die Berufsvorbereitenden Maßnahmen der Arbeitsagenturen. Sinnvollerweise sind hier (e) die gesamten von zahlreichen Länderprogrammen flankierten Maßnahmen des Hartz-IV-Systems einzubeziehen: die Bewerbertrainings, Computerführerscheine, Aktivierungsmaßnahmen und die 1,50-Jobs, die hier nach wie vor den Löwenanteil ausmachen. In diesem weiten Sinne ist das Übergangssystem ein Labyrinth von Behelfsbauten, die die Bildungspolitik und – hier mehr und mehr dominierend – die Arbeitsmarktpolitik geschaffen haben, damit etwa eine Million junge Menschen zwischen Schule, Beruf und Beschäftigung nicht ganz im Regen stehen – sondern eher in der Traufe: Es ist geradezu ein Definitionsmerkmal all dieser Maßnahmen, dass sie keine anerkannten Abschlüsse verleihen.
Und kulturelle Bildung?
Das ist, im allgemeinen Sprachgebrauch, die künstlerisch-kulturelle Bildung. "Kultur" meint hier weniger das, was etwa die Ethnologen darunter verstehen, sondern eher das, was in Theatern, Konzerthäusern, Galerien, Kinos stattfindet und in Kunstmuseen aufbewahrt wird. Traditionellerweise sind es die Kunstschulen und kulturpädagogischen Einrichtungen, die die Kinder und Jugendlichen hier heranführen. Das tun sie auf vornehmlich praktische Weise. Zum einen unterrichten sie die künstlerischen Techniken wie z.B. Klavier- und Schauspiel. Zum anderen knüpfen ihre Künstler und Künstlerinnen und ihre Kulturpädagoginnen und -pädagogen an spontane und/oder subkulturelle ästhetische Praktiken der Kinder und Jugendlichen an und machen mit ihnen künstlerische Projekte. Vor allem um solche größeren und kleineren Projekte geht es, wenn von Interventionen "kultureller Bildung" im Übergang von der Schule in den Beruf die Rede ist.
Zwei Beispiele
Künstlerische Projekte stehen hier im Kontext von "Aktivierung", Berufsorientierung, Berufswahlvorbereitung, Berufsvorbereitung und allgemeiner "Kompetenzförderung". Insbesondere der Begriff der "Kompetenz", der in den vergangenen Jahren im bildungspolitischen Diskurs eine bemerkenswerte Karriere gemacht hat, ist für diese Projekte argumentationsstrategisch wichtig. Sie nehmen seinen theoretischen Gehalt ernst: Kompetenzen sind Selbstorganisationsdispositionen.
Wie sieht dies konkret aus? – Zwei Beispiele: Ein kleinformatiges aus der schulischen Praxis der Berufsorientierung, ein großformatiges aus dem "Übergangssystem" Schule-Beruf.
Ability plus
Projekt der Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (LKJ) Thüringen
Das Projekt mit Schülern der siebten bis zehnten Klasse an Thüringer Regelschulen analysiert mit künstlerischen oder kreativen Methoden konkret ein Segment der Arbeitswelt und fördert so insbesondere soziale und kommunikative Kompetenzen, es trainiert zudem analytisches und methodisches Herangehen. Die Schülerinnen und Schüler unternehmen an den ersten Projekttagen Exkursionen in verschiedene Berufsfelder und fragen dort nach, was man alles können muss. Anschließend versuchen sie, in spielerischen Tests miteinander herauszubekommen, ob sie diesen Anforderungen schon entsprechen. In einem weiteren Schritt erschaffen sie dann in einem theatralen Planspiel eine ganze Firma namens "Speed FF" und simulieren dort Handlungsabläufe und mögliche Konflikte.
Zukunft 2013 (Baden-Württemberg)
Projekt des NewLimes e.V. im Ostalbkreis (Baden-Württemberg)
Hierbei handelt es sich um ein großes Community-Theater-Projekt, das sich seit langem auch im Bereich der aktivierenden Maßnahmen engagiert und seine Produktionen mit aus Profis und Amateuren zusammengesetzten Ensembles in der Region in einer Saison 75-mal aufführen kann. "Zukunft 2013" baut um sein Theater herum eine kleine Welt von Werkstätten auf, in denen Jugendliche dem Theater zuarbeiten. Dabei bezieht es viele ehemals Arbeitslose, die älter als 50 Jahre sind, als Meister und Anleiter in seine Werkstätten ein. Es organisiert Unternehmerstammtische, an denen auch die Chefs von Arbeitgeberverbänden teilnehmen – und zugleich die Jugendlichen des Projekts selbst. Und "Zukunft 2013" bietet überaus gut besuchte regelmäßige Weiterbildungsveranstaltungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der örtlichen Arbeitsverwaltungen sowie Kollegen aus ähnlich arbeitenden Projekten und Theatern aus dem Bundesgebiet an.
Erfolge und ihr Geheimnis
Siebzehn solcher schulischen und außerschulischen Projekte und das Freiwillige Soziale Jahr Kultur werden in einer exemplarischen Projektsammlung der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) detailliert beschrieben.
Warum? Aus einem einfachen Grund. Künstlerische Praxis ist vital darauf angewiesen, die gesamten Vorerfahrungen und Lernbedürfnisse ihrer individuellen Akteure zu mobilisieren, diese Erfahrungen und Bedürfnisse zum Zuge kommen zu lassen, ihnen Ausdruck und Gestalt zu geben und Anerkennung zu verschaffen und sie dadurch bewusst zu machen und mit noch fremden Menschen und Dingen in der Welt in vielfältige – keineswegs nur kognitive – neue Verbindungen zu bringen.
Lerner-, subjekt-, interaktionsorientiert und zugleich ausgerichtet auf die Bewährungsprobe öffentlicher Präsentation verbinden solche Projekte die Ziele des schulischen 'Lernens auf Vorrat'´ mit dem, was John Dewey "ends-in-view" nennt
Insbesondere die größeren Community-Art- und Theater-Projekte wie "Zukunft 2013" in Aalen, "Planet Kultur" und "Projekt Shakespeare" in Köln, "Act" in Bremen und "!Stage" in Gelsenkirchen nutzen die Künste – auch die "hohen" – zur Erschließung lebensweltlicher Probleme ihrer jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer und darüber hinaus als "exterritorialen" Raum, dessen eine gelingende inter- oder besser: transkulturelle Bildung bedarf.
Künstlerische Projekte realisieren dabei eine sehr spezifische Variante produktiven Lernens. Ihr Erfolgsgeheimnis liegt darin, dass sie immer auch mehr sind als Übergangsprojekte und ihren Teilnehmern zwei vom Ausbildungs- und Arbeitsmarkt unabhängige Erfahrungen der Bewährung ermöglichen: die Bewährung in einem – übrigens: möglichst heterogenen und transkulturellen – Team, das ganz seine eigene Sache und diese um ihrer selbst willen betreibt,
Wer sich auf derartige Erfahrungen des Gelingens und der Anerkennung stützen kann, tritt den Anforderungen von Schule, Arbeitsmarkt und Arbeitswelt selbstbewusster und mit weniger Angst gegenüber. Angst aber ist eines der stärksten Lernhindernisse überhaupt.
Ausblicke
Aus all diesen Gründen kann die Wirkung künstlerisch-kultureller Projekte im Übergang Schule-Beruf über die individuelle Kompetenzförderung weit hinausgehen. Diese zumeist in Kooperation durchgeführten Projekte treten mit den vorgefundenen Lehr- und Lernumwelten der Schulen und Betriebe und des Übergangssystems in produktive Spannung. Im Austausch der unterschiedlichsten Akteure können sie zu einem weiteren Katalysator jenes weit über die Übergangsproblematik hinausweisenden Umdenkens und Umsteuerns werden, für das in Deutschland vor allem das schnell gewachsene Netzwerk Archiv der Zukunft steht
Schließlich: Die Akteure des zerklüfteten Übergangsfeldes Schule-Beruf sind sich weithin darin einig, dass nur ihr netzwerkartiges, institutionelle Grenzen überschreitendes Zusammenwirken auf lokaler Ebene die anstehenden Probleme lösen kann. Die Weinheimer Initiative hat dafür einen passenden Ausdruck gefunden: lokale Verantwortungsgemeinschaft.
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