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"Empathie macht Demokratie erst möglich“ | Kulturelle Bildung | bpb.de

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"Empathie macht Demokratie erst möglich“ Interview mit dem Kinder- und Jugendbuchautor Manfred Theisen

Manfred Theisen

/ 11 Minuten zu lesen

Der Kinder- und Jugendbuchautor Manfred Theisen schreibt Romane zu politisch-gesellschaftlichen Themen, um Jugendliche zum kritischen Denken anzuregen. Beim Lesen sehen Kinder die Welt durch die Augen von anderen und lernen Empathie.

Die Welt mit anderen Augen sehen (© tempelmeer/Photocase)

Herr Theisen, Sie haben bereits eine ganze Reihe von Kinder- und Jugendbüchern veröffentlicht. Ihr neuestes Werk, das gerade im Februar 2012 veröffentlicht wurde, heißt "Wake up“. Worum geht es?

"Wake up“ dreht sich erst einmal um den Themenkomplex Umwelt und Zukunft. Drei Jugendliche möchten, dass die EU nicht mehr auf "dunkle Energien“ (fossile Brennstoffe und Atomkraft) setzt, sondern europaweit auf erneuerbare Energien wie Wind- oder Solarkraft, deren Rohstoff nicht aus der Erde kommt. Sie lernen den halbbrasilianischen Hacker Filinto kennen, der sich mit ihnen in ein Atomkraftwerk hakt und die Bundesregierungen unter Druck setzt. Berauscht von der eigenen Macht wird Filinto größenwahnsinnig, gefährlich und scheint nicht mehr zu stoppen. Die drei anderen Jugendlichen, die aus einem bürgerlich grünen Milieu stammen, bekommen Angst vor den Konsequenzen ihrer eigenen Handlung ...

Letztendlich geht es in dem Roman aber nicht nur um Umweltpolitik, sondern um die Frage: Ist es möglich in einer Demokratie und mit demokratischen Mitteln dem drängenden Thema Klimawandel entgegen zu treten, oder ist die Demokratie zu träge in ihren Entscheidungsprozessen? Müsste nicht eine grüne Diktatur her – wie in "Wake up“ in Form einer Erpressung – um wirklich etwas zu verändern. Nach der Erfahrung mit den diktatorischen Anmaßungen Filintos entscheiden sich die Jugendlichen in "Wake up“ für die demokratische Variante des Umweltschutzes.

Ihre Bücher nehmen die Leserinnen und Leser sofort mit, durch eine spannende Geschichte und jugendliche Hauptfiguren, die verschiedene Entwicklungsschritte durchleben. Man ist gleich von der Geschichte gefesselt, so dass man kaum merkt, wie Sie in beinahe allen Büchern politisch-gesellschaftlich brisante Themen vermitteln. In "Wake Up“ geht es um die Energiewende, in anderen Büchern um den israelisch-palästinensischen Konflikt oder den 2. Weltkrieg. Warum wählen Sie solche Themen für Ihre Romane?

Weil sie mich selbst interessieren, weil ich Politik wichtig finde und weil ich gerne möchte, dass die Jugend ein kritikfreudiger Teil unseres Systems bleibt. Das heißt nicht, dass junge Menschen in eine Partei eintreten sollten, sie können sich auch mit anderen Mitteln für ihr Umfeld einsetzen und mitgestalten. Und zwar nicht nur aus egoistischen Gründen, sondern weil wir uns umeinander kümmern sollten, schließlich muss für gesellschaftlichen Frieden gearbeitet werden. Ich hatte im Rahmen eines Entwicklungshilfeprojekts einmal ein einschneidendes Erlebnis mit einem Kindersoldaten in Äthiopien; hatte Angst, er würde mich erschießen. Dieses Kind hat vermutlich nie eine Schule besucht, kein Buch gelesen und war durch seine Erlebnisse abgestumpft. Nach dieser Begegnung habe ich begonnen, Jugendbücher zu verfassen. Ich fände es gut, wenn Jugendliche eine Art politische Grundbildung erhalten. Basis dafür ist das Mitempfinden mit anderen Menschen, die anders Leben, anders denken. Mir geht es darum, dass sie ein Bewusstsein dafür entwickeln, was sie tun, dass sie dadurch in der Folge ein Bewusstsein für politische Prozesse gewinnen und entwickeln. Ich könnte auch für Erwachsene schreiben, die sind aber häufig schon festgefahren in ihren Meinungen.

Das heißt, Ihre Bücher haben einen moralischen Anspruch.

Wenn man das moralisch nennen möchte. Sicher ist, dass ich den Jugendlichen Denkanstöße geben, sie für politische Prozesse und ihr soziales Umfeld sensibilisieren möchte.

Die politische Bildung ist dem Beutelsbacher Konsens verpflichtet, das heißt unter anderem, dass Sachverhalte, die in der Gesellschaft kontrovers diskutiert werden, auch im Unterricht kontrovers dargestellt werden sollen. Können und wollen Sie mit Ihren Büchern diesem Anspruch gerecht werden? Manipulieren Sie die Schülerinnen und Schüler nicht mit einer bestimmten Meinung?

Ich bin Autor und habe bestimmte Grundhaltungen. Aber ich möchte erst einmal nur zum Denken anregen. Die Schüler leben in dem politisch äußerst bedeutsamen Umfeld Schule, in dem sich wichtige gesellschaftliche Themen spiegeln. Sie leben im Spannungsfeld zwischen Liebeskummer und Mobbing, zwischen Teamwork und Ellenbogengesellschaft, diskutieren über Facebook und Umweltproblematik. Wenn die Politiker wissen wollen, auf welche Energieformen wir künftig setzen sollten, ob wir mehr liquid democracy in unserem politischen System benötigen oder nicht, wie wir unsere Gesellschaft umbauen sollten, wie wir wegkommen könnten von einer Ellbogengesellschaft, dann sollten wir die Jugendlichen fragen. Wir müssen häufig gar nicht die Themen in die Schule tragen, sondern sollten die Schüler befragen, welche Themen ihnen wichtig sind. Die Schule ist kein Wesen, das außerhalb der Gesellschaft auf der Weide steht, die Schule ist ein Träger der Gesellschaft, in der unsere Zukunft gemacht wird. Ich glaube an die Macht der Jugend, weil die Jugend das vorantreibende Element der Gesellschaft ist, sie zerstört und baut auf, sie ist dynamisch - und wir sollten als „Erwachsene“ darauf achten, dass die Jugend nicht alles kritiklos hinnimmt, sondern uns neue Wege zeigt. Wir brauchen die Jugend, sonst verkrusten wir. Dabei darf die Jugend auch mal Porzellan zerschlagen. Jugendliche müssen ihren Weg finden, auch wenn er uns nicht passt. Ich trage nicht nur Themen in die Schule, sondern hole mir häufig die Themen aus den Schulen. So habe ich nun mehrere Projekte mit Schülern zum Thema social networking – speziell Facebook – gemacht und viel über das Verhältnis von Jugend und neuen Medien gelernt. Die Erfahrungen möchte ich in einer neuen Geschichte umsetzen. Wenn ich das Buch dann wieder in der Schule lese, schließt sich der Kreis. Es kommt zur Diskussion mit der nächsten Generation, es kommt zur Meinungsbildung. Ab und an geht der Weg allerdings auch in die andere Richtung – und ich transportiere Themen in die Schule, die ich für wichtig halte, versuche Schüler auf Zusammenhänge hinzuweisen.

Und wie schaffen Sie das konkret in Ihren Romanen, die politisch-gesellschaftlichen Themen zu den Jugendlichen zu bringen? Es geht ja in Ihren Romanen häufig um schwierige historische Stoffe wie z.B. die STASI oder den 2. Weltkrieg.

Ich versuche Brücken zu bauen, versuche sie durch meine Helden in diese historischen oder fremden Welten zu entführen. Das gelingt natürlich nur durch Empathie mit den Hauptfiguren. Häufig werden diese politischen Themen auch in der Schule im regulären Unterricht behandelt und meine Romane als Schullektüre parallel gelesen. Mir ist dann klar: Die Schüler müssen das lesen, das ist Zwang. Und es ist natürlich immer schwierig, die Jugendlichen für etwas zu begeistern, wenn sie es unter Zwang tun müssen und danach noch eine Klassenarbeit darüber schreiben. Aber in den Lesungen merke ich, wie sehr ihnen Themen wie Mobbing, Facebook oder Umwelt unter den Nägeln brennen. Sie wollen nicht nur Fantasy und sich in andere Welten flüchten; sie wollen nicht nur Unterhaltung. Die Jugendlichen sind politischer und sensibler, als es viele Erwachsene glauben. Und im Roman habe ich die Möglichkeit, politische Themen über eine Liebesgeschichte oder einen Thriller zu transportieren. Das ist der Vorteil, den ein Roman gegenüber einem Sachbuch hat. Der Jugendliche fiebert mit den Helden mit, bekommt wirkliches emotionales Interesse, Gefühle werden geweckt und Gefühle sind ein wahrer Katalysator für Entwicklung.

Empathie scheint ein zentraler Punkt für Sie zu sein. Was verstehen Sie darunter?

Dass ich mit einem anderen Menschen mitempfinde und so überhaupt zu einem sozialen Wesen heranreife. Sie müssen einmal beobachten wie Kleinkinder häufig mit Tieren umgehen. Sie ziehen dem Hamster am Beinchen oder drücken eine Ameise zum Spaß platt. Der Grund: Sie sind nicht empathisch mit diesen Tieren, sie müssen den Wert des Lebens, Schmerzen etc. erst einmal lernen. Das gilt natürlich besonders für das Verhältnis zwischen den Menschen. Erst Mitempfinden führt zur Mitmenschlichkeit, führt zum Sozialwesen. Wir erfühlen, was der andere möchte, wir denken uns in seine Welt, fühlen uns in die Lage des Obdachlosen, des Hilfsbedürftigen, der auf der Straße friert oder die Frau, die gerade ihren Job verloren hat; aber auch im Arbeitsprozess benötigen wir diese Gabe des Menschen, wenn wir mit jemandem zusammen arbeiten, wenn wir uns auf ihn einstellen um im Team auf neue Ideen zu kommen, neue Maschinen zu entwickeln oder in einer Konferenz das Geschick eines Unternehmens lenken. Empathie bringt uns voran. Empathie ist eine der stärksten Kräfte des Menschen. Aber wir müssen sie trainieren, sonst produzieren wir Einzelkämpfer. Durch das Mitfühlen in Büchern gelingt dieses Training. Empathie ist die Grundlage dafür, dass wir mit dem anderen denken und eine Solidargemeinschaft sind. Konkurrenz belebt das Geschäft, aber Empathie macht das Leben erst lebenswert und Demokratie erst möglich.

Wie läuft die Recherche für einen Roman? Orientieren Sie sich an historischen Fakten?

Ich spreche mit Zeitzeugen, nehme Gespräche auf, durchforste Akten – und halte mich an historische Fakten. Wichtig ist mir dabei der nahe Kontakt zu Informanten – das mag an meinem journalistischen Hintergrund liegen. So habe ich vor Ort in Israel für meinen Roman "Checkpoint Jerusalem“ recherchiert und genau in dem Waisenhaus gewohnt, das im Roman beschrieben wird. Ich habe mit zwei Jungen im Waisenhaus meine Zeit verbracht und dort geschlafen, sie wurden dann in der Geschichte zu Figuren. Für mich ist es wichtig, dass ich mit meinen Informanten etwas erlebe, nicht nur mit ihnen rede. Oft entdeckst du die Wahrheit erst, wenn du mit ihnen den Alltag teilst.

So schaffen Sie es, an das Alltagsleben in Lebenswelten heranzukommen, die sehr weit weg sind von unserer Realität, z. B. In Israel/Palästina?

Genau, vor allem, wenn ich über Jugendliche schreibe, weil ich keine Klischees verbreiten möchte. Auch für Bücher wie "Die Rotte“ gehe ich vor Ort. Für diesen Roman war ich zwei Wochen lang täglich mit Rechtsradikalen zusammen. Ich hatte damals etwas Glück, denn einer der Neonazis hatte mein Buch "Amok“ im Gefängnis gelesen und fand es toll, dass er den Autor leibhaftig vor sich hatte. Sie haben mich zu ihren Demos und Treffen mitgenommen und mir erzählt, wie sie mit dem Verfassungsschutz umgehen. Ich habe gesehen, wie sie saufen und wie sie sich schlagen, ihr Verhältnis zu Frauen und was sie eigentlich machen, wenn sie mal keine Parolen von sich geben. Ich musste ihnen nur versprechen, dass ich ihre Namen nicht nennen würde. Am Ende kamen sie sogar zur Lesung des Buches. Dabei hatte ich ein bisschen Angst, da das Buch natürlich kritisch ist. Mein Status als Schriftsteller ist ein großer Vorteil bei solchen Recherchen. Als Journalist war ich darauf angewiesen Ross und Reiter zu nennen. Nun kann ich einen Dialog zwischen zwei Neonazis wiedergeben, ohne sie mit ihrem wirklichen Namen zu benennen. Ich komme so einfach näher an die Leute und die Realität.

Welche Chancen bietet es, ein politisches Thema mittels eines Romans zu vermitteln, im Gegensatz zur Vermittlung des gleichen Themas aus dem Geschichts- oder Politikunterrichtsbuch?

Der Unterschied ist wieder die Empathie. Sie macht die ganze Sache so greifbar. Stellen Sie sich einmal vor, Sie lesen einen Krimi. Wenn Sie als Leserin in den Krimi eintauchen und sich ganz mit der Figur des Kommissars identifizieren und plötzlich widerfährt dem Kommissar etwas schreckliches, dann zucken auch Sie innerlich zusammen. Adrenalin schießt in Ihren Körper.

Wenn ich als interessierter Mensch z.B. das Thema Amoklauf behandeln will, kann ich mir hundert psychologische Studien dazu durchlesen. Aber ich werde niemals miterleben, wie sich ein Amokläufer fühlt, was ihn von anderen Menschen trennt und vielleicht zu seiner Tat bringt. Außer, ich erlebe es selbst mit, weil ich im Roman mit diesem Menschen mitfühle. Wenn ich mit Schülern diskutiere, höre ich oft, dass sie sich gar nicht vorstellen können, wie ein Amokläufer denkt. Wenn sie aber Romane wie "Amok“ gelesen haben, spüren sie für einen Moment diesen "schwarzen Funken“ an sich selbst, sie sind plötzlich in der Situation des Amokläufers. Dann tauchen sie wieder auf und ihnen ist klar, warum sich solche Menschen in eine irrsinnige Idee oder einen Hass verrannt haben. Es ist für mich wichtig, dass Jugendliche erkennen, dass jeder die Welt aus seiner Perspektive sieht. So könnte es beispielsweise gelingen, dass wir schon im Vorfeld verhindern, dass sich Menschen isoliert fühlen, sich in eine Scheinwelt flüchten und Gräueltaten begehen wie einen Amoklauf. Selbstmord – und der Amoklauf ist ja ein erweiterter Selbstmord – beginnt stets mit der Abwesenheit der anderen. Wir sollten also niemanden alleine lassen oder ihn durch Mobbing ausschließen. Wenn Sie mich eben nach Moral gefragt haben, dann ist das meine Moral.

Wichtig ist ja dann trotzdem der Schritt wieder zurück – das heißt, zuerst Mitgefühl zu haben, aber dann den Schritt zurück zu machen und das Ganze zu reflektieren?

Das stimmt, doch erstmal muss ich den Roman wirklich miterleben, ich muss eintauchen dürfen in diese Welt des anderen, um in der Realität früher einschreiten zu können, um überhaupt ein Gefühl für die Nöte solcher Menschen zu bekommen. Oft werden Romane im Unterricht sofort totinterpretiert, zersägt und zerschnitten. Wir dürfen den Roman nicht zum Sachbuch machen. Erst in einem zweiten Schritt bedarf es natürlich der Reflexion, gerade bei Themen wie Amoklauf oder Mobbing. Ich glaube, das gelingt den meisten Lehrern und Lehrerinnen gut. Wir sollten die Lehrer übrigens nicht unterschätzen, sondern sie eher stärken, wenn sie mal ein kritisches Thema im Unterricht machen und Lektüre dazu anschaffen.

Wie würden Sie dann einem Lehrer oder einer Lehrerin empfehlen einen Roman einzubinden? Viele Jugendliche lesen ja nicht gerade gerne und viel...

Gerade viele Jungs lesen nur noch unter Zwang im Unterricht, und da sollten wir es ihnen nicht vermiesen. Der Lehrer sollte die Jugendlichen grundsätzlich über den ersten Plotpoint hinweg lesen lassen, also jenem Punkt, wo das Hauptproblem der Geschichte schon klar ist – Ende der Einleitung, Anfang Hauptteil. Beispiel: Nach spätestens acht Minuten findet im TV-"Tatort“ der Kommissar stets die Leiche. Ab diesem Zeitpunkt fragt sich der Zuschauer: Wer ist der Mörder gewesen? Der Zuschauer identifiziert sich in diesem Moment mit dem Kommissar, der ja auch den Mörder sucht. Über diesen Punkt sollte der Leser beim ersten Lesen hinweg gelesen haben, damit er von der Story gepackt ist. Wenn die Jugendlichen vor diesem Punkt das Buch weglegen, dann nehmen sie es auch nicht mehr in die Hand. Und Lehrer sollten sich davor hüten, alles erklären zu wollen. Lehrer sollen den Schülern nicht das Denken abnehmen. Die Jugendlichen brauchen Raum zum Denken. Manchmal muss man keine Frage stellen, sondern den Menschen Zeit lassen. Leider sind viele Schüler so stark eingespannt, dass ihnen die Zeit zum Selbstdenken nicht mehr bleibt. Meine beiden größeren Töchter sind auf dem Gymnasium und sprechen hier von Bulimie-Lernen: Sie pauken wie verrückt für die nächste Klassenarbeit, schütten das Wissen aus, und dann haben sie es auch schon wieder vergessen. Sie haben gar keine Zeit sich die Dinge langsam anzueigenen.

Sie halten selbst viele Lesungen und Workshops an Schulen. Wie laufen die ab?

Die Lesungen sind stets ein Mix aus Lesung, Infos zum Thema und Einführung in die Struktur von Geschichten. Ich lasse mir bei solchen Lesungen gerne in die Karten schauen ... Die Lesungen und Schreibworkshops sind abhängig von Schulform und Alter der Schüler. Bei den Schreibworkshops versuche ich das Schreiben oft mit Musik oder Film zu verbinden. Ab und an erhalten die Schüler auch einen YouTube-Link und schreiben dazu, oder ich bringe Filme mit oder mache Aufnahmen in der Klasse und lasse die Schüler dazu schreiben. Es gibt aber auch Klassen, wo es kaum eines Anreizes bedarf – und die Schüler schreiben los, wenn sie nur eine Melodie hören oder wir kurz gemeinsam reden. Wichtig ist, dass sie Raum zur Entfaltung bekommen, ein bisschen Zeit. Ich will, dass sie selbst denken wollen. Und nicht nur konsumieren, seien es Fakten oder politische Ideen. Und dann schreiben und lesen sie ganz von allein und zeigen mir, was ich von ihnen lernen kann.


Das Interview führte Katharina Donath.

Fussnoten

Manfred Theisen wurde 1962 in Köln geboren, studierte Germanistik, Anglistik und Politologie. Er forschte zwei Jahre für das Deutsche Innenministerium in der Sowjetunion und arbeitete acht Jahre als Redakteur. Heute lebt er mit seiner Familie als freier Autor in Köln. Seine Romane wurden in mehrere Sprachen übersetzt, ausgezeichnet und auf die Empfehlungslisten der Rundfunkanstalten gesetzt.