In diesem Jahr (2011) jährt sich zum fünfzigsten Mal die Unterzeichnung des Anwerbeabkommens mit der Türkei. Bereits im Jahr 1955 hatte Deutschland ein solches Abkommen mit Italien, 1960 mit Spanien und Griechenland geschlossen. Diese Abkommen dienten dazu, ausländische Arbeitnehmer zur Arbeit in Deutschland zu gewinnen. "Gastarbeiter" war damals der gängige Terminus. Gedacht war daran, dass die Arbeitskräfte nur eine begrenzte Zeit in Deutschland bleiben und danach in ihre Heimatländer zurückkehren. Weitere Anwerbeabkommen wurden noch mit Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968) geschlossen.
Bis sich die Erkenntnis und vor allem die politische Anerkennung durchsetzte, dass Ausländer nicht nur befristet in Deutschland leben, sondern inzwischen hier ihren Lebensmittelpunkt haben, Deutschland also ein Einwanderungsland ist, hat es lange gedauert. Die erste rot-grüne Bundesregierung hat sich in der 14. Wahlperiode (1998-2002) die Zähne daran ausgebissen. Die von der ehemaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth geleitete Zuwanderungskommission in der 14. Wahlperiode leistete zwar eine hervorragende Arbeit, ihre Empfehlungen stießen in den danach stattfindenden politischen Beratungen aber so manches Mal auf harsche Kritik und zähen Widerstand.
Dennoch, spätestens seit dieser Zeit ist anerkannt, dass Deutschland nicht nur älter, sondern auch bunter wird. Die zuvor im Bundesministerium für Arbeit und Soziales angesiedelten Ausländerbeauftragten wurden zu Staatsministerinnen im Bundeskanzleramt und bekamen die Aufgabe, sich um die Integration der hier lebenden Migranten und Flüchtlinge zu kümmern. Dieses war und ist eine Aufwertung der Aufgabe und eine Anerkenntnis, dass Integration nicht von alleine gelingt.
Integration funktioniert vor allem deshalb nicht von allein, weil die in Deutschland West und in Deutschland Ost lebenden Ausländer über Jahrzehnte hinweg gar nicht integriert werden sollten. Ihr Aufenthaltstatus wurde als temporär angesehen und daher gehörte die Integration oder gar so etwas wie interkulturelle Bildung nicht zu den Kernaufgaben.
Einwanderungsgesellschaft
Die Migranten der deutschen Einwanderungsgesellschaft sind nicht allein so genannte Gastarbeiter, ihre Kinder und Kindeskinder. Ebenso dazu gehören Flüchtlinge und Asylsuchende, Spätaussiedler, ausländische Studierende sowie Menschen aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Zuwanderinnen und Zuwanderer können nicht über einen Kamm geschoren werden, sie haben sehr unterschiedliche Biografien, Ausbildungen, politische, gesellschaftliche und religiöse Prägungen. Insofern ist Integrationspolitik eine komplexe Aufgabe und mindestens ebenso herausfordernd ist die interkulturelle Bildung.
Das größte Problem der Diskussion um Zuwanderung und Integration ist, dass es in erster Linie eine Defizitdebatte ist. In den Blick genommen werden Defizite bei den Zuwanderern, hier werden besonders mangelnde Sprachkenntnisse in den Blick genommen sowie Defizite in der Mehrheitsgesellschaft und ihren Institutionen, die zu wenig auf die veränderte Bevölkerungszusammensetzung reagieren. Auch wenn es unbestritten notwendig ist, die Defizite zu benennen, verstellt diese Debatte oftmals die Chancen des Zusammenlebens, des gegenseitigen Kennenlernens und der Verständigung.
Interkulturelle Bildung
In seiner Stellungnahme "Interkulturelle Bildung – eine Chance für unsere Gesellschaft" aus dem Jahr 2007 plädiert der Deutsche Kulturrat für einen Perspektivenwechsel von der Defizit- zur Potenzialperspektive. Es wird unterstrichen, dass die interkulturelle Bildung das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen fördert. Interkulturelle Kompetenz wird in diesem Zusammenhang als Ziel der Allgemeinbildung verstanden und nicht allein den Künsten zugewiesen. In seiner Stellungnahme beschreibt der Deutsche Kulturrat interkulturelle Bildung so: "Interkulturelle Bildung ist auf der Seite des Individuums diejenige Fähigkeit, die die gesellschaftlich vorhandene kulturelle Vielfalt produktiv zu bewältigen gestattet. Zur politischen, juristischen und sozialen Dimension von kultureller Vielfalt kommt daher eine pädagogische Dimension. Sie ist insbesondere unverzichtbar für jedes Land, das wie Deutschland durch den internationalen Handel von Dienstleistungen und Gütern stark in den wirtschaftlichen Globalisierungsprozess eingebunden ist. Ziel ist daher auch, die Menschen in Deutschland so auszubilden, dass sie sich im Inland in internationalen Unternehmen bewähren, und im Ausland integrieren und dort erfolgversprechend arbeiten können."
Entscheidend ist dabei, dass interkulturelle Bildung nicht nur dazu dienen soll, den Zuwanderern die Integration in die Mehrheitsgesellschaft zu erleichtern, sondern vielmehr als eine permanente Aufgabe für jeden in einer globalisierten Welt betrachtet wird. Gerade daher wird die interkulturelle Bildung als eine gesamtgesellschaftliche Querschnittsaufgabe verortet. Eine Exportnation wie Deutschland ist in besonderer Weise darauf angewiesen, dass die Menschen interkulturell gebildet sind. Insofern ist interkulturelle Bildung auch nicht nur nachholende Integration sondern ebenso der Schlüssel für eine erfolgreiche Wirtschaft in der globalisierten Welt.
Interkulturelle Bildung im Kulturbereich
Die in der o.g. Stellungnahme formulierten Empfehlungen des Deutschen Kulturrats richten sich an die Kultureinrichtungen sowie Einrichtungen der kulturellen Bildung. Als außerschulische Einrichtungen werden sie aufgefordert, so attraktive Angebote zu unterbreiten, dass Kinder und Jugendliche aus allen sozialen Schichten und gesellschaftlichen Gruppen sich angesprochen fühlen. Die Politik wird in der Pflicht gesehen, ausreichend finanzielle Mittel bereit zu stellen, damit keine finanziellen Hürden bestehen, um solche Angebote zu besuchen.
Im Jahr 2009 führte der Deutsche Kulturrat im Rahmen seines Projektes "Strukturbedingungen für eine nachhaltige interkulturelle Bildung" eine Befragung seiner Mitglieder, also der Kulturverbände, durch. Gefragt wurde zum einen, inwieweit Migranten bzw. Migrantenvereinigungen zu den Mitgliedern der Bundeskulturverbände gehören und zum anderen welche Rolle das Thema interkulturelle Bildung in der Verbandsarbeit hat. Beispielhaft sei hier die Sektion "Rat für Soziokultur und kulturelle Bildung" des Deutschen Kulturrates genannt. Hier gaben alle Befragten an, sich mit dem Thema interkulturelle Bildung zu befassen. Die am häufigsten genannte Begründung hierfür ist die gesamtgesellschaftliche Bedeutung des Themas. Interkulturelle Fragestellungen werden bei Tagungen und Veranstaltungen behandelt, die Vorstände befassen sich damit und spezifische Projekte werden durchgeführt. Auf der Kulturverbandsebene ist das Thema, zumindest im Arbeitsfeld der kulturellen Bildung, angekommen.
Und auch in den Einrichtungen selbst spielt interkulturelle Bildung eine zunehmend wichtigere Rolle. Beispiele hierfür sind Modellvorhaben wie "Kunst-Code" der Jugendkunstschulen und kulturpädagogischen Einrichtungen. In diesem Projekt wurden Vorhaben der interkulturellen Bildung in Jugendkunstschulen und kulturpädagogischen Einrichtungen evaluiert. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Spiel + Theater hat in einem Projekt eine Bestandsaufnahme der Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund vorgelegt. Das Institut für Bildung und Kultur setzt einen Schwerpunkt im Bereich der Kulturarbeit mit älteren Menschen und hat hier das Vorhaben "Polyphonie: Stimmen der kulturellen Vielfalt" durchgeführt. Hier sollen kulturelle Begegnungen von Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte im Ruhrgebiet geschaffen werden. Aber auch die Bibliotheken sind beispielsweise bereits seit vielen Jahren ohne viel Aufhebens im Bereich der interkulturellen Bibliotheksarbeit aktiv. Sie halten Literatur zum Deutsch lernen ebenso bereit wie Ratgeber im Umgang mit deutschen Behörden sowie dem deutschen Recht. Ebenfalls wird fremdsprachige Literatur angeboten. In anderen künstlerischen Bereichen gibt es ebenfalls zahlreiche Beispiele einer selbstverständlichen interkulturellen Bildung. Zusammengestellt wurden Beispiele von der Bundesvereinigung für kulturelle Kinder- und Jugendbildung in der Publikation "Kulturelle Vielfalt erleben". Hier sind 21 Praxisbeispiele aus dem Bereich der internationalen Jugendbegegnungen versammelt. Im Buch "Kulturelle Vielfalt leben lernen", ebenfalls von der Bundesvereinigung für kulturelle Kinder- und Jugendbildung herausgegeben, werden Beispiele aus der Praxis interkultureller Arbeit in verschiedenen Projekten vorgestellt.
Interkulturelle Bildung in der Schule
Während außerschulische Kultur- und Bildungseinrichtungen mittels attraktiver Angebote um Teilnehmende werben müssen, ist der Schulbesuch für alle Kinder und Jugendlichen im Schulalter Pflicht. Die Schule bietet daher in besonderer Weise die Chance, Kinder und Jugendliche zu erreichen, die außerschulische Angebote nicht wahrnehmen. In der Schule werden alle Kinder und Jugendlichen erreicht.
Daher eignet sich die Schule besonders gut als Ort für Angebote interkultureller Bildung, die sowohl in den künstlerischen Schulfächern (Darstellendes Spiel, Kunst und Musik) aber auch darüber hinaus in anderen Fächern angesiedelt sein können. Dabei sollte insbesondere der Ethik- und Religionsunterricht zur Vermittlung interkultureller Bildung genutzt werden.
Die interkulturelle Schulentwicklung ist eine gemeinsame Aufgabe aller Lehrerinnen und Lehrer, der Erzieherinnen und Erzieher, der Schülerinnen und Schüler sowie der Eltern. Eine solche Schulentwicklung setzt eine entsprechende Aus- und Weiterbildung des pädagogischen Personals voraus.
Dialog mit Migrantenverbänden
Im Rahmen des bereits erwähnten Projektes "Strukturbedingungen für eine nachhaltige interkulturelle Bildung" hat der Deutsche Kulturrat einen Runden Tisch mit Migrantenorganisationen ins Leben gerufen. Dieser Runde Tisch hat sich im Jahr 2010 besonders mit Fragen der interkulturellen Bildung in Kindertageseinrichtungen sowie der Schule befasst. Gemeinsam mit Migrantenverbänden wurde die Stellungnahme "Lernorte interkultureller Bildung im vorschulischen und schulischen Kontext" verabschiedet.
Auch hier wird unterstrichen, dass es um die Entwicklung von interkulturellen Kompetenzen des pädagogischen Personals gehen muss. Darüber hinaus wird die Wertschätzung und gleichberechtigte Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Kulturen, Traditionen und künstlerischen Einflüssen der Zuwanderer eingefordert. Diese Vielfalt sollte sich auch in den Curricula widerspiegeln. Ein besonderes Augenmerk wird auf die Mehrsprachigkeit gerichtet. Mehrsprachigkeit der Kinder wird als Chance gesehen und ihre Förderung in Schulen und Kindertageseinrichtungen eingefordert.
Der bestehende Runde Tisch mit Migrantenorganisationen geht im Jahr 2011 in die zweite Runde und widmet sich aktuell der interkulturellen Bildung in Kultureinrichtungen sowie Einrichtungen der kulturellen Bildung. In der zweiten Jahreshälfte 2011 soll eine Stellungnahme mit Empfehlungen vorgelegt werden.
Paradigmenwechsel zur interkulturellen Bildung
Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft. Die deutsche Wirtschaft ist exportorientiert. Wer diese beiden Selbstverständlichkeiten ernst nimmt, kommt ebenso zum Schluss, dass interkulturelle Bildung eine Selbstverständlichkeit sein muss. Und zwar nicht, um Migranten etwas besonders Gutes tun zu wollen, sondern um unsere Gesellschaft zu gestalten, die sich durch kulturelle und religiöse Vielfalt auszeichnet und um weiterhin wirtschaftlich bestehen zu können.
Der Kulturbereich muss seinen spezifischen Beitrag leisten. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass Kultur sehr oft eher das Trennende und weniger das Verbindende beschreibt. Wer kulturelle Vielfalt will, muss auch das Trennende erhalten wollen, das ist auch Bestandteil der interkulturellen Bildung.