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Die andere Heimat

Merle Hilbk

/ 5 Minuten zu lesen

Vor über 250 Jahren wanderten deutsche Siedler an die Wolga aus. Sie gründeten Städte und Dörfer, bauten Höfe und Fabriken. Die meisten ihrer Nachkommen leben inzwischen wieder in Deutschland – weil sie in ihrer alten Heimat nicht mehr willkommen waren.

Die Siedlung Steckerau an der Wolga (heute Nowokamenka) 1920 (Bundesarchiv Bild 137-000471, Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc by-sa/3.0/de

Die Geschichte der Wolgadeutschen ist auch eine Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, für deren Zustand sie noch heute so etwas wie ein Seismograf ist.

Es war eine Deutsche, die Auswanderungswillige mit der Verheißung eines freieren, unabhängigeren Lebens aus dem kleinstaatlich zerstückelten Deutschland nach Russland lockte. Am 1. September 1745 hatte Prinzessin Sophia von Anhalt-Zerbst den Großfürst Peter Fjodorowitsch und späteren Zaren Peter III. geheiratet. Nach seinem Tod bestieg sie, die schon zu seinen Lebzeiten die russische Politik mitbestimmt hatte, 1762 als Katharina II. den Thron.

Nachdem die russische Armee die Tataren von der Wolga vertrieben hatte, warb sie in den deutschen Fürstentümern Auswanderungswillige an, um das Land dort zu besiedeln und den Boden landwirtschaftlich nutzbar zu machen.

1763 verabschiedete sie ein Einladungsmanifest, das in den deutschen Fürstentümern vor allem in Kirchen und über Zeitungen verbreitet wurde. Zudem wurden Anwerber ausgesandt, die den Interessenten verlockende Versprechungen machten: Besitz von Grund und Boden, finanzielle Starthilfe, Steuer- und Religionsfreiheit, Befreiung vom Militärdienst sowie das Recht, eigene Verwaltungen zu gründen. Russische Bauern kamen für die Besiedlung nicht in Frage, da sie zu dieser Zeit noch als Leibeigene im Eigentum ihrer adeligen Besitzer standen.

Die erste Auswanderungswelle betraf vor allem Dörfer in Rheinhessen und der Pfalz. In einer nächsten folgten Bayern, Badener, Elsässer, Mecklenburger, Schwaben, Sachsen, West- und Ostpreußen – und schließlich in Polen ansässige deutsche Siedler, so genannte Wolhynien-Deutsche.

Sie gingen, um der wirtschaftlichen Not, die durch den Siebenjährigen Krieg zusätzlich verstärkt worden war, sowie der erdrückenden Abgabenlast zu entgehen. Vor allem aber, weil es ihnen in ihren Heimatregionen verboten war, ihren jeweiligen Glauben zu leben.

Den Namen "Wolgadeutsche" erhielten die Auswanderer schließlich nach der Region, in der sie angesiedelt wurden: auf den Höhenzügen und an den Ufern der mittleren Wolga.

An der Wolga

Trotz der Schwierigkeiten, mit denen die ersten Siedler zu kämpfen hatten – das Klima war rau, der Boden mühsam urbar zu machen, die Tataren überfielen viele Dörfer – rollte 140 Jahre lang eine Einwanderungswelle nach der anderen aus Deutschland nach Russland.

Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden 104 deutsche Kolonien an der Wolga. 600.000 Deutsche lebten in den Rayons, den Gebieten zwischen Simbirsk, dem heutigen Uljanowsk im Norden, und dem 900 Kilometer südlich gelegenen Wolgograd. 800.000 weitere ließen sich in später erschlossenen Siedlungsgebieten im Kaukasus und am Schwarzen Meer nieder. Sie besaßen Bauernhöfe und Banken, Fabriken und Geschäfte. Sogar im Offizierscorps waren sie überproportional vertreten, obwohl sie bis 1874 von der Wehrpflicht befreit waren. Sie genossen einen Ruf als fleißige Arbeiter und gut ausgebildete Spezialisten, die erheblich zum wirtschaftlichen Aufschwung ihrer neuen Heimat beitrugen. Und sie galten als loyale Untertanen des Zaren. Sie waren Privilegierte, die im zaristischen Russland zu einer einflussreichen Gruppe aufstiegen.

1861 wurde in Russland die Leibeigenschaft abgeschafft. Doch die nun freien russischen Bauern erhielten nichts von dem Land, das sie bisher für ihre Herren bearbeitet hatten. Viele waren daher gezwungen, sich als Lohnarbeiter zu verdingen – auch bei den Deutschen. Gleichzeitig strömten immer noch Zuwanderer aus Deutschland ins Land, angelockt von den Privilegien – um die sie von den russischen Bauern beneidet wurden.

Um die Wogen dieses Neids zu glätten, schaffte Zar Alexander II. bald die meisten dieser Privilegien ab. Daraufhin beschlossen ein paar Tausend Wolgadeutsche, das Land gen USA und Südamerika zu verlassen; dorthin, wo man ihnen weiterhin Landgeschenke, Steuerfreiheit und die Befreiung vom Militärdienst bot.

Die Wolgarepublik

Die Siedlungen der Wolgadeutschen (Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc publicdomain/zero/1.0/deed.de

1922 wurde die Sowjetunion gegründet. Zwei Jahre später fügte der neue Machthaber Josef Stalin ihren 22 Republiken eine weitere hinzu: die "Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen", ein Gebiet, das von Saratow im Norden bis Stalingrad im Süden reichte.

Der Autonomiestatus freilich bot den dort lebenden Bauern keinen Schutz vor der Zwangskollektivierung, die Stalin in der Wolgarepublik mit besonderer Brutalität vorantrieb. Bauern, die sich der Enteignung widersetzten, wurden als Kulaken, Großbauern, beschimpft, verhaftet und in den hohen Norden verbannt.

So lagen in vielen Orten an der Wolga die Felder brach. Eine Hungersnot brach aus, die am heftigsten an der Wolga und in der Ukraine wütete, und mehrere Millionen Menschen das Leben kostete – das erste große kollektive Trauma in der wolgadeutschen Geschichte.

Die Vertreibung

Ein weiteres Trauma folgte 15 Jahre später, nach dem Überfall der deutschen Armee auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Am 28. August 1941 erklärte Stalin die in der Sowjetunion lebenden Deutschen pauschal zu Spionen und Kollaborateuren. Er ließ sie in die entlegensten Gebiete der Sowjetunion deportieren: nach Sibirien und Kasachstan, wo sie in der Interner Link: "Trudarmee" Zwangsarbeit leisten, den Steppenboden urbar machen, Straßen und Siedlungen bauen, in Bergwerksstollen und Chemiefabriken schuften mussten – nicht selten Seite an Seite mit deutschen Kriegsgefangenen. Dabei wurden Familien auseinandergerissen, Kinder sich selbst überlassen. Rabota raba hieß das: Sklavenarbeit.

Die "Sklaven" durften weder ihre Muttersprache sprechen noch ihre Traditionen pflegen, weder ihre Wohnorte verlassen noch auswandern. Regelmäßig mussten sie sich bei den Behörden melden. An vielen Deportationsorten gab es anfangs nicht einmal notdürftige Behausungen, so dass die Menschen, die mit Viehwaggons hierher transportiert wurden, Erdhöhlen zum Schlafen in den Boden gruben. Es gab keine medizinische Versorgung, die Lebensmittelrationen beschränkten sich auf ein paar Hundert Kalorien am Tag. Bis zu 700.000 – genaue Zahlen gibt es nicht – der verbannten Russlanddeutschen starben.

Die Überlebenden wurden von der einheimischen Bevölkerung als "Fritzen" und "Faschisti" beschimpft, viele Berufe und Studiengänge blieben ihnen verwehrt.

Über zwanzig Jahre lang unterstanden die Deutschen in Russland dieser Kommandatura genannten Sonderverwaltung. Aber auch nach deren Aufhebung und der formellen Rehabilitierung der deutschen Minderheiten 1964 durften die Verbannten nicht an die Wolga zurückkehren.

Aus Privilegierten waren Volksfeinde geworden, aus Wolga-, Schwarzmeer-, Ukraine- und Kaukasusdeutschen schlicht Russlanddeutsche; zu einer Volksgruppe erklärte Minderheiten, die eigentlich nur eines verband: eine gemeinsame Leidensgeschichte. Die Geschichte einer staatlich verordneten Ausgrenzung, eines Propagandakrieges, der lange nachwirkte.

Zu Zeiten der Perestroika wurden die meisten staatlichen Beschränkungen aufgehoben. Bestärkt durch das "Gesetz über die Rehabilitierung der repressierten Völker" schlossen sich Russlanddeutsche in Interessenverbänden zusammen, die sich vor allem für eine Rückkehr an die Wolga einsetzten. Doch die dortige Bevölkerung protestierte. Fotos zeigen, wie sie mit Schildern durch die Straßen zogen, auf denen "Lieber Aids als die deutsche Republik!" zu lesen war.

Keine Rückkehr

Nach dem Ende der Sowjetunion zerstörte der russische Präsident Boris Jelzin die letzten Hoffnungen der Wolgadeutschen auf eine Wiedererrichtung ihrer Republik, auf eine Entschädigung oder zumindest Anerkennung des erlittenen Leids. Er spottete, sie könnten diese doch auf dem Kapustin Jar gründen, dem Atomwaffentestgelände in der Nähe von Astrachan.

Als die Sowjetunion zerbrach, kehrten mehr als zwei Millionen in das Land zurück, aus dem ihre Vorfahren einst ausgewandert waren – und dessen Grundgesetz sie als "deutsche Volkszugehörige" betrachtete. Das verschaffte ihnen Anspruch auf einen deutschen Pass und die gleichen Rechte, die jeder Deutsche genießt. Einigen Einheimischen war das suspekt, denn die Rückkehrer sprachen Russisch, sangen russische Lieder, waren in russischen Organisationen sozialisiert worden. Und so wurden sie in Deutschland bald als die bezeichnet, die sie in Russland nicht sein durften: Russen. Eine Identitätsverwirrung, die viele als erneute Ablehnung empfanden.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Merle Hilbk, 45, ist Schriftstellerin und Reporterin mit Schwerpunkt Osteuropa. Vor zehn Jahren lernte sie den russlanddeutschen Teil ihrer Familie kennen. Davon erzählt sie in ihrem Buch "Chaussee der Enthusiasten". Externer Link: www.merle-hilbk.de