Anfängliche Erfolge
Der deutsche Aufmarschplan für die Westfront, der so genannte Schlieffenplan von 1905, sah vor, dass zwei deutsche Armeen von insgesamt über 350.000 Mann eine sichelförmige Bewegung um den Drehpunkt Köln-Aachen ausführen sollten. Innerhalb von vier Wochen sollten diese Riesenarmeen durch das neutrale Belgien und durch Nordfrankreich vorstoßen. Dabei sollte ihr rechter Flügel die französische Hauptstadt Paris umfassen.
Mit Kriegsbeginn am 4. August 1914 wurde dieser Plan zunächst exakt und auch sehr erfolgreich ausgeführt. Die beiden Flanken-Armeen unter Generaloberst von Kluck und General von Bülow stießen durch Belgien vor und hinterließen dabei eine Schneise der Verwüstung. Mehr noch: Gegen die Zivilbevölkerung wurden ungeheuerliche Verbrechen verübt. Der Widerstand der Belgier, den die Deutschen überhaupt nicht vorausgesehen hatten, betrachteten sie als einen quasi illegalen Krieg. Deutschland beschuldigte die Belgier, völkerrechtswidrig Zivilisten kämpfen zu lassen. Und diese vermeintlichen "Franc-Tireurs" (wie man sie noch aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870 in Erinnerung hatte) wurden unerbittlich hingerichtet, die betroffenen Ortschaften niedergebrannt. Insgesamt mehr als 6.500 Zivilisten sind diesem Wüten zum Opfer gefallen. Die Verbrechen in Belgien sind heute gut erforscht, dennoch fällt eine Erklärung schwer.
Trotz des erbitterten Widerstandes auch regulärer belgischer Bewaffneter kam der Vormarsch relativ gut voran. Die beiden deutschen Armeen waren schon in den letzten Augusttagen quasi in Sichtweite der Marne. Paris nach war nur noch 35 Kilometer entfernt.
Paris in Sichtweite
Da die Franzosen bei ihren sehr ungestümen Anfangsoffensiven im Elsass und in Lothringen schwere Verluste erlitten hatten und Ende August überall auf dem Rückzug waren, glaubte das deutsche Oberkommando, dem Wunsch der beiden Armeeführer nachkommen zu können, die Bewegung auf Paris zu und um Paris herum nicht fortzusetzen, sondern die vermeintlich fliehenden französischen Truppen geradewegs zu "verfolgen". Damit sollte ihnen der Gnadenstoß versetzt werden, wie es im militärischen Jargon hieß.
Am 2. September erteilte Helmuth von Moltke von seinem Hauptquartier in Luxemburg aus die Anordnung, die französischen Truppen in südöstlicher Richtung "von Paris abzudrängen". Der deutsche Generalstabschef forderte die Heerführer zwar auf, gestaffelt vorzugehen, so dass die 1. Armee den äußersten Flügel der 2. Armee abdeckte, aber das erschien den deutschen Generälen überflüssig. Sie wollten nun beide gleichermaßen auf Franzosenjagd gehen.
Da die 2. Armee unter Bülow am inneren Radius kürzere Wege zurückzulegen hatte, tat sich bald ein Spalt von 40 Kilometern Breite zwischen den beiden Armeen auf. In diesen drohten die Einheiten der "British Expeditionary Force" hineinzustoßen. Großbritannien hatte Deutschland nach dem Einmarsch in Belgien den Krieg erklärt. Schlimmer aber war, dass man auf deutscher Seite übersehen hatte, welche Gefahr von der Garnison Paris ausgehen konnte. Denn dort befanden sich 150.000 kampfbereite französische Soldaten, die unter ihrem Kommandanten Galliéni nur darauf warteten, die Deutschen angreifen zu können. Und diese Gefahr wurde um so größer, als die 1. Armee unter von Kluck, durch ihr Einschwenken nach links, nunmehr ihre ungeschützte Flanke dem Feind darbot – ein Wunschtraum für jeden Militärstrategen.
Kluck bemerkte diese Gefahr, von französischen Verbänden "flankiert" zu werden. Er bemühte sich, durch eine Art Drehbewegung seines Armeekorps von etwa 60.000 Mann, die Front gegen Paris wieder zu stabilisieren. Die Soldaten legten an einem einzigen Tag einen Strecke von 80 Kilometern durch das sumpfige Gelände am Ourcq-Fluss zurück – ein ungeheurer Marsch. Die Drehbewegung war sogar erfolgreich, aber dadurch wurde die ohnehin bestehende Kluft zwischen den beiden deutschen Angriffsarmeen noch erheblich erweitert, da Bülow von Klucks Not-Operation nichts mitbekam und sich auch nicht um Informationen gekümmert hatte.
All das wurde von Paris aus genau beobachtet, denn Aufklärungsflugzeuge lieferten neue Möglichkeiten der Feindbeobachtung und Schlachtenlenkung aus der Ferne. Die französische Armeeführung unter General Joffre, die es verstanden hatte, die anfänglichen katastrophalen Niederlagen nicht in eine allgemeine Flucht ausufern zu lassen, sondern in ein geordnete Rückzugsbewegung zu überführen, erkannte die neuen Möglichkeiten, die diese Situation bot. Joffre ließ eine neue Armee unter Führung des Generals Maunoury zusammenstellen, die aus den Truppen der Pariser Garnison und aus von Osten her herangeführten Einheiten bestand. 4.000 Mann wurden dabei auch mit beschlagnahmten Pariser Taxis an die Front gebracht, was in der französischen Erinnerung bis heute lebendig geblieben ist. Die "taxis de la Marne" sind ein starkes Symbol des gemeinsamen Widerstandes der Soldaten und der zivilen Welt gegen den eingedrungen Feind.
Der deutsche Rückzug
Es zeigte sich sehr bald, dass es den deutschen Armeen nicht gelang, angesichts der massiven Gefahr eines Durchbruchs durch die rechte Flanke eine neue gemeinsame Front zu bilden. Zu langsam erfolgte die Kommunikation zwischen den beiden Armeen, die eigentlich nicht von der Verfolgungsidee ablassen wollten. Zudem herrschte zwischen den beiden Armeeführern und ihren Stäben eine anhaltende Konkurrenz: Jeder wollte als erster die Franzosen "vernichten". Die Oberste Heeresleitung im Hauptquartier in Luxemburg erkannte die missliche Lage. Also entschied sich Generalstabschef von Moltke, einen mit Entscheidungen befugten persönlichen Gesandten, den Oberstleutnant Hentsch, zu den Armeeführern "vor Ort" zu schicken.
Hentsch suchte beide Heerführer getrennt voneinander auf und entschied schließlich, dass sich beide Armeen operativ auf den Aisne-Fluss zurückziehen sollten, da die Gefahr eines echten Durchbruchs der französischen und englischen Truppen inzwischen massiv war. Diese Rückzugsbewegung wurde ab dem 10. September 1914 auch ausgeführt. Gleichzeitig bewirkte der völlig unerwartete Rückzug zunächst eine große Enttäuschung und Ratlosigkeit in der deutschen Bevölkerung. Denn die Öffentlichkeit war über das Marne-Desaster genau informiert worden: Zu Beginn des Krieges war die Zeitungs-Zensur noch recht provisorisch.
Französisches Wunder, deutscher Rückzug
Auch die Berichte der Obersten Heeresleitung, die täglich publiziert wurden, waren noch offenherziger als in späteren Kriegszeiten. Nun müsse man halt "rückwärts zum Siege marschieren", folgerte die populäre Zeitschrift Das Kriegsecho. Und der Publizist Hermann Stegemann kritisierte in seinen weltweit beachteten Berichten in der Schweizer Zeitschrift Der Bund die mangelnde Führungskraft der Obersten Heeresleitung unter von Moltke. Diese habe es nicht verstanden, die vormarschierenden Armeen zu koordinieren. Auch sei es falsch gewesen, die Schlacht zu vermeiden und sich vorzeitig zurückzuziehen. In seiner höchst populären Geschichte des Krieges, deren erster Band bereits Anfang 1917 erschien, und die eine Auflage von mehr als einer halben Million erhielt, hat er diesen Vorwurf weiter ausgeführt. Das Pendant zum französischen "Wunder an der Marne" wurde in Deutschland der plötzliche Rückzug.
So wurde ab 1917 in der deutschen Öffentlichkeit und von Experten leidenschaftlich diskutiert, wer an diesem Rückzug Schuld gewesen sei. Jahrzehnte lang blieben von Moltke und Hentsch die schwarzen Schafe der nationalistischen deutschen Historiografie. Sogar von einer Verschwörung war die Rede und Ultra-Nationalisten wollten dann auch herausgefunden haben, dass Hentsch doch eigentlich ein Jude gewesen sei.
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