Überall Baustellen und Lärm
"Sprung über die Elbe?" Der alte Mann am nagelneuen Fähranleger der Ernst-August-Schleuse in Wilhelmsburg schiebt den "Elbsegler" auf den Hinterkopf und kratzt sich am Ohr. "Die Hamburger haben schon versucht, hier rüber zu springen, da waren wir noch preußisch. Als der Hamburger Hafen ausgebaut wurde, mussten unsere Leute hier weg, weil der Platz gebraucht wurde, und dann kamen die Nazis und haben uns kurzerhand eingemeindet." Er zieht die Mütze wieder in die Stirn und knurrt: "Aber vielleicht springt ja diesmal was raus für unsere Insel."
Was mag hinter dem für norddeutsche Verhältnisse geradezu temperamentvollen Ausbruch stecken? Warum löst das Reizwort "Sprung über die Elbe" solche Emotionen aus? Und wer wird davon profitieren, wenn die Elbe als trennende Linie zwischen Hamburg und seinem Stadtteil Wilhelmsburg überwunden wird? Die Hamburger? Oder die Wilhelmsburger?
Zunächst einmal: Es springt was raus beim Sprung über die Elbe. Wer sich dorthin begibt, wo Wilhelmsburg seit kurzem eine neue Mitte hat, ist überwältigt. Baustellenlärm und Betriebsamkeit sind verklungen, seit März 2013 läuft die Internationale Bauausstellung (IBA), seit April die Internationale Gartenausstellung (IGS) – und wie auf jeder Messe vermag sich kein Laie mehr vorzustellen, wie das hier noch wenige Tage vor der Eröffnung ausgesehen hat. Nur eines war auch da schon klar. Die
Hamburg holt sich, was ihm nützt
Die Beziehung zwischen den Hanseaten und der größten Flussinsel Europas war von jeher konfliktreich. "Wir halten es eher mit Harburg" hatte der Alte am Fähranleger im Weggehen noch gesagt. Warum wohl?
Mitte des 17. Jahrhunderts ließ Georg Wilhelm, Herzog von Braunschweig-Lüneburg, drei Inseln "zusammendeichen". So heißt das an der Küste. Er erklärte das neue Land zur Herrschaft Wilhelmsburg und schenkte es seiner Tochter Sophie Dorothea.Von ihr wissen wir wenig, dafür einiges von ihren Nachkommen: Ihr Sohn wird als King George II. England regieren, ein Enkel soll als Friedrich der Große ganz Preußen beherrschen.
Das neugeschaffene Wilhelmsburg gehörte ausdrücklich nicht zu Hamburg, sondern fortan zu Harburg und damit zum Königreich Hannover. Später wurde es zur Stadt Harburg-Wilhelmsburg und war also preußisch. Bis 1937 waren die Wilhelmsburger damit echte Preußen.
Erst durch das Groß-Hamburg-Gesetz wurden sie über Nacht zu Hamburgern gemacht. Die Nazis haben kurzerhand eingemeindet, was ihnen in Hamburgs Umgebung wirtschaftlich bedeutend erschien: Altona und Wandsbek, die, wie Hamburg selbst, nördlich der Elbe liegen, südlich der Elbe und der Elbinsel den von Hannover regierten Kreis Harburg-Wilhelmsburg.
Der gelernte Graben
Der Blick auf die Karte macht deutlich, warum die Hamburger die Spitze der Elbinsel schon im Mittelalter in ihren Besitz zu bringen trachteten. Hier teilt sich der Strom: Oben, Richtung Hamburg, die Norderelbe, unten, Richtung Harburg, die Süderelbe. Jahrhunderte lang hatte der Fluss dreiviertel seines Wassers unten bei den Harburgern vorbeigeschickt. Als den Hanseaten das nicht mehr passte, bauten auch sie einen Damm, um der preußischen Konkurrenz sozusagen das Wasser abzugraben. Und als die Industrialisierung immer mehr Gewinn und Wohlstand zu versprechen begann, der Hafen also immer wichtiger wurde, haben sie sogar ein Kriegsschiff an der Inselspitze stationiert, um den Kapitänen zu zeigen, wo’s lang geht.
Der Aufschwung im 19. Jahrhundert war gewaltig. Und er veränderte die ganze Region an der Elbe. Wie, das entschied Fritz Schumacher, der "liebe Gott der Planung", Hamburgs Oberbaudirektor vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts bis 1933. Er wollte für Hamburg den Hafen erweitern. Sein Prinzip: Auf der Geest wird gewohnt, in der Marsch wird gearbeitet. Marschland sei ungeeignet für den Wohnungsbau. Der sollte woanders stattfinden nach Schumachers Vorstellung. Also wurde Hamburg nach Norden hin erweitert. Der Süden und mit ihm die Elbinsel geriet aus dem Blick. Bei der IBA nennen sie das den "gelernten Graben". Fast das ganze 20. Jahrhundert hindurch wird er fest in den Köpfen sitzen – sehr zum Leidwesen der Insulaner.
Hamburgs Sintflut
In einer Februarnacht des Jahres 1962 kam die große Flut. Wassermassen rissen Fahrzeuge, Mauern und Buden weg, über 200 Wilhelmsburger ertranken. 8.000 Menschen wurden evakuiert und 20.000 obdachlos. Was tun?
Im Senat überlegte man ernsthaft, die Elbinsel als Wohnstandort ganz zu räumen und auf der gewonnen Fläche den Hafen zu erweitern. Zwar unterblieben solche radikalen Lösungen. Doch in der Folge blieben Investitionen aus, Firmen suchten sich neue Standorte und viele, die ihre Bleibe verloren hatten, wollten nicht mehr zurück. Der Graben wurde tiefer.
"Aber manche wollten wohnen bleiben und schafften das auch" sagt Hartmut Sauer, Rheinländer von Geburt und seit über dreißig Jahren Wilhelmsburger mit Leidenschaft. Fast ebenso lange ist er aktiv in Bürgerinitiativen am Ort, die die Hamburger Bürgermeister – gleich welcher Couleur – das Fürchten lehren.
Bürger begannen sich zu wehren, als ihr Stadtteil immer weiter zu verkommen drohte. In den Siebzigern verhinderten sie eine Trasse der Güterumgehungsbahn, die mitten durch die Insel gehen sollte. In den Achtzigern erzwangen sie, dass der Dioxinberg der Deponie Georgswerder saniert wurde. In den Neunzigern stritten sie so lange, bis die geplante Müllverbrennung nicht auf ihre Insel kam.
Was sie allerdings nicht schafften in all diesen Jahren, war, dass Hamburg seine Insel liebt. Dazu braucht es offenbar ein neues Jahrtausend.
Die Multikulti-Insel
Der Hafen trennt Hamburg von Wilhelmsburg. (© Inka Schwand)
Der Hafen trennt Hamburg von Wilhelmsburg. (© Inka Schwand)
Und es braucht Menschen wie Hartmut Sauer. Sauer kennt sie, die anderen Bilder von der Elbinsel: die reetgedeckten Bauernhäuser, denn Wilhelmsburg war einmal die Insel der Milchbauern, die ihre Produkte auch auf den Hamburger Märkten verkauften. Die alte Mühle, die ein Verein wieder zum Leben erweckt hat. Die Großsiedlung Kirchdorf-Süd aus den Siebziger Jahren, in der 5.700 Menschen leben. Die mit Stuck verzierten Jugendstilhäuser, in denen nach der Flut die "Gastarbeiter" wohnten, damals, als nichts saniert und nichts erneuert wurde. "Menschen mit Migrationshintergrund", wie man die neuen Nachbarn politisch korrekt nennt – obwohl das hier wie anderswo nicht sehr zugewandt klingt.
Menschen aus 40 Nationen. Wie ist das Miteinander auf der Elbinsel, wenn über die Hälfte der Bevölkerung diesen Migrationshintergrund hat? Die Antwort, sagt Sauer, ist wie das Zusammenleben selbst: vielfältig. Da sind die Nachfahren der türkischen Gastarbeiter, längst angekommen in ihrem Stadtteil, sie sind Hamburger mit türkischen Wurzeln. Verkaufen Gemüse, Obst und Fleisch, sind nicht wegzudenken aus dem Alltag einer Stadt. Sind integriert.
"So wie vor hundert Jahren die Leute aus Polen, die zu Tausenden als Arbeiter in die Wollkämmerei kamen, in die chemische, in die Ölindustrie" erzählt Hartmut Sauer. "Sie siedelten sich an um den Vogelhüttendeich." "Klein Warschau" hieß die Ecke früher bei den Wilhelmsburgern. Gleich darauf zeigt er auf einen Neubau an der Straßenecke: "Da drüben haben wir das erste interkulturelle Pflegeheim. Im Erdgeschoss ist ein Hamam."
Aber Wilhelmsburg ist nicht nur bunt, es kann auch rau sein. Die Marginalisierung und das Prekariat sind ebenso zu Hause auf der Elbinsel. Da gibt es die Schulen mit 90 Prozent türkischstämmigen Kindern, viel zu großen Klassen, zu wenig Lehrern, die inzwischen den Senat um Hilfe anrufen. Es gibt die Frauen, denen ihre Männer das Lernen verbieten und die doch so viele Fähigkeiten haben. Es gibt den bulgarischen Tagelöhner mit drei Euro Stundenlohn und Schlafplatz im Kellerverschlag, angeheuert auf offener Straße, für den Vermittler ist sein Profit steuer- und versicherungsfrei. "Arbeiterstrich" nennt das der Volksmund, jedenfalls der aufmerksame. Auch dagegen arbeiten Initiativen vor Ort, arbeitet ein rühriger Stadtteilbeirat, arbeitet der Verein Zukunft Elbinsel. Häufig geht es gegen die Stadtoberen, mitunter aber, und durchaus erfolgreich, auch mit ihnen zusammen.
Erst die Hafencity, dann Wilhelmsburg
Mit der Internationalen Bauausstellung 2013 bekommt die Hafencity, Hamburgs Hochglanzprojekt nördlich der Elbe, ein Pendant am südlichen Ufer. Und tatsächlich: Wilhelmsburg öffnet sich dem Sprung über die Elbe. Die Elbsinsel soll aufgewertet werden. Neue Bewohner bekommen. Die alten Bewohner sollen bleiben und nicht verdrängt werden. Seit einigen Jahren schon kommen Studierende, ziehen in die Gründerzeitvillen, in die alten Quartiere. "Studenten verändern den Ton", hat Hartmut Sauer beobachtet, "die bringen Schwung in Bürgerversammlung und Diskussionen." Da hat eine junge Portugiesin ein Café eröffnet, dort beziehen Modedesigner winzige Ateliers.
Es ist billiger als anderswo in Hamburg, und das, obwohl die City keine zehn S-Bahn-Minuten entfernt liegt. Die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt mit ihren 1.500 Beschäftigten wird in einen farbenprächtigen Neubau ziehen. Baugemeinschaften planen gemeinsam und bevölkern die ersten neuen Wohnhäuser. Eine Siedlung der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Saga wird energetisch aufgemöbelt. Neue Klinkerfassaden werden davorgesetzt, und, oh Wunder, die bisherigen Bewohner sollen nach der Sanierung die Mieten noch bezahlen können – rund fünf Euro pro Quadratmeter: Hier wird subventioniert wie wohl nirgends sonst in Hamburg.
Möglich macht es die IBA. Auf ihr Konto geht auch der mächtige Energiebunker, der das sanierte "Weltquartier" mit Heizung und Warmwasser versorgen wird – früher ein Flakbunker und ein schlimmes Betonärgernis, 40 Meter hoch. Ein Café auf dem Bunkerdach gewährt den Ausblick auf die neu entstehende Pracht.
Ungewisse Zukunft
Touristen im IBA-Besucherzentrum auf der Veddel beim Blick auf ein Modell der Elbinsel. (© Inka Schwand)
Touristen im IBA-Besucherzentrum auf der Veddel beim Blick auf ein Modell der Elbinsel. (© Inka Schwand)
Was der Blick von oben aber auch zeigt: Straßen, Bahntrassen und wieder Straßen durchschneiden und zerreißen die Insel. Schwerlaster wälzen sich über sie hin. Es gibt Kreuzungen, an denen der verängstigte Fußgänger überzeugt ist, der Verkehrsfluss sei das eigentliche Ziel der Raumplanung gewesen, die Wohnhäuser seien eher beiläufig an ihren Platz gerutscht. Was Wunder, dass darum gestritten wird.
Das unauflösbare Problem: Wilhelmsburg ist ein Transitraum, ist Brückenkopf für den gigantischen Wirtschaftsverkehr der Metropolregion Hamburg. Fast 10 Millionen Container werden hier umgeschlagen in guten Jahren. An die 50.000 Lastwagen und fast ebenso viele PKW täglich donnern über die Wilhelmsburger Reichsstraße. Die soll, so will es der Senat, in der Breite verdoppelt werden auf 28 Meter – eine regelrechte Autobahn, die dann direkt neben den Bahngeleisen verläuft. Eine Doppeltrasse in der Mitte der Elbinsel zwischen östlichen und westlichen Wohngebieten. Gemeingefährlich, weil ohne ausreichende Rettungswege, befürchten die besorgten Bürger. Was tun?
Klar ist: Die Interessen der Wirtschaft sind oft andere als die von Anwohnern. Beider Zustimmung liegt im Interesse der Stadt. Um den "gelernten Graben" zu überwinden, muss Hamburg den Kompromiss suchen. Denn dass Großbauvorhaben gegen den Willen der Anwohner kaum mehr durchsetzbar sind, wird anderenorts in der Republik gerade exerziert.
Klar ist aber auch: Der Sprung über die Elbe – er ist ein Sprung in die Zukunft der Elbinsel.