Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Erinnern an die Deutschen | Geschichte im Fluss. Flüsse als europäische Erinnerungsorte | bpb.de

Geschichte im Fluss Der Dnipro Nation Building am Dnipro Zivilgesellschaft im Fluss Am Rande des Imperiums Das linke Ufer Der Dnipro im Lauf der Geschichte Evros - Meriç - Maritsa An Europas Außengrenze Eine Brücke zwischen Orient und Okzident Plovdiv und die Maritsa In Enez Der Zaun am Fluss Der ungewöhnliche Fluss Die Wolga Auf der Wolga bis Astrachan Russlands mythischer Fluss Treidler an der Wolga Zurück an der Wolga Die andere Heimat Moskaus Weg zur Wolga Welterbe an der Wolga Ach, Germanski Chronologie Die Marne 1914 und 1918 Mit dem Taxi an die Marne Die Deutschen und die Marne Die Franzosen und die Marne Eine Reise entlang der Marne Die Kraft des Ortes Die Elbe Geschichtsraum Elbe Deutscher Fluss, tschechischer Fluss Theresienstadt sucht seine Zukunft Warum Friedrich II. Dresden zerstörte Erinnern an die Deutschen Literaturort Dömitzer Brücke Das Glück der Elbe Elbfahrt vor Erinnerungslandschaft Hamburgs Sprung über die Elbe Happy End an der Elbe Brücke oder Fähre? Die Erfindung der Elbe Auf dem Wasser in die Freiheit Chronologie Die Weichsel Die Deutschen an der Weichsel Fluss und Überfluss Wie ein Fluss zum Mythos wurde Quellen des Polentums Aus dem Weichseldelta Danzig und die Weichsel Danzig in der Literatur Wohlstandsgrenze Weichsel Warten auf die Metro Ein Fluss ohne Boden Eine Reise im Weichseldelta Die Weichsel im Lauf der Geschichte Die Donau Der Donau entkommt man nicht Das kurze Glück der Donauschwaben Meine Donau Brücken der Erinnerung Ein versunkenes Paradies Donauland Bosnien Die Brücke von Bratislava Vukovar und die Serben Der kroatische Kampf um Vukovar Ein Fluss und seine Stadt Die Donaubrücke zwischen Giurgiu und Ruse Elias Canetti und Ruse Ulmer Donaugeschichten Amazonas an der Donau Chronologie Die Oder Die Wiederentdeckung der Oder Ein Fluss auf der Suche nach sich selbst Das Wunder an der Oder Die Zukunft des Oderbruchs Auf der Suche nach dem Oderland Geteilte Dörfer Zwei Städte, ein Fluss Zeit für die Oder Weite und Wasser Breslau. Oder. Wrocław Schifffahrt ohne Grenzen Das Theater am Rand Mit alten Flößen in die Zukunft Stadt am Wasser Chronologie Der Rhein Historische Rheinkarte Die Rheinlandbesetzung Der Handelsstrom Der geopferte Rhein Deutscher Rhein, französischer Rhein Die Pariser Peripherie Europa aus Beton Das Tor zur Welt Straßburg entdeckt den Rhein Die Natur kehrt zurück Basel feiert den Rhein Chronologie Die Memel Vom weinenden Schwesterchen Strom der Erinnerung Stadt der zwei Namen Der Kampf um die Kirchen Palimpsest an der Memel Das Thomas-Mann-Haus in Nida Russlands Suche nach der Memel Mit der Memel in den Westen Chronologie Flüsse in der Geschichte Die besten Botschafter Europas Flüsse als europäische Erinnerungsorte Heimat Fluss Flüsse als religiöse Symbole Flüsse in den slawischen Literaturen Enzyklopädien des Lebens Flüsse als Wegmarken der Geschichte Kriegsflüsse, Friedensflüsse: das Beispiel Isonzo Links Literatur Herausgeber und Redaktion

Erinnern an die Deutschen

Kristina Kaiserová

/ 6 Minuten zu lesen

Seit der Wende ist in Ústí nad Labem die Geschichte von Aussig an der Elbe kein Tabu mehr. Mit dem Collegium Bohemicum soll es in der Elbestadt nun auch ein Museum geben, das sich der Geschichte der Deutschen in Böhmen widmet. Eine Bilanz.

Blick auf die Elbe in Ústí nad Labem/Aussig (© Inka Schwand)

Neuer Blick auf die Geschichte

In den letzten Jahren entstanden in Ústí nad Labem (Aussig an der Elbe) eine Reihe von Initiativen und Studien, die sich mit der Geschichte und Kultur der Deutschen in Böhmen, aber auch mit den tschechisch-deutschen Beziehungen in einem breiteren Kontext befassen. Gleich nach der Wende 1989 wurden diese Themen diskutiert. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Zusammenarbeit zwischen der Universität Jan Evangelista Purkyně (UJEP), dem Stadtmuseum und dem Stadtarchiv.

Ein wichtiges Ziel war es, den Bürgern von Ústí einen neuen, modernen Blick auf die Geschichte ihrer Stadt zu öffnen. Dazu dienten auch zahlreiche Ausstellungen, darunter auch die bereits 1991 mit deutschen Partnern kuratierte Schau Nordböhmische Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts, die nicht nur in Ústí nad Labem, sondern auch in München und Dresden gezeigt wurde.

Zu diesem neuen Blick auf die Geschichte der Stadt gehörten auch die Erinnerungen ehemaliger Bürger von Aussig. In Zusammenarbeit von Stadtarchiv und dem privaten Verlag albis international erschienen sie in einer Reihe, in der tschechische, deutsche und deutsch-jüdische Erinnerungen veröffentlicht wurden.

Einen entscheidenden Einfluss auf den Umgang mit Geschichte haben Denkmäler als Gedenk- und Erinnerungsorte, die zu unterschiedlichen Anlässen errichtet wurden. Viele davon wurden renoviert, einige erneuert.

In diesem Zusammenhang ist das Jahr 2005 wichtig. Durch die Initiative des damaligen Oberbürgermeisters Petr Gandalovič gelang es, eine ganze Reihe bedeutender Erinnerungsorte der neueren Geschichte zu errichten. Eine Erinnerungstafel an die Bombardierung der Stadt im Frühjahr 1945 durch die Amerikaner wurde angebracht, das Kriegsdenkmal der Roten Armee wurde renoviert. Die Einweihung der Gedenktafel zum Massaker vom 31. Juli 1945 auf der Beneš-Brücke wurde zu einem wichtigen Versöhnungszeichen sowie auch das Judenstern-Denkmal im Stadtpark, das mahnend an das tragische Schicksal ehemaliger jüdischen Mitbürger erinnern soll.

Die Deutschen in Böhmen

Gedenktafel an das Massaker von Aussig auf der Beneš-Brücke (© Inka Schwand)

Die Geschichte der Deutschen in den böhmischen Ländern stieß von Anfang an auf das Interesse der Historiker im ganzen Lande. Die Universität – hier vor allem das Institut für Slawisch-germanische Studien –, das Stadtmuseum und das Archiv der Stadt Aussig befassten sich in Zusammenarbeit mit in- und ausländischen Partnern mit diesem Thema. Seit 1992 finden regelmäßig Symposien statt, auf denen Forschungsergebnisse von zentralen und regionalen Institutionen unter der Teilnahme der Kollegen aus Deutschland und Österreich ausgewertet werden. Für die Bearbeitung der tschechisch-deutschen Fragestellungen gibt es auch öffentliche Gelder sowie die Möglichkeit, diese Ergebnisse in einer Reihe von Publikationen zu veröffentlichen.

Im Jahres 2004 wurde mit Unterstützung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds ein Projekt mit dem Titel "Forschungszentrum und Bibliothek für tschechisch-deutsche Beziehungen im Museums der Stadt Aussig" vollendet. Der umfangreiche historische Bücherbestand mit Regionalthemen, von denen ein wesentlicher Teil deutschsprachig ist und einen deutschen Ursprung hat, wird hier verwaltet und fortlaufend erweitert. Diese Bibliothek hat einen unersetzbaren historischen Wert für das Gebiet Nordwestböhmens und für die Geschichte der Deutschen in Böhmen

Die im Jahre 1999 gegründete Gesellschaft für Geschichte der Deutschen in Böhmen, sah es als ihre Aufgabe, eine gewisse "Inventur" der bisherigen wissenschaftlichen Tätigkeit zur Geschichte der böhmischen Deutschen durchzuführen. Das zeigte sich aber vom Forschungsaufwand als unrealisierbar. Deshalb engagierte sich die Gesellschaft in den folgenden Jahren bei der Gründung des Collegium Bohemicum, eines Landeszentrums für die Erforschung der Geschichte der Deutschen in den böhmischen Ländern.

Vergessene Helden

Da die Stadt Ústí nad Labem/Aussig in der Vorkriegszeit ein bedeutendes Zentrum der Arbeiterbewegung war, bestand auch Interesse, sich am folgenden Projekt zu beteiligen: Es handelte sich um die gerechte Bewertung der deutschen NS-Gegner in der damaligen Tschechoslowakei. Denn ein Teil der deutschsprachigen Bürger trat gegen Henlein und seine Sudetendeutsche Partei auf und war 1938, als die Tschechoslowakische Republik bedroht war, bereit, sie zu verteidigen. Auch während der Okkupation durch die Nationalsozialisten beteiligten sie sich hier im Lande und in der Emigration am Widerstand. Viele von ihnen wurden vom NS-Regime in Lagern inhaftiert oder hingerichtet. Größtenteils handelte es sich dabei um Sozialdemokraten und Kommunisten.

Café an der Elbe am Schreckensteiner Ufer in Ústí nad Labem. (© Inka Schwand)

Doch unter den deutschen NS-Gegnern waren auch nichtsozialistische und politisch nicht organisierte Bürger, wie zum Beispiel katholische Geistliche, die sich gegen das Nazi-Regime auflehnten. Sie erfuhren nach dem Krieg in der Regel nicht die verdiente Anerkennung. Im Gegenteil: Oft waren sie als Angehörige des "schuldig gewordenen" deutschen Volkes dem Hass der tschechischen Bevölkerung und erneuten Verfolgungen ausgesetzt. Deshalb gab im August 2005 die Regierung der Tschechischen Republik eine Erklärung heraus, in der sie den deutschen NS-Gegnern in der Tschechoslowakei hohe Anerkennung zollte und sich bei ihnen für erlittenes Leid entschuldigte.

Bestandteil dieser Regierungserklärung war auch die Bereitstellung finanzieller Mittel für das Projekt "Dokumentation der Schicksale aktiver NS-Gegner, die nach dem zweiten Weltkrieg von den in der Tschechoslowakei angewendeten Maßnahmen gegen die sog. feindliche Bevölkerung betroffen waren".

Hauptträger und Realisator des Projektes war das Institut für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik in enger Zusammenarbeit mit dem Museum der Stadt Ústí nad Labem und dem Nationalarchiv in Prag. Im Rahmen dieses Projekts fanden in Tschechien, in Deutschland und in weiteren Staaten Dutzende Interviews mit Zeitzeugen statt, bei denen Audio- und teilweise auch Videoaufzeichnungen angefertigt wurden. In tschechischen und ausländischen Archiven begann man mit umfangreichen Quellenstudien. Es entstand eine Datenbank deutscher NS-Gegner in der Tschechoslowakei.

Aus Projektmitteln wurden viele Publikationen, mehrere Dokumentarfilme, wissenschaftliche Konferenzen, Vorträge für die Öffentlichkeit und weitere Veranstaltungen gefördert. Dabei wird darauf geachtet, dass das Thema der deutschen NS-Gegner in der Tschechoslowakischen Republik in geeigneter Weise der Schuljugend vorgestellt wird, was ein Schulprogramm gewährleisten soll.

Zu den wichtigsten Ergebnissen des Projektes gehören Ausstellungen. Zuerst entstand eine kleine Informationsausstellung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, vor allem die Öffentlichkeit im Ausland mit der Erklärung der Regierung der Tschechischen Republik vertraut zu machen und Zeitzeugen der Ereignisse anzusprechen. Im Herbst 2007 fand in Ústí nad Labem die Vernissage zu einer großen Wanderausstellung statt, die bereits Teilergebnisse des laufenden Projektes vorstellen konnte. Diese Ausstellung durchreiste nicht nur die Tschechische Republik, sondern alle deutschsprachigen Länder.

Ein Vortrag zu diesem Thema wurde sogar in Südkorea gehalten. Der Höhepunkt der Ausstellungsaktivitäten bildete in den Jahren 2008–2011 die Dauerausstellung in Ústí nad Labem "Vergessene Helden". Im Rahmen des Projektes Collegium Bohemicum wird mit einer weiteren Präsentation gerechnet. Diese Ausstellung umfasste die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschungen und stellte diese der breiten Öffentlichkeit vor. Mit dieser Ausstellung wurde das von der tschechischen Regierung initiierte Forschungsprojekt abgeschlossen. Alle drei beteiligten Institutionen beschäftigen sich aber in weiteren Projekten mit dem Thema der deutschen NS-Gegner in den böhmischen Ländern.

Das Collegium Bohemicum

Parallel zu diesen Aktivitäten liefen die Vorbereitungen zur Gründung des Collegium Bohemicum, das in Tschechien landesweit tätig sein und sich dem Kulturerbe der deutschsprachigen Bevölkerung in den böhmischen Ländern widmen wird. Der eigentlichen Gründung gingen zwei große Tagungen voraus. Die erste Tagung mit dem Titel "Toleranz anstatt Intoleranz" (2004) hatte zum Ziel, die nötige politische Unterstützung auf der tschechischen wie auch auf deutschen Seite quer durch die Parteien zu sichern. Gleichzeitig diskutierten tschechische, deutsche und österreichische Historiker über die Konzeption der zu gründenden Institution.

Die zweite Konferenz sollte den Gründungsort, die Stadt Ústí nad Labem/Aussig, vorstellen. An dieser Konferenz (2005) mit dem Titel "Geist der Gründer (Industriegesellschaft und gesellschaftliche Emanzipation)" nahmen auch Nachkommen der ehemaligen Industriellen teil, etwa der Firmen Maresch und Seiche.

Die Organisation Collegium Bohemicum o.p.s. (gemeinnützige Gesellschaft) wurde zum Jahresende 2006 gegründet und ihre mehrjährige Vorbereitungsphase mit der Aufnahme ihrer vollen Tätigkeit im Sommer 2007 abgeschlossen. Daran waren folgende Institutionen beteiligt: Die Stadt Ústí nad Labem, das Stadtmuseum, die Jan Evangelista Purkyně Universität und die Gesellschaft für die Geschichte der Deutschen in Böhmen.

Der Marktplatz von Ústí ist im Krieg nicht zerstört worden. (© Inka Schwand)

Außer dem oben erwähnten Hauptziel sieht das Collegium Bohemicum weitere Aufgaben vor sich. So soll es künftig über ein eigenes Archiv, ein Museum, eine Bibliothek sowie Wissenschafts- und Bildungsstätten verfügen. Bei der Gründung der Institution waren die Prioritäten noch relativ offen, doch im Laufe der Zeit kristallisierte sich als Hauptziel das Museum heraus, also eine Dauerausstellung über die Geschichte der Deutschen in den böhmischen Ländern.

Eine Arbeitsgruppe von Fachleuten als kompetenter wissenschaftlicher Beirat bereitet die fachlichen Unterlagen für die Konzeption vor. Zur Zeit gilt es, neben einem transparenten architektonischen Wettbewerb Gelder für die geplante Ausstellung bereitzustellen. Die aktuelle Finanzkrise erleichtert diese große Aufgabe nicht. Nach dem Staatsbesuch von Prämier Petr Nečas in Bayern im März 2013, bei der auch die Erinnerungskulturproblematik besprochen wurde, scheint die Situation in einem positiveren Licht.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Kristina Kaiserová lehrt am Fachbereich Slawisch-germanische Studien an der Jan Evangelista Purkyně Universität in Ústí nad Labem. Sie ist Mitglied der deutsch-tschechischen Historikerkommission. Bis 2010 war sie im wissenschaftlichen Beirat der Stiftung Flucht, Vertreibung und Versöhnung.