Neuer Blick auf die Geschichte
In den letzten Jahren entstanden in Ústí nad Labem (Aussig an der Elbe) eine Reihe von Initiativen und Studien, die sich mit der Geschichte und Kultur der Deutschen in Böhmen, aber auch mit den tschechisch-deutschen Beziehungen in einem breiteren Kontext befassen. Gleich nach der Wende 1989 wurden diese Themen diskutiert. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Zusammenarbeit zwischen der Universität Jan Evangelista Purkyně (UJEP), dem Stadtmuseum und dem Stadtarchiv.
Ein wichtiges Ziel war es, den Bürgern von Ústí einen neuen, modernen Blick auf die Geschichte ihrer Stadt zu öffnen. Dazu dienten auch zahlreiche Ausstellungen, darunter auch die bereits 1991 mit deutschen Partnern kuratierte Schau Nordböhmische Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts, die nicht nur in Ústí nad Labem, sondern auch in München und Dresden gezeigt wurde.
Zu diesem neuen Blick auf die Geschichte der Stadt gehörten auch die Erinnerungen ehemaliger Bürger von Aussig. In Zusammenarbeit von Stadtarchiv und dem privaten Verlag albis international erschienen sie in einer Reihe, in der tschechische, deutsche und deutsch-jüdische Erinnerungen veröffentlicht wurden.
Einen entscheidenden Einfluss auf den Umgang mit Geschichte haben Denkmäler als Gedenk- und Erinnerungsorte, die zu unterschiedlichen Anlässen errichtet wurden. Viele davon wurden renoviert, einige erneuert.
In diesem Zusammenhang ist das Jahr 2005 wichtig. Durch die Initiative des damaligen Oberbürgermeisters Petr Gandalovič gelang es, eine ganze Reihe bedeutender Erinnerungsorte der neueren Geschichte zu errichten. Eine Erinnerungstafel an die Bombardierung der Stadt im Frühjahr 1945 durch die Amerikaner wurde angebracht, das Kriegsdenkmal der Roten Armee wurde renoviert. Die Einweihung der Gedenktafel zum Massaker vom 31. Juli 1945 auf der Beneš-Brücke wurde zu einem wichtigen Versöhnungszeichen sowie auch das Judenstern-Denkmal im Stadtpark, das mahnend an das tragische Schicksal ehemaliger jüdischen Mitbürger erinnern soll.
Die Deutschen in Böhmen
Die Geschichte der Deutschen in den böhmischen Ländern stieß von Anfang an auf das Interesse der Historiker im ganzen Lande. Die Universität – hier vor allem das Institut für Slawisch-germanische Studien –, das Stadtmuseum und das Archiv der Stadt Aussig befassten sich in Zusammenarbeit mit in- und ausländischen Partnern mit diesem Thema. Seit 1992 finden regelmäßig Symposien statt, auf denen Forschungsergebnisse von zentralen und regionalen Institutionen unter der Teilnahme der Kollegen aus Deutschland und Österreich ausgewertet werden. Für die Bearbeitung der tschechisch-deutschen Fragestellungen gibt es auch öffentliche Gelder sowie die Möglichkeit, diese Ergebnisse in einer Reihe von Publikationen zu veröffentlichen.
Im Jahres 2004 wurde mit Unterstützung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds ein Projekt mit dem Titel "Forschungszentrum und Bibliothek für tschechisch-deutsche Beziehungen im Museums der Stadt Aussig" vollendet. Der umfangreiche historische Bücherbestand mit Regionalthemen, von denen ein wesentlicher Teil deutschsprachig ist und einen deutschen Ursprung hat, wird hier verwaltet und fortlaufend erweitert. Diese Bibliothek hat einen unersetzbaren historischen Wert für das Gebiet Nordwestböhmens und für die Geschichte der Deutschen in Böhmen
Die im Jahre 1999 gegründete Gesellschaft für Geschichte der Deutschen in Böhmen, sah es als ihre Aufgabe, eine gewisse "Inventur" der bisherigen wissenschaftlichen Tätigkeit zur Geschichte der böhmischen Deutschen durchzuführen. Das zeigte sich aber vom Forschungsaufwand als unrealisierbar. Deshalb engagierte sich die Gesellschaft in den folgenden Jahren bei der Gründung des Collegium Bohemicum, eines Landeszentrums für die Erforschung der Geschichte der Deutschen in den böhmischen Ländern.
Vergessene Helden
Da die Stadt Ústí nad Labem/Aussig in der Vorkriegszeit ein bedeutendes Zentrum der Arbeiterbewegung war, bestand auch Interesse, sich am folgenden Projekt zu beteiligen: Es handelte sich um die gerechte Bewertung der deutschen NS-Gegner in der damaligen Tschechoslowakei. Denn ein Teil der deutschsprachigen Bürger trat gegen Henlein und seine Sudetendeutsche Partei auf und war 1938, als die Tschechoslowakische Republik bedroht war, bereit, sie zu verteidigen. Auch während der Okkupation durch die Nationalsozialisten beteiligten sie sich hier im Lande und in der Emigration am Widerstand. Viele von ihnen wurden vom NS-Regime in Lagern inhaftiert oder hingerichtet. Größtenteils handelte es sich dabei um Sozialdemokraten und Kommunisten.
Café an der Elbe am Schreckensteiner Ufer in Ústí nad Labem. (© Inka Schwand)
Café an der Elbe am Schreckensteiner Ufer in Ústí nad Labem. (© Inka Schwand)
Doch unter den deutschen NS-Gegnern waren auch nichtsozialistische und politisch nicht organisierte Bürger, wie zum Beispiel katholische Geistliche, die sich gegen das Nazi-Regime auflehnten. Sie erfuhren nach dem Krieg in der Regel nicht die verdiente Anerkennung. Im Gegenteil: Oft waren sie als Angehörige des "schuldig gewordenen" deutschen Volkes dem Hass der tschechischen Bevölkerung und erneuten Verfolgungen ausgesetzt. Deshalb gab im August 2005 die Regierung der Tschechischen Republik eine Erklärung heraus, in der sie den deutschen NS-Gegnern in der Tschechoslowakei hohe Anerkennung zollte und sich bei ihnen für erlittenes Leid entschuldigte.
Bestandteil dieser Regierungserklärung war auch die Bereitstellung finanzieller Mittel für das Projekt "Dokumentation der Schicksale aktiver NS-Gegner, die nach dem zweiten Weltkrieg von den in der Tschechoslowakei angewendeten Maßnahmen gegen die sog. feindliche Bevölkerung betroffen waren".
Hauptträger und Realisator des Projektes war das Institut für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik in enger Zusammenarbeit mit dem Museum der Stadt Ústí nad Labem und dem Nationalarchiv in Prag. Im Rahmen dieses Projekts fanden in Tschechien, in Deutschland und in weiteren Staaten Dutzende Interviews mit Zeitzeugen statt, bei denen Audio- und teilweise auch Videoaufzeichnungen angefertigt wurden. In tschechischen und ausländischen Archiven begann man mit umfangreichen Quellenstudien. Es entstand eine Datenbank deutscher NS-Gegner in der Tschechoslowakei.
Aus Projektmitteln wurden viele Publikationen, mehrere Dokumentarfilme, wissenschaftliche Konferenzen, Vorträge für die Öffentlichkeit und weitere Veranstaltungen gefördert. Dabei wird darauf geachtet, dass das Thema der deutschen NS-Gegner in der Tschechoslowakischen Republik in geeigneter Weise der Schuljugend vorgestellt wird, was ein Schulprogramm gewährleisten soll.
Zu den wichtigsten Ergebnissen des Projektes gehören Ausstellungen. Zuerst entstand eine kleine Informationsausstellung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, vor allem die Öffentlichkeit im Ausland mit der Erklärung der Regierung der Tschechischen Republik vertraut zu machen und Zeitzeugen der Ereignisse anzusprechen. Im Herbst 2007 fand in Ústí nad Labem die Vernissage zu einer großen Wanderausstellung statt, die bereits Teilergebnisse des laufenden Projektes vorstellen konnte. Diese Ausstellung durchreiste nicht nur die Tschechische Republik, sondern alle deutschsprachigen Länder.
Ein Vortrag zu diesem Thema wurde sogar in Südkorea gehalten. Der Höhepunkt der Ausstellungsaktivitäten bildete in den Jahren 2008–2011 die Dauerausstellung in Ústí nad Labem "Vergessene Helden". Im Rahmen des Projektes Collegium Bohemicum wird mit einer weiteren Präsentation gerechnet. Diese Ausstellung umfasste die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschungen und stellte diese der breiten Öffentlichkeit vor. Mit dieser Ausstellung wurde das von der tschechischen Regierung initiierte Forschungsprojekt abgeschlossen. Alle drei beteiligten Institutionen beschäftigen sich aber in weiteren Projekten mit dem Thema der deutschen NS-Gegner in den böhmischen Ländern.
Das Collegium Bohemicum
Parallel zu diesen Aktivitäten liefen die Vorbereitungen zur Gründung des Collegium Bohemicum, das in Tschechien landesweit tätig sein und sich dem Kulturerbe der deutschsprachigen Bevölkerung in den böhmischen Ländern widmen wird. Der eigentlichen Gründung gingen zwei große Tagungen voraus. Die erste Tagung mit dem Titel "Toleranz anstatt Intoleranz" (2004) hatte zum Ziel, die nötige politische Unterstützung auf der tschechischen wie auch auf deutschen Seite quer durch die Parteien zu sichern. Gleichzeitig diskutierten tschechische, deutsche und österreichische Historiker über die Konzeption der zu gründenden Institution.
Die zweite Konferenz sollte den Gründungsort, die Stadt Ústí nad Labem/Aussig, vorstellen. An dieser Konferenz (2005) mit dem Titel "Geist der Gründer (Industriegesellschaft und gesellschaftliche Emanzipation)" nahmen auch Nachkommen der ehemaligen Industriellen teil, etwa der Firmen Maresch und Seiche.
Die Organisation Collegium Bohemicum o.p.s. (gemeinnützige Gesellschaft) wurde zum Jahresende 2006 gegründet und ihre mehrjährige Vorbereitungsphase mit der Aufnahme ihrer vollen Tätigkeit im Sommer 2007 abgeschlossen. Daran waren folgende Institutionen beteiligt: Die Stadt Ústí nad Labem, das Stadtmuseum, die Jan Evangelista Purkyně Universität und die Gesellschaft für die Geschichte der Deutschen in Böhmen.
Der Marktplatz von Ústí ist im Krieg nicht zerstört worden. (© Inka Schwand)
Der Marktplatz von Ústí ist im Krieg nicht zerstört worden. (© Inka Schwand)
Außer dem oben erwähnten Hauptziel sieht das Collegium Bohemicum weitere Aufgaben vor sich. So soll es künftig über ein eigenes Archiv, ein Museum, eine Bibliothek sowie Wissenschafts- und Bildungsstätten verfügen. Bei der Gründung der Institution waren die Prioritäten noch relativ offen, doch im Laufe der Zeit kristallisierte sich als Hauptziel das Museum heraus, also eine Dauerausstellung über die Geschichte der Deutschen in den böhmischen Ländern.
Eine Arbeitsgruppe von Fachleuten als kompetenter wissenschaftlicher Beirat bereitet die fachlichen Unterlagen für die Konzeption vor. Zur Zeit gilt es, neben einem transparenten architektonischen Wettbewerb Gelder für die geplante Ausstellung bereitzustellen. Die aktuelle Finanzkrise erleichtert diese große Aufgabe nicht. Nach dem Staatsbesuch von Prämier Petr Nečas in Bayern im März 2013, bei der auch die Erinnerungskulturproblematik besprochen wurde, scheint die Situation in einem positiveren Licht.