Europäischer Flüsseolymp
Wenn die Deutschen über geschichtsmächtige Flüsse reden, dann nennen sie sofort den
Alle diese Metropolen sind römische Gründungen, haben im frühen Mittelalter ihre geschichtliche Rolle gefunden und bis tief in die Neuzeit hinein behauptet und auf dieser Basis auch in der modernen Welt einen angemessenen Platz gefunden.
In ihnen werden die alten Ordnungen des Reiches und der Kirche manifest; die Salier sind in den großen Domen von Speyer, Worms und Mainz präsent; der Schwerpunkt der staufischen Macht lag am Oberrhein; die rheinischen Erzbischöfe und der Pfalzgraf bei Rhein verkörperten das Reich auch noch, als sich der Schwerpunkt der Kaisermacht in den Osten, nach Böhmen und nach Österreich verlagert hatte. Die Donau, die von Raetien bis nach Moesien der Grenzfluss des Römischen Reiches gewesen war, wurde zur Hauptstraße der südostdeutschen Kolonisation und dann die Lebensader Österreichs, zuerst der babenbergischen, dann der habsburgischen Macht, die in der Zeit der Türkenkriege bis nach Belgrad vorstieß.
Das Bild rundet sich, wenn man die Ströme nicht isoliert, sondern das System der Nebenflüsse hinzunimmt: zum Rhein den Neckar, den Main, die Mosel und schließlich die Maas, zur Donau den Lech, die Isar und vor allem den Inn und später
Ein später Fluss
Wenn man mit einer solchen topographisch-historischen Sehweise – vom Rhein und von der Donau herkommend und in reichsgeschichtlichen und reichskirchengeschichtlichen Kategorien denkend – auf die Elbe zugeht, dann ist es leicht, sich die Andersartigkeit ihres geschichtlichen Schicksals bewusst zu machen.
Zunächst fehlt das römische Element. Nachdem das Weltreich seine Grenze an Rhein und Donau und dazwischen am Limes befestigt hatte, konnten seine kolonisatorischen und fortifikatorischen Normen an der EIbe nicht mehr wirksam werden. Auch die fränkische Großreichsbildung unter den Merowingern bezog den Elbraum nicht ein. Erst Karl der Große drang in der letzten Phase der Sachsenkriege nach Nordalbingien vor, entvölkerte es durch Deportationen, überließ weite Landstriche den slawischen Obotriten, legte befestigte Plätze gegen die Dänen an, trieb die Missionierung und die Kirchenorganisation voran. Noch unter seiner Regierung sind die erste Kirche in Hamburg und eine Burganlage in
Die Schwerpunktverlagerung innerhalb der deutschen und der europäischen Geschichte, die mit der Wahl des Sachsenherzogs Heinrich zum deutschen König 919 in Fritzlar eingeleitet wurde, bewirkte auch für den Raum der mittleren und der unteren Elbe eine epochale Zäsur. Mit seinem Vorstoß über den Strom in das das Land der slawischen Heveller deutet sich zum ersten Mal das Bemühen an, die Elbe nicht mehr nur als Grenzfluss zu interpretieren, sondern zu einem Rückgrat sächsischer Macht auszubauen. Die Burg von Meißen, die Heinrich 929 anlegen ließ, markiert den Erfolg von Heinrichs Bemühen, das Land der Sorben in den sächsischen Herrschaftsraum einzugliedern und sich für weitere Vorstöße nach Osten und Südosten eine sichere Basis zu schaffen.
Was unter Heinrich I. angelegt wurde, hat Otto I. durch Herrschaftsorganisation, Christianisierung und Kirchenorganisation zum Abschluss gebracht. Sowohl die mehrfach umgegliederten Marken wie der 967 errichtete Metropolitanverband von Magdeburg übergriffen den ganzen Elbraum samt den Flussgebieten der Saale, der Elster und der Havel.
Im 10. Jahrhundert also sind die Zentren aufgebaut und mit festen Funktionen versehen worden, in denen heute noch die Geschichtlichkeit der Flusslandschaft ihren monumentalen Ausdruck findet.
Die Elbe holt auf
Das hohe und späte Mittelalter hindurch und bis in die frühe Neuzeit hinein ist der untere und mittlere Elbraum von hoher territorialpolitischer Dynamik geprägt gewesen. An der Unterelbe machte der Slawenaufstand von 983 die Weichenstellungen Ottos des Großen zunichte und den Strom noch einmal zur Grenze. Erst Albrecht der Bär konnte seine Macht auf beiden Seiten der Elbe befestigen und damit den Grund des Landes Brandenburg legen. Die Folgen der Reformation haben es vermocht, auch das Erzstift Magdeburg in den Herrschaftsraum der Markgrafen einzubauen.
Weiter im Süden, von Wittenberg bis zum Gebirge, wurde die Elbe das Rückgrat der wettinischen Raumpolitik. Die Landesteilung von 1473 hat dann endgültig über den Ausbau der Residenzstädte Dresden und Wittenberg entschieden. Freilich hatten damals die Bürger längst an Einfluss auf die Stadtentwicklung gewonnen und ihren ökonomischen Aufstieg in der Stadtgestalt ablesbar gemacht. Die Anfänge dieser Entwicklung lassen sich in
Eine Frage der Perspektive
Schloss Kuks ist ein barockes Feuerwerk an der Elbe und erwacht langsam wieder zum Leben. (© Inka Schwand)
Schloss Kuks ist ein barockes Feuerwerk an der Elbe und erwacht langsam wieder zum Leben. (© Inka Schwand)
Diese Betrachtungsweise hat mehrere Mängel. Der entscheidende ist, dass sie dem Fluss als topographischer Einheit nicht gerecht wird, weil sie nur einen Teil, nämlich den zwischen Elbsandsteingebirge und Nordsee umfasst und den ganzen Oberlauf außer Acht lässt. Daraus folgt, dass man nicht nur von den Zusammenhängen der deutschen Geschichte, gewissermaßen von rheinischen Leitbildern her denken darf, wenn man das geschichtliche Profil der Elbe im Vergleich mit dem anderer Flussgebiete nachzeichnen will.
Zu den elementaren
Dieser Befund ergibt, dass man versuchen muss, die geschichtliche Rolle der Elbe nicht nur von Westen und Nordwesten, sondern auch von Südosten, von Böhmen her, zu verstehen.
Von Böhmen her denken
In der Tat fasst die Elbe, indem sie die Moldau und die Eger in sich aufnimmt, das ganze Böhmische Becken zu einem einheitlichen Flussgebiet zusammen. Merkwürdig bleibt, dass nicht eigentlich sie, sondern
Schon in frühgeschichtlicher Zeit hat das Elbtal als Verkehrsweg das Böhmische Becken mit den nördlich und den nordöstlich gelegenen Kulturräumen verbunden. Das lässt sich zum Beispiel aus der Ausbreitung der Lausitzer Kultur in der späten Bronzezeit schließen; nicht minder wichtig scheint die Rolle des Flusses ein Jahrtausend später bei der Landnahme der Markomannen und bei der Reichsbildung des Marbod gewesen zu sein. Diesen Verschiebungen im Machtgefüge galt der römische Vorstoß unter Drusus im Jahr 9 n. Chr., der bis an die Elbe führte. Dem Fluss entlang sind – wieder ein halbes Jahrtausend später – die Sorben von Böhmen aus nach Nordwesten gezogen und bis zur Magdeburger Börde vorgedrungen.
Selbstverständlich ist auch Böhmen in den Sog der Ostpolitik Karls des Großen gekommen; unter den fränkischen Heeren, die 806 und 807 das Land durchzogen, mag eines durch das Elbtal vorgestoßen sein. In der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts wird – von Regensburg als dem Machtzentrum des ostfränkischen Reiches aus – der bayerische Einfluss sichtbar. Noch 922 setzte Herzog Arnulf der Böse die Herrschaft des Hl. Wenzel durch; aber schon wenige Jahre später fügte dieser sich in das politische Konzept des deutschen Königs Heinrich I. ein und unterstellte sich dessen Oberhoheit.
Die Elbe behauptete – als natürliche Verbindung zwischen Sachsen und Böhmen – ihre historische Rolle; allerdings wurde sie nie die Hauptachse der böhmischen Außenbeziehungen. Regensburg und Nürnberg, Wien und Krakau überragten die Bedeutung der Elbstädte als Bezugspunkte der böhmischen Geschichte, und die Steige über das Gebirge, darunter der sorbische Steig bei Aussig, konkurrierten als Verkehrswege mit dem Fluss.
Besonderheit der böhmischen Städte
Anders als
Erst im Hochmittelalter hat der Landesausbau, den die Přemysliden planmäßig betrieben, den städtischen Siedlungen von Jaromer über Königgrätz, Kolin und Podiebrad, Melnik, Leitmeritz bis nach Aussig und Tetschen mit ihren großen Plätzen mit den Stadttürmen und gotischen Stadtkirchen das eigentümliche Profil gegeben.
Auch in Böhmen sind schließlich die Städte die wichtigsten Denkmäler geworden, die die geschichtliche Rolle des Flusses bezeugen. Zwar verdanken sie den ökonomischen Aufstieg und das Recht der Selbstverwaltung der Privilegierung durch den Landesherrn, aber in ihrer Baugestalt spiegeln sie in erster Linie die Grundformen bürgerlicher Lebensgestaltung wider: Markt und Handel, Handwerk und Gewerbe, Ratsverfassung und Stiftungswesen.
Der Fluss und seine Räume
Wenn der Historiker über die topographischen Grundlagen der Geschichte nachdenkt, lässt er sich gern faszinieren von der geschichtlichen Rolle von Gebirgszügen, Binnenmeeren, Flusssystemen. Sie strukturieren nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Prozesse wie Kolonisation, Herrschaftsbildung und Territorialisierung.
Aber das ist zu eng gegriffen, wenn man ausmessen will, was der Fluss, der Strom für seine Anwohner bedeutet. Er hat nicht nur die großen Entscheidungen mitbestimmt, die an seinen Ufern gefallen sind, er hat nicht nur Reichsgeschichte, Territoriengeschichte und Kirchengeschichte gemacht, sondern er ist seit der Urzeit für alle Menschen, die an ihm siedelten, ein Lebenselement gewesen. Sie holten aus ihm einen Teil ihrer Nahrung, sie bewegten sich auf ihm fort, sie machten ihn passierbar, sie schützten sich vor ihm, sie nützten seine Wasserkraft, sie taten ihm Gewalt an, wenn es ihren Zwecken diente, veränderten seinen Lauf, sperrten ihn in Schleusen und Kraftwerke ein,
Im Lauf der Jahrtausende war die Einwirkung der Menschen auf den Fluss immer durch die gleichen Motive bestimmt, durch Existenzsorgen, durch Furcht, durch Aufstiegswillen und Gewinnstreben. Die Anwohner haben sich einen Zugriff auf den Fluss geschaffen, soweit er selbst und soweit die Natur an seinen Ufern es ihnen erlaubten. So erklärt sich die Geschichte des Flusses aus den geologischen und morphologischen Bedingungen seiner Umwelt: aus den Felsgesteinen, die er durchbrach, aus den fruchtbaren Ackerböden, die er anschwemmte, aus der Gleichmäßigkeit seines Laufes und also aus der Schiffbarkeit, aus der dem von ihm eingeschlagenen Weg zum Tiefland und zum Meer.
Wenn man sie aus diesem Blickwinkel betrachtet, dann lässt sich die Geschichte des Flusses als ein Nebeneinander des Ungleichzeitigen auffassen, als Spiegel grundlegender menschlicher Bedürfnisse und Tätigkeiten: Der Einbaum kommt neben dem Lastkahn zu stehen, die Schiffsmühle neben dem Schwimmdock, die Furt neben der Eisenbahnbrücke.
Der Marktplatz von Wittenberg mit Luther und Melanchton. (© Inka Schwand)
Der Marktplatz von Wittenberg mit Luther und Melanchton. (© Inka Schwand)
Der Blick wandert von den Glasbläsern von Harrachsdorf zu den Porzellanformern von Meißen, von den Pferdezüchtern bei Kladrub zu den Weinbauern von Diesbar-Seußlitz und weiter zu den Walfängern von Glückstadt. In Kukus stößt man auf die Sporcks, in Raudnitz auf die Lobkowitz', in Schönhausen auf die Bismarcks. In Altbunzlau wird man den Hl. Wenzel gewahr, in Meißen den Hl. Benno, in Wittenberg Luther und Melanchthon, in Magdeburg den Hl. Norbert, in Hamburg den Hl. Ansgar.
Auch der wirtschaftliche Wandel setzt sich ins Bild: Steinbrüche, Kalköfen, Kohlehalden, Trockendocks. Die chemische Fabrik Aussig oder das Lauchhammerwerk Riesa stehen für die erste, das Atomkraftwerk Brokdorf steht für die zweite industrielle Revolution. Die Schrecken des Krieges und des Terrors werden bei der Beschießung von Magdeburg 1631 sichtbar, bei den jüdischen Häftlingen des Konzentrationslagers Theresienstadt, bei den Opfern der Dresdner Bombennacht vom 13./14. Februar 1945.
Die höfische Kultur, die Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen in Torgau, König August der Starke in Pillnitz, Fürst Franz von Anhalt-Dessau in Wörlitz entfaltet haben, kann solche Eindrücke nicht verwischen. Der Blick, der sich vom Fluss aus auf die Geschichte bietet, ist panoramatisch – er umfasst die Lebenswelt, soweit sie einen sichtbaren Niederschlag gefunden hat.
Die Elbe und die Religionen
Die geschichtliche Rolle der Elbe beschränkte sich auch in der Neuzeit nicht nur auf das Alltägliche und auf das Geschäftliche, erschöpfte sich weder in ökonomischen noch in ästhetischen Funktionen. Selbstverständlich war die
Das blieb so, weil der Griff der katholischen Liga nach der Elblinie scheiterte: Im Mal 1631 ließ Tilly Magdeburg erstürmen; einen Monat später gingen Sachsen und Schweden zusammen; im September dieses Jahres schlug König Gustav Adolf die Liga aus dem Feld und bahnte sich den Weg nach Süden. Mühelos lässt sich aufweisen, dass der Elbraum ein bevorzugtes Operationsfeld des deutschen Dualismus gewesen ist. Man braucht nur an seine Bedeutung für die Feldzüge Friedrichs des Großen zu erinnern, an die Einkesselung des sächsischen Heeres in Pirna, an die Niederlage der österreichischen Entsatztruppen bei Lobositz im Frühherbst 1756, an den für die preußische Armee katastrophalen Ausgang der Schlacht von Kolin im Juni 1757, an die Abwehr des österreichischen Vorstoßes bei Torgau 1760.
Auf dem Wiener Kongress hat Preußen auf Kosten von Sachsen seine Stellung an der mittleren Elbe ausgebaut, im Zollverein hat es im Elbsandsteingebirge eine Handelssehranke aufgerichtet und damit den oberen Elbraum abgekoppelt und die Weichen für die kleindeutsche Reichseinigung gestellt.
Dualismus an der Elbe
Auch die endgültige Entscheidung im Kampf der deutschen Großmächte gegeneinander ist an der Elbe gefallen; bei Königgrätz, wo die drei preußischen Armeen, die in Böhmen eingefallen waren (eine davon durch das Elbtal), zu einer Umfassungsschlacht zusammengeführt wurden und die Österreicher unter schweren Verlusten weichen mussten. Selbst die Ausgangslage im frühen und hohen Mittelalter, als die Elbe ein Grenzfluss und der ostelbische Raum Kolonisationsgebiet war, hat sowohl im Bereich der Sozialgeschichte wie im Bereich der Mentalitätsgeschichte lange Nachwirkungen gehabt. Noch im 19. und 20. Jahrhundert konnten die Westdeutschen und Süddeutschen das Gefühl einer gewissen Fremdheit nicht loswerden, wenn sie sich mit "Ostelbien" konfrontiert sahen. Dafür gibt es viele Belege. Man braucht nur an die Argumente der Rittergutsbesitzer denken, die gegen die Stein-Hardenbergschen Reformen mobilisiert wurden, oder an die politischen Grundsätze, mit denen sich die Rheinländer und Westfalen im preußischen Herrenhaus konfrontiert sahen, oder an die Opposition gegen die liberale Handelspolitik nach 1890 und an den "Bund der Landwirte" als deren Speerspitze.
Wie stark der Einfluss der west- und ostpreußischen Standesgenossen auf den greisen Reichspräsidenten Hindenburg war, darüber kann man vielleicht streiten, nicht aber über den beklemmenden Eindruck dieser Konstellation auf die deutsche Öffentlichkeit.
Im Kern war es immer die Furcht, dass die Junker mit ihrer Verbindung von speziellem, aus dem Großgrundbesitz resultierendem Wirtschaftsinteresse, ständisch geprägtem Selbstbewusstsein und unkontrolliertem Einfluss auf die Träger der Staatsmacht die soziale Ordnung aus der Balance bringen und die Gesellschaft von einer kleinen Clique abhängig machen würden.
Die nationalsozialistische Herrschaft, der Untergang Preußens, die deutsche Teilung und die Verlagerung des Schwerpunkts der deutschen Politik an den Rhein haben diesen Traditionsstrang abgeschnitten; aber es mag zu den mentalen Folgen der frühen Konfrontation gehören, wie problemlos sich viele Deutsche besonders im Westen und Süden damit abgefunden haben, dass nach 1945 die Elbe südöstlich von Hamburg noch einmal Grenzfluss wurde und dass flussaufwärts der Elbraum für mehr als 40 Jahre hinter dem Eisernen Vorhang verschwand.