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Elbfahrt vor Erinnerungslandschaft

Michael Bartsch

/ 12 Minuten zu lesen

Manchmal ist Schwärmen nicht verkehrt. Und auch nicht das Schwelgen in der Vergangenheit. Besonders wenn man auf einem alten Raddampfer der Dresdner Flotte unterwegs ist.

Ein historischer Raddampfer der Dresdner Flotte vor dem Terrassenufer. (X-Weinzar; Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc by-sa/3.0/de

Mählich-stoisches Vorwärtsschaufeln

Bei diesem Anblick verzeiht man der Stadt alle Fehltritte. Und ist ganz bei denen, die in Dresden zahlreicher und verbissener als anderswo die Zeit anhalten wollen. Denn hier am Terrassenufer scheint sie tatsächlich stehen geblieben zu sein. Zur Rechten die Brühlsche Terrasse, der Interner Link: Balkon Europas mit der eklektizistischen Kunstakademie, schon zu Lipsius´ Zeiten vor mehr als hundert Jahren ein Anachronismus. Zur Linken wie an einer Straße, eben der Bundeswasserstraße, geparkt jene einmalige Flotte, die ich unwillkürlich immer noch die "weiße" nennen will. Nicht minder zeitlose Schwimmzeugen, die längst Bestandteil eines feststehenden Ensembles geworden sind, das wiederum zum Kanon Dresdner Unverzichtbarkeiten gehört. So, als hätten sie sich seinerzeit vor Canalettos malerischem Blick lediglich hinter der Augustusbrücke versteckt.

Jeder Vergleich mit einem Yachthafen verbietet sich, der mit Venedig würde hinken. Es scheint, als sei die Bestimmung dieser Flotte, die sich zwecks Unterscheidung von anderen weißen nun die "Dresdner Flotte" nennt, zuerst eine dekorative in einer lieblichen und dennoch erhabenen Kulisse. Und sie bewegt sich doch! Man weiß es, aber nach Fahrplanschluss oder im Winter liegen die Schiffe brav hintereinander am Elbufer, Perlen der Beschaulichkeit aufgereiht an einer unsichtbaren Schnur. Wer sich in ihren Anblick verliebt hat, kann jeden Tag eine Flottenparade genießen, nicht nur zur Saisoneröffnung am 1. Mai oder beim Stadtfest.

Diese Dampfer lassen sich nicht auf ihre Funktion als Wasserfahrzeuge reduzieren. Sie sind auch nicht allein technische Denkmale, in denen sich eine ansonsten verschwundene Antriebsart behauptet. Sie sind wie der ruhende Stein im Hintergrund Zeugen, ja Instrumente der Entschleunigung. Wer sich dem exterritorialen Gebiet ihrer Planken anvertraut, verzichtet bewusst auf den kürzesten Weg zum Ziel und liefert sich dem mählich-stoischen Vorwärtsschaufeln der Ausflugsdampfer aus. Er erklärt überhaupt den Weg zum Ziel und denkt weniger an die Ankunft. Die Dresden oder die Leipzig sind schließlich keine Lastkähne.

Geschwindigkeit ist keine Kategorie auf Schiffen dieser Art, die vor allen Kulissen des Elbtals zwischen Diesbar und Bad Schandau eher zum statischen Accessoire der Postkartenansichten geraten. Die historische Flotte zeigt mit ihren orthogonalen Formen auch keinerlei Attribute der Geschwindigkeit oder weist mit konstruktiven Elementen auf etwa zu überwindende Widerstände hin. Insofern sind die streitbaren Neubauten August der Starke oder Gräfin Cosel ganz Kinder ihrer Zeit. Schräge Holme suggerieren Tempo, auf das es nicht ankommt, und ein schnittiger Bug kontrastiert mit der Gelassenheit der älteren Schwestern. Modernität scheint unvereinbar mit der schönen Zweckfreiheit, von der selbstverständlich auch das angebrochene neue Jahrhundert träumt. Insofern können die still vor sich hinschnaufenden Kleinodien aus dem späten 19. Jahrhundert gar nicht veralten.

Ich vermisse die alten Kästen

Im Winter aber hat der geneigte Elbschifffahrgast keine Wahl. Es dampft nicht, es dieselt nur zur Schlösserfahrt. Eine Fahrt, die im vorweihnachtlichen Frühwinter des Jahres 2010 von jedem Flussfahrzeug aus den mildesten Augentrost spenden muss. Das weiße Schneepuder, das sich über Wochen zu massivem Zuckerguss verdichtet hat, uniformiert die Landschaft keineswegs. Es betont vielmehr die Harmonie, in der sich das sanfte Tal und seine Bebauung wiegen. Mit Ausnahmen.

Die Cosel ist ein Neubau aus dem Jahre 1994. (Gunnar Richter/Namenlos.net; Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc by-sa/3.0/de

Hat man erst einmal seinen Aussichtsplatz auf der wohlgeheizten Gräfin Cosel gefunden und seinen Grog angeschlürft, schwindet auch die leichte Fremdheit, die sich beim Betreten der beiden Salonschiffe immer noch einstellt. Mittschiffs, wo bei den historischen Dampfern unter dem Kasten die Schaufelräder ins Wasser klatschen, empfängt den Gast eine geräumige und in ihrer Vornehmheit Distanz schaffende Lounge. Ein nobles schwimmendes Hotel, das den Gast überdies vor den rauen Einflüssen des Elbtal-Klimas weitgehend abschirmt. Fände nicht das Auge an den milden, später schroffen Hängen jenseits der Ufer seine Umarmung, das Gefühl der Sterilität schwände nie ganz.

Man vermisst die verbindende Enge der "alten Kästen", vermisst die Präsenz ihrer aufs Peinlichste gepflegten öffentlichen Antriebsaggregate. Wie die regelmäßigen Atemstöße bei einer Bergwanderung hört man die beiden Dampfzylinder ihre Arbeit verrichten, gutwillig, aber energisch, mit einer den menschlichen Bewegungsrhythmen sehr verwandten Frequenz. Die Kraft ist zu spüren, und das Feuer, das sie erzeugt, wird beim gelegentlichen Öffnen der Klappe sichtbar. Viele Fahrgäste genießen nicht nur die Gegend, sondern suchen diesen Blick ins Unterdeck bewusst, um angesichts dieser sinnlich-sympathischen und so gar nicht primitiven Maschine zu meditieren. Auf der Cosel hingegen bleibt die Maschine ganz und gar anonym. Nicht einmal das von Fähren oder Kreuzfahrtschiffen bekannte Vibrieren des Großdiesels ist zu spüren, wenn die Carolabrücke passiert ist und der Blick fragend hinüber zur Staatskanzlei schweift, ob denn der Herr Ministerpräsident in umgekehrter Richtung soeben auch Beruhigung und Erbauung beim Blick auf den Strom suche.

Stromaufwärts mit Senioren

Stromaufwärts folgt nach Albertbrücke und Flohmarkt-Ufer wenig Romantisches unter der Dominanz der Johannstädter Hochhäuser, so dass das Interesse kurzzeitig den Fahrgästen gelten kann. Wochentags um die Mittagszeit die üblichen Verdächtigen, Senioren also, die Gnade der rechtzeitigen Geburt genießend und ihre noch auskömmliche Rente in einer geselligen Flussfahrt anlegend. Sie ausgerechnet bringen ein wenig Hektik ins Bordrestaurant. Was ihnen trotz Gehhilfe an physischer Mobilität fehlt, kompensieren sie über ein hochmobiles Mundwerk und vorgetäuschte Geschäftigkeit. Keineswegs schweigend genießt auch eine Kategorie Fahrgäste, auf deren verspäteten Bus beim Ablegen noch gewartet wurde. Zum babylonischen Sprachgewirr der Holländer, Briten oder Franzosen fehlte noch die slawische Kompenente. "Wonderful", "Merveilleuse", "Prekraßno" demonstriert das Elbtal ausgerechnet in Sichtweite der nahenden Waldschlösschenbrücke seine Weltoffenheit.

Die Mitnahme von Rollstühlen, Fahrrädern oder Kinderwagen sei "eingeschränkt möglich", lautet eine Information. Anekdoten kommen in Erinnerung, wie eingeschränkt oder verblüffend uneingeschränkt die Mitnahme solcher Rollzeuge auf das gleitende Wasserfahrzeug sein kann. So mussten wir einmal im Gewitterregen schon am Blauen Wunder von Bord des Dampfers gehen, weil es nach Angaben des Schiffspersonals am Terrassenufer keine Möglichkeit gab, einen Kinder-Fahrradanhänger an Land zu bringen. Andererseits machten die Schiffsleute in Radebeul zu unserer Freude und zum Gaudi der übrigen Fahrgäste Unglaubliches möglich. Als 2007 unsere jährliche singende Vagantentour in Bauernkluft über den Elb-Weinwanderweg führte, hievten wir mit vereinten Kräften den "Leitkarren" und mehrere Handwagen auf das Hinterschiff. Auf dem Rückweg zum Ausgangspunkt Diesbar-Seußlitz bedankten wir uns auf dem Oberdeck mit Volksliedern und Instrumentaleinlagen.

Jenseits des gleichfalls mit manchen musikalischen Erinnerungen verbundenen Johannstädter Fährgartens steuert das Schiff auf die unvermeidliche neue Brücke zu. Sie duckt sich, als schäme sie sich, denn nun, da der Brückenzug am Waldschlösschen im Wesentlichen steht, erscheint er real noch ein bisschen hässlicher als imaginiert. Ein rohes Monument der Hybris, des Starrsinns und der Einfallslosigkeit. Ausdruck der dominierenden Einäugigkeit in dieser Stadt, der nicht nur an dieser exponierten Stelle das zweite Auge fehlt zu erkennen, was harmoniert und was nicht. Die nahenden Elbschlösser zur Linken versöhnen auf erlösende Art.

Griebel, das Original

Sprecher "Matz" Griebel und die Sächsische Dampfschifffahrt scheinen die unfreiwillige Ironie noch nicht bemerkt zu haben, wenn nun in Höhe der Saloppe der Kommentar aus der bordeigenen Tonkonserve einsetzt und verkündet, man habe eine "völlig intakte Flusslandschaft durchfahren". Vielleicht setzt deshalb Griebels Elbtal-Führung aus dem Lautsprecher auch erst nach Passieren der Waldschlösschenbrücke ein. Zumindest das Sächsisch dieses sächsischen Originals und langjährigen Stadtmuseumsdirektors ist völlig intakt und von jener bemühten Affektiertheit frei, die Bühnen- oder Filmauftritte anderen Sächsisch-Imitatoren abverlangen. Einen Grundkurs in Sächsischer Sprache streut Matthias Griebel auf sympathische Weise in die sachlichen Informationen ein, die Bauwerken und der vorüber gleitenden Landschaft gelten. Nicht nur der Tourist lernt etwas über die slawische Herkunft der Ortsnamen, die auf -witz oder -nitz enden. Auch die Eingeborenen wissen meist nicht mehr, dass ihre Bäbe, der beliebte Napf-Rührkuchen, von der Baba, der Großmutter, kommt. Das bestätigende, manchmal penetrante "nu" hängt mit dem tschechischen "ano" zusammen, und die "Hitsche" kennt der Schlesier als die "Ritsche".

Vor allem aber weckt die Stimme Matz Griebels in dieser Umgebung Erinnerungen an jene "Kulturfahrten" zu Wasser und zu Lande, die in den späten achtziger Jahren vom Dresdner Orgelbauer Kristian Wegscheider initiiert und organisiert wurden. Ich höre den backenbärtigen Barden gemeinsam mit Wasja Götze noch in einem der Salons unter Deck jene schlüpfrigen Lieder zur Klampfe schmettern, die mir ausgerechnet aus Studentengemeindekreisen wohlbekannt waren. 1987 hatte er durchaus glaubwürdig die Gestalt des vielfach imitierten starken Augusts angenommen, näherte sich in Pillnitz mit einem eigenen Schiff, um dann vom Balkon des Wasserpalais aus eine Rede zu halten, in der er letztlich einen Bastelbogen der Jungen Pioniere anpries. Ein Jahr zuvor war der omnipräsente August den Wasserfahrern schon einmal in Begleitung des Hofnarren Fröhlich und des legendären Geigers Pisendel erschienen, ausstaffiert vom Fundus der Semperoper.

Griebel war nur eines der Originale, einer der zahlreichen Typen, die sich auf dem Dampfer einfanden. Nicht alle kannten sich untereinander, aber einer gewissen Bohéme außerhalb der staatlich organisierten Kultur fühlten sich alle zugehörig. Und nicht alle wussten, mit welcher Mischung aus Witz und Dreistigkeit Kristian Wegscheider diese Fahrten überhaupt ermöglicht hatte. Seine Inspiration rührte tatsächlich von einem Schiff her, Fellinis Film "Schiff der Träume" nämlich. Aus zweiter Hand, denn im Original zu sehen bekam Wegscheider den Film in der DDR nicht. Aus erster Hand wiederum stammten seine Erfahrungen mit Dampferfahrten der feier- und faschingswütigen Studenten der Kunsthochschule.

Wie wir die weiße Flotte kaperten

Wie aber als Privatperson ein ganzes Schiff mieten, und sei es in friedlichster Absicht die zwischenzeitlich in "Weltfrieden" umbenannte "Pillnitz"? Wegscheider spielte sich ein bisschen in die Rolle des "Organisators einer Incognito-Kulturorganisation" hinein, wie er rückblickend scherzt. Und er spielte auf seine Weise mit dem "subjektiven Faktor" im System, mit dem Lavieren des an sich gutwilligen Subjekts in den Rastern des Apparats nämlich. Dem damaligen Chef der Weißen Flotte gegenüber trat er zunächst als ein Mann von der Komischen Oper Berlin auf, wo seine erste Frau Tänzerin war. Als der noch um eine amtliche Absicherung bat, beschaffte er sich beim Rat für Museumswesen im Ministerium für Kultur ein Schreiben, das die Fahrt einer Restauratorengruppe befürwortete. Zehn Restauratoren plus ungezählte Verwandtschaft, damit der Dampfer voll werde. Die Stasi kam zu spät dahinter.

Vier Fahrten gab es, die erste am Tag der Tschernobyl-Katastrophe 1986. Die zweite ein Jahr später bildete den Auftakt zu einer Fahrt mit der Weißeritztal-Kleinbahn am Folgetag, die ebenfalls unvergessen bleibt. An der Spechtritzmühle wurde ein Klavier in den Packwagen geladen. Dort gab´s Boogie-Woogie, in der Zugmitte spielte unsere Oldtime-Country-Band, im Salonwagen ein Streichquartett. In Obercarsdorf übefielen Indianer den Zug, und am Ziel in Kipsdorf tanzten wir auf Bahnsteigen und Gleisen zum Gebläse einer Feuerwehrkapelle. Diese "Kulturfahrten" kannten überhaupt nur Aktive und keine Konsumenten.

Im gleichen Jahr 1987 lud Wegscheider auch alle Orgelbauer der DDR auf einen Dampfer ein. Die eigentliche Sensation bestand in der Druckgenehmigung einschließlich Papierkontingent für eine vierzigseitige Broschüre, in der sich alle Firmen darstellen konnten. 1988 sollte es mit der überall dominierenden Farbe Lila und dem Lied von der "Lila Tilla" den sprichwörtlichen letzten Versuch geben. Danach wollte der Orgelbauer eigentlich in den Westen "abhauen". Trotz des frischen Gorbatschow-Windes und des spürbaren Aufbruchsgeistes eines bürgerschaftlichen Engagements, wie wir heute formulieren würden, der auch solche Privatfahrten auf der Elbe möglich machte. Wegscheider blieb und etablierte bald seine Firma in Hellerau. Geblieben sind Erinnerungen an heitere Kunst und selbstgemachten Jux auf höchstem Niveau. An eine Carmen-Parodie beispielsweise, die Wegscheider und die Altistin Britta Schwarz letztlich zusammenführte, an Peter Damm mit dem Alphorn, an ein Konzert unterwegs in der Wehlener Kirche, an Sinti-Swing auf dem Dampfer. Spätere Stars wie der Sänger René Pape oder der Dirigent Rainer Mühlbach brachten ihre außerordentlichen Fähigkeiten ein. Die Fahrtroute war wegen der Attraktionen am Ufer zeitlich sorgfältig geplant. "Nicht alle auf eine Seite – das Schaufelrad sitzt auf!" musste das Schiffspersonal deshalb die Schaulustigen auf dem Dampfer warnen.

Wer den Bogen über Jahrzehnte schlagen kann, sucht nach Konstanten. Das Blaue Wunder, unter dem die Cosel nun hindurchgleitet, assoziiert selbstverständlich "Blue Wonder", und von dieser neben den Elb Meadow Ramblers wohl dienstältesten Dresdner Jazzband ist es gedanklich nicht weit zu den nach wie vor stattfindenden Dixieland-Fahrten auf der Elbe. Die Reihe "Jazz auf der Elbe" entsprang einer studentischen Initiative zu einer Zeit, als der Jazz zwar nicht mehr als dem Sozialismus wesensfremd verteufelt wurde, aber immer noch als eine eher mäandernde denn linientreue musikalische Ausdrucksform galt. Hans-Peter Lühr erinnert daran, dass die Staatsmacht sogar hinter diesen Elbfahrten latente Aufsässigkeit vermutete. 1977 erlebte er bei der Ankunft einer dieser Fahrten am Terrassenufer, wie offensichtlich ein abschreckendes Exempel statuiert werden sollte. Polizei hatte mit Blaulicht an den Wagen die Straße abgesperrt und erwartete die Studenten. Vorwände für Festnahmen fanden sich dennoch nicht, weil der Bierhahn auf dem Dampfer schon in Pirna versiegte und sich jedermann soweit in der Gewalt hatte, um nicht auf Provokationen hereinzufallen. Erst später machte sich auf dem Rückmarsch in Höhe der Bautzner Straße die Wut mit einem Pfeifkonzert Luft.

Wiesen, Schlösser und Traktorenreifen

Schloss Pillnitz war das Wasserpalais der sächsischen Könige. (Kolossos; Externer Link: Wikimedia Commons) Lizenz: cc by-sa/3.0/de

Lange hat sich das Auge weiden können an den unversehrten Elbwiesen zur Rechten, auf denen nun im energischen Winter die Ski-Langläufer ihren Auslauf haben, und an der Harmonie von Hang und Bebauung zur Linken. Das Geschaffene im Respekt vor dem Vorgefundenen, eine selten gewordene Eintracht, und man begreift, warum diese Landschaft einmal dem Welterbe zugerechnet wurde und ihm im Grunde weiterhin angehört. Die singulären Punkte sind seit vielen Jahren vertraut, und so pendelt man sinnierend zwischen der aktiven Uferzone und dem schwimmenden Auge des Betrachters. Altwachwitz, Elbterrasse, Niederpoyritz. Das Tal weitet sich gen Hosterwitz, und nach dem Wasserwerk kommt das Kirchlein "Maria am Wasser" ins Blickfeld, das seit 2002 treffender "Maria am Hochwasser" heißen sollte.

Pillnitz ist der Wendepunkt der winterlichen Schlösserfahrt und zugleich Ort einer weiteren ganz persönlichen Erinnerung. Es war Ende der neunziger Jahre, als unser selbstgebautes Floß auf Traktorreifenbasis am Himmelfahrtstag hier von der Wasserpolizei endgültig aufgebracht wurde. Von Rathen heranströmend, waren schon vor Pirna Warnungen und Aufforderungen an uns ergangen, das Gefährt aus dem Wasser zu nehmen. Nun, kurz nach dem Wasserpalais, kreisten uns Beamte zu Wasser und zu Lande ein. Der Hinweis auf unsere nachweisliche Seetüchtigkeit im Vergleich zu zahlreichen Volltrunkenen auf allerdings zugelassenen Schlauchbooten blieb unerhört. Das Ermittlungsverfahren wegen unbefugten Benutzens einer Bundeswasserstraße wurde aber erwartungsgemäß nach wenigen Wochen eingestellt.

"Früher war das die Elbe, jetzt ist es eine Bundeswasserstraße", giftete ich damals unter Hinweis auf die allerorts kreativitätslähmende Verrechtlichung. Zwänge haben gewechselt, aber der Reiz der legalen Elbdampferei blieb unbeeinträchtigt. Geht es bei Wehlen in den großen Elbe-Doppelbogen, werden andere großartige Erinnerungen geweckt. Hier leerte sich einst in den sechziger und siebziger Jahren am ersten Juliwochenende schlagartig der Konzertdampfer "Dresden". Die da lärmend von Bord gingen, hatten in den Dresdner Studentengemeinden so etwas wie eine zweite Familie gefunden. In selbstverständlicher ökumenischer Eintracht – man war darin schon einmal weiter als heute – feierten wir den Semesterabschluss mit einer an Ritualen reichen Dampferfahrt.

Das Problem einer offiziellen Anmeldung oder gar eines Charterschiffes umgingen wir, indem Strohmänner und -frauen morgens unmittelbar nach Kassenöffnung kurzerhand bis zu 250 Karten aufkauften. Der 9-Uhr-Konzertdampfer sollte es schon sein, wir legten Wert auf die Blaskapelle Hans Knoderer. In deren Pausen sangen wir selbst oder schwangen erste Reden. Von Wehlen kraxelten wir in der Regel über den Steinernen Tisch und die Schwedenlöcher zum Amselsee bei Rathen. Den Tageshöhepunkt bildete dort die kultische Taufe der Sprecher und Vertrauensstudenten. Drei Jahre trat ich dort als Wiedertäufer auf, und die wahrscheinlich prominentesten der von mir Beredeten und Übergossenen waren der spätere sächsische Innenminister Horst Rasch oder der Thüringer Minister und Staatskanzleichef Klaus Zeh.

Weil einige dieser Teilnehmer als Philister in der Dresdner Akademikerseelsorge aktiv blieben, muss auch ein Akademikerfasching erwähnt werden, der zwar auf dem Festland stattfand, aber ganz in Elbschifffahrtsromantik schwelgte. Die Jahrestagstagskampagnen der DDR parodierend, zogen wir 1979 ganz groß den außerordentlichen 142. Jahrestag der Oberelbischen Dampfschiffahrt auf. "142 Jahre Auf und Ab", lautete das Motto im Ratskeller Alttrachau. Die Einladung gab das Königliche Schifffahrts-Privileg von 1836 wieder. Jeder Tisch bildete eine Schiffsbesatzung, Kapitänspatente konnten an Ort und Stelle erworben werden. Neben dem Jux vermittelten Beiträge auch viel Informatives zu den Anfängen der Elbschifffahrt im Industriezeitalter.

Andererseits bleibt eine Dampferfahrt immer auch eine individuelle Gelegenheit, innezuhalten, still zu werden, gar zu träumen. Es gelingt vor der aus dieser Perspektive so narbenfrei und geglättet erscheinenden Kulisse der Stadt ebenso wie mit dem Raunen der bewaldeten Hänge des Elbsandsteingebirges im Ohr. Einstimmung auf eine kontemplative Wandertour oder auf inspirierenden Weingenuss in einer der Straußwirtschaften zwischen den nahen Weinbergen. Das Ufer, das man rückkehrend wieder betritt, ist nach einer Flussfahrt nie dasselbe.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Michael Bartsch ist Journalist, Kabarettist und Musiker. Er lebt seit 1971 in Dresden und fühlt sich dort wohl. Der Text erschien erstmals in den Dresdener Heften 2011