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Eine Reise im Weichseldelta

Till Hein

/ 7 Minuten zu lesen

Im weitverzweigten Delta der Weichsel ist die Welt ein einziges Seerosenbeet. Die Zeit steht still, und Segelschiffe klettern auf Berge: Beste Voraussetzungen also, um auf einem Hausboot durch die Wildnis zu tuckern und den Alltag zu vergessen.

Natur pur: Das Delta der Weichsel in Nordostpolen. (© Marcus Franken)

Unsere Yacht

Sie ist acht Meter lang, schneeweiß und heißt "Stasia". An der Reeling der Zwerg-Yacht mit Außenbordmotor, um deren Bug sich sanfte Wellen kräuseln, hängt ein Rettungsring. Er ist so gut befestigt, dass wir Stunden bräuchten, um ihn los zu machen. Unter Deck gibt es: zwei Kochplatten, eine Eckbank mit Esstisch, einen Kühlschrank, Schlafkojen, eine Mini-Toilette. Gebadet wird im Fluss.

Die "Stasia" vor der Marienburg an der Nogat. (© Marcus Franken)

Die "Stasia" scheint wie gemacht für uns: fünf abenteuerlustige Landratten aus dem Westen, die auf der Weichsel Richtung Ostsee tuckern wollen. "Königin der Flüsse", wird sie in Polen genannt. "Die Weichsel ist der letzte wilde Strom Europas", schwärmt Jacek, ein feingliedriger Geschichtsstudent mit Dreitagebart, der im Nebenjob Hausboote vermietet. Dass wir keinen Motorboot-Führerschein haben, scheint kein Problem zu sein. "So was braucht in Polen doch kein Mensch", beruhigt uns Jacek.

Rybina, eine kleine Ortschaft an einem Seitenarm der Weichsel, 30 Kilometer östlich von Danzig, ist der Heimathafen unseres Traumschiffs. Unzählige Störche nisten auf den Dächern und Stromleitungsmasten. Rund 40.000 Brutpaare sind es in ganz Polen jedes Jahr, sagt Jacek und löst lässig das Tau, mit dem die "Stasia" an einem Pfeiler festgemacht ist. "Jeder vierte Storch der Welt brütet bei uns." Dann klettert er an Bord und lässt uns den Anker lichten: In einem Crash-Kurs will er uns reif für die Weichsel machen.

Jacek setzt sich ans Steuer und drückt den Gashebel durch, bis der Motor rattert wie ein Rasenmäher und das Boot übers Wasser zu fliegen scheint. Nach ein paar Kurven demonstriert er, wie man bremst, wie man den Rückwärtsgang einlegt – und wie man die Schiffsschraube säubert, wenn sich mal wieder Schlingpflanzen darin verfangen haben. "Alles Weitere steht da drin", sagt er, und überreicht uns einen dicken Ordner mit Seemannsknoten-Fibeln, Wasserkarten und Notruf-Telefonnummern. Lehrgang beendet. Jacek empfiehlt noch, erst einmal auf diesem Seitenarm der Weichsel Richtung Osten zu fahren: "Eine ideale Route für Anfänger." Er wünscht uns viel Glück – und schon tuckern wir los.

Tücken im Fluss

Hinter blühenden Seerosen und Schilf ragen an den Ufern Erlen und Weiden in den tiefblauen Himmel. Martin, im Alltag Musiker und Philosoph, hat sich ans Steuer gesetzt. Souverän wie ein alter Seebär drückt er den Hebel durch: volle Kraft voraus. Der Motor rattert, die "Stasia" flitzt übers Wasser, und im Nu sind die Dächer von Rybina am Horizont verschwunden.
Bald drosseln wir das Tempo, lassen uns von der Strömung treiben und genießen die Stille. Auf einer schwimmenden Insel, mitten im Fluss, brütet ein Seeschwalbenpärchen. Rote Bojen schwimmen in Ufernähe rechts auf dem Wasser, grüne auf der linken Seite, so wie es die Wasserverkehrsordnung vorschreibt. Alles scheint in bester Ordnung – bis der Motor erstmals abstirbt und wir die Schiffsschraube von Seerosen befreien müssen.

Größere Boote würden nicht überall durchkommen. (© Marcus Franken)

Auf einer der Wasserkarten hat Jacek mit Rotstift Markierungen eingetragen: Ein Ausrufezeichen bedeutet zum Beispiel "Vorsicht!", entnehmen wir in den Fußnoten. Sandbänke etwa, bei denen wir auf Grund laufen könnten. Wirklich gefährlich scheint die Tour aber nur bei Sturm und weiter westlich, auf der Weichsel selbst, zu sein.

Alle paar Stunden erreichen wir eine Schleuse. Wenn man ins Signalhorn bläst, erscheint ein Wärter, kassiert ein paar Złoty und öffnet mit einer Handkurbel gemächlich die Tore. Als sich die Sonne bereits senkt, sichten wir ein erstes Dorf. "Restauration von Hugo Neumann" lockt eine Aufschrift an einem Gehöft. Wir lechzen nach einem deftigen Schnitzel. In den Gärten vor den alten Holzhäusern wachsen mannshohe Blumen. Wäsche trocknet an langen Leinen. Ein Bauer schiebt seine Einkäufe aus dem Dorfladen in einer Schubkarre über den Uferweg nach Hause.

Unweit der Bootsanlegestelle sitzen auf einer Holzbank zwei Männer mit von der Sonne gegerbten Gesichtern. "Kneipe geschlossen", sagt Piotrek, der ein paar Brocken Deutsch beherrscht. "Hab mal Fenster montiert. In Mönchengladbach", erzählt er und zwinkert uns zu. "Schwarzarbeit. War gut." Aber hier sei er halt zu Hause. Jetzt arbeite er wieder als Lachsfischer, und ein Teil seines Fangs werde nach Deutschland exportiert, sagt er. "Auch gut." Wir braten in der Bordküche Piroggen und teilen unsere letzten Biere mit den beiden Fischern. Die Abenddämmerung färbt den Himmel violett, und bereits gegen zehn Uhr schnarchen wir erschöpft in unseren Kojen.

Ein Hahnenschrei reißt uns aus dem Schlaf. Als wir aus der Kajüte kriechen, hängt über uns ein wolkenloser Himmel, an dem sich in mattem Weiß noch der Mond abzeichnet. Es ist empfindlich kalt. Nach Morgenschwumm und Frühstück legen wir ab und erreichen bald das Hafengebiet der Stadt Elbląg. Arbeiter mit rußverschmierten Gesichtern schippen Briketts in rostige Lieferwagen. Hinter Lagerhäusern, von denen der Putz abblättert, erhebt sich der schlanke Backsteinturm der Nikolaikirche. Dann wird es brenzlig: Abgelenkt von Studentinnen im Minirock, die am Ufer picknicken, setzen wir die "Stasia" um ein Haar gegen einen Brückenpfeiler.

Wenige Kilometer hinter Elbląg öffnet sich der Fluss in ein riesiges Gewässer: den Jezioro Drużno (Drausensee). Das Geschnatter von Schwänen, Wildgänsen, Haubentauchern erfüllt die Luft. Überall wuchert Schilf, blühen Seerosen und geheimnisvolle Schlingpflanzen. Graureiher und weiße Ibisse lauern in Ufernähe auf Beute, am Himmel zieht ein Adler seine Kreise. Mitten in diesem Naturparadies schalten wir den Motor aus und lassen uns in die Fluten gleiten, plantschen zwischen Entenfamilien und Schwänen umher.

Wie bei Werner Herzog

Stunden später schippern wir weiter. Östlich des Sees schützen Deiche das Hinterland vor Überflutung. Die Wiesen und Felder liegen tiefer als der Wasserpegel des Flusses: Es sind Polder nach holländischem Vorbild. Im 16. Jahrhundert siedelten sich Mennoniten aus den Niederlanden hier an. Sie entwässerten das sumpfige Land, hoben Kanäle aus und errichteten Windmühlen. Bald wurde die topfebene Gegend "Klein Holland" genannt. Die Holländer sind längst weiter gezogen; die Landschaft aber sieht noch immer aus, wie sie vor einem halben Jahrtausend kultiviert wurde. Irgendwann, längst haben wir jedes Zeitgefühl verloren, zeichnen sich am Horizont Hügel ab. Die Wälder am Ufer werden dichter, bis uns schließlich das Gefühl beschleicht, dass wir uns auf den Amazonas verirrt haben. Dann, nach einer Windung des Flusses, reißt das Blätterdach plötzlich auf – und wir werden Zeugen eines bizarren Schauspiels: Wenige hundert Meter vor uns klettert ein Schiff einen Berg hinauf – wie im Werner-Herzog-Film "Fitzcarraldo".

Als wir näher heran fahren, löst sich das Rätsel auf: Die Yacht am Berg hat kein Wasser unterm Kiel. Ihr Rumpf liegt auf einem flachen Wagen, der auf Schienen bergauf rollt. Dicke Stahlseile, von der Strömung des Flusses angetrieben, ziehen Wagen und Schiff den Abhang hinauf.
Zbigniew ist der Boss hier. Der Riese mit dem imposantem Schnauzer lehnt in seiner blauen Uniform oben auf dem Hügel an einem Baum. "Die Maschine ist sehr alt", sagt er stolz. "Etwa 140 Jahre." Etwas weiter östlich gebe es noch vier weitere solche Anlagen. 30 gewöhnliche Schleusen hätte man bauen müssen, um die mehr als 100 Meter Höhendifferenz zur Eylauer Seenplatte zu bewältigen: "Völlig unbezahlbar." Daher haben findige Ingenieure diese Spezial-Lifte entwickelt: ein Unikum – weltweit.

Die "Stasia" lassen wir nicht den Berg hinauf ziehen. Denn unser Abenteuer als Binnenschiffer neigt sich dem Ende zu, und wir wollen ja noch die Weichsel erobern. Martin wendet das Boot, und wir rattern Richtung Westen, wo die Königin der Flüsse auf uns wartet. Als wir an der Marienburg, der größten Backsteinburg Europas, vorbei ziehen, staut sich der Verkehr auf der Uferstraße kilometerweit. Wir hingegen genießen die Freiheit auf dem Wasser und flitzen weiter Richtung Westen.

Die Brücke von Tczew (Dirschau) ist ein technisches Denkmal. (© Marcus Franken)

Am letzten Tag der Tour wagen wir uns schließlich auf die Weichsel hinaus: diesen gigantischen, mehr als Tausend Kilometer langen Strom. 500 Meter breit ist er, Sandbänke machen das Navigieren zum Abenteuer. Ein Baggerschiff schaufelt Sand aus dem Flussbett. Sonst gehört uns der mächtige Strom ganz allein. Seit den 1970er Jahren sind auf der Weichsel kaum mehr Lastschiffe unterwegs. Autobahnen haben ihr den Rang abgelaufen. Jetzt ist die Königin der Flüsse vor allem ein Paradies für seltene Pflanzen und Wasservögel.

Die Strömung treibt die "Stasia" Richtung Ostsee. Wie auf Luftkissen schießen wir dahin. Dann kommt vom Meer her plötzlich Wind auf und treibt über unseren Köpfen schwarze Wolken zusammen. Es riecht nach Regen. Wellen schütteln die Yacht durch, als wolle sich eine gewaltige Raubkatze eine Laus aus dem Pelz schütteln. Sollen wir den Rettungsring losknoten? Sollen wir Jazek anrufen? Oder sind wir bereits verloren? "Du kannst den Lauf der Weichsel nicht ändern, in dem du mit einem Stock in ihrem Wasser rührst", lautet ein polnisches Sprichwort.

Regentropfen prasseln auf uns nieder. Martin kneift am Steuer die Augen zusammen und versucht, einen Punkt am Horizont zu fixieren, um den Kurs zu halten. Ein Blitz zuckt über den Himmel, krachend entlädt sich der Donner. Die Wellen werden immer höher. Der letzte wilde Strom Europas droht uns zu verschlingen. Doch unser Steuermann tuckert todesmutig mitten durch den Sturm. Nur noch zehn Kilometer bis zur rettenden Abzweigung nach Rybina.

Falls alles gut ausgeht, kommen wir nächstes Jahr wieder und fahren mit der "Stasia" die Berge hoch.

Fussnoten

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Till Hein ist 1969 in Salzburg geboren und wuchs in der Schweiz auf. Er ist freier Journalist und Autor und lebt in Berlin. Zuletzt veröffentlichte er im Bebra-Verlag das Buch Der Kreuzberg ruft.