Friedlich grast an diesem frühen Sommermorgen die Herde Wildpferde auf dem rauen, von vielen Trampelpfaden durchzogenem Terrain. Fohlen ruhen ausgestreckt auf der würzig riechenden Wiese, Stuten rupfen Gräser, der Leithengst nimmt ein Sandbad. Ausgiebig rollt er seinen wohlgenährten, kräftigen Körper hin und her. Anschließend schüttelt er den Staub energisch aus der langen, zottigen Mähne. Sechs junge Hengste weiden abseits der Herde, der Leithengst hat sie aus dem Familienverband verdrängt. Und er behält seine Konkurrenten im Blick. Den Stuten des Harems dürfen sie nicht zu nahe kommen.
Die Natur kehrt zurück
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Der Rhein in den Niederlanden war lange Zeit von der Industrie geprägt. Doch seit 1995 können Waal und Nederrijn bei Nijmegen und Arnhem wieder die Ufer überschwemmen. Nicht nur die Wildnis kehrt seitdem wieder zurück. Die "neue Natur" entwickelt sich auch zum Publikumsmagneten.
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Das Terrain der Wildpferde ist eine raue Landschaft entlang der Waal, dem Hauptarm des Rheins in den Niederlanden. Weiden krallen sich an den hohen Ufern fest, der Boden ist uneben mit Senken und Tümpeln, das Gestrüpp aus Weißdorn und Brombeeren ist undurchdringlich. In der Ferne begrenzt der massive Deich der Waal dieses Stück Wildnis. Die Wildpferde stehen in einem Blütenmeer aus Sonnengelb und Weiß, in dem sattgrünen Futter der Aue, die in der Millingerwaard das Ufer der Waal säumt.
Ehemalige Industrielandschaft
Wo heute Wildpferde herumstreifen, waren früher landwirtschaftlich genutzte Flächen und eine Backsteinfabrik. Der verbliebene Schornstein des Brennofens am Horizont erinnert noch an die Phase intensiver Nutzung des Schwemmlandes. Aus diesem Gebiet hinter dem Deich haben sich die Niederländer seit 1995 weitestgehend zurückgezogen. Sie gaben dem Fluss Schwemmland zurück. Und schauen seither zu, was geschieht, wenn die Natur zu Werke geht und ein großer Strom seine Ufer wieder selber gestaltet.
Wer durch die 700 Hektar große Milllingerwaard streift, 400 davon sind Grasland, und einem der unzähligen Trampelpfade oder den markierten Wanderwegen folgt, bewegt sich durch eine Landschaft mit kleinen Mosaiken aus Auenwald, Busch, Grasland, Tümpeln und Seen. Und sieht, was ein Fluss herstellt in 16 Jahren.
Für die Nacktheit des verengten Rheinufers unterhalb Bingen erhält der Landschaftskenner keine Entschädigung. Die Hügel zu beiden Seiten haben nicht jene stolze, imposante Höhe, die den Beobachter mit einem mächtigen Eindruck verstummen heißt; ihre Einförmigkeit ermüdet endlich, und wenngleich die Spuren von künstlichem Anbau an ihrem jähen Gehänge zuweilen einen verwegenen Fleiß verraten, so erwecken sie doch immer auch die Vorstellung von kindischer Kleinfügigkeit. Das Gemäuer verfallener Ritterfesten ist eine prachtvolle Verzierung dieser Szene; allein es liegt im Geschmack ihrer Bauart eine gewisse Ähnlichkeit mit den verwitterten Felsspitzen, wobei man den so unentbehrlichen Kontrast der Formen sehr vermisst.
Ja, mein Freund, der Rhein ist ein edler Fluss: aristokratisch, republikanisch, kaiserlich, würdig, sowohl Frankreich als auch Deutschland anzugehören.
Wo heute noch der laute und wirre Jahrmarkt der Eitelkeiten tummelt, kann morgen der Garten der deutsch-französischen Freundschaft im Licht stehen. Nur hier.
Geboren bin ich in Köln, wo der Rhein, seiner mittelrheinischen Lieblichkeit überdrüssig, breit wird, in die totale Ebene hinein auf die Nebel der Nordsee zufließt.
Wie Perlen aufgezogen liegen heute im Osten der Niederlande solche kleinen Areale Wildnis, so genannte "neue Natur" wie in der Millingerwaard, entlang der Flüsse Waal und Nederrijn. Dort, wo der Rhein ins Land strömt, gleich hinter der deutsch-niederländischen Grenze, und sich bald teilt in Waal, Nederrijn und IJssel, in der Region Nijmegen und Arnhem. "Gelderse Poort" nennt sich das Renaturierungsprojekt. 3.000 Hektar neue Natur sollen es werden bis zum Jahr 2015. 11.000 Hektar Naturraum gehören insgesamt dazu in den Niederlanden. Auf deutscher Seite bei Kleve und Emmerich gehören 10.000 Hektar dazu, in denen Landwirtschaft und Naturschutz kombiniert werden.
Pferde als Rasenmäher
Gerrit van Scherrenburg ist Ranger im Gebiet. Er erklärt, warum die Wildpferde in der neuen Natur ausgesetzt wurden. "Die Pferde sind zusammen mit einer Rinderherde die Rasenmäher in der Gelderse Poort", erzählt Van Scherrenburg. "Die beiden Herden sorgen dafür, dass die Landschaft offen bleibt. Etwa 300 Tiere bevölkern die Gelderse Poort." Damit das Schwemmland nicht verbuscht, hat man Konik-Pferde aus Polen geholt. Die Rasse gleicht dem Tarpan, dem ausgestorbenen europäischen Wildpferd. Die kleinen Pferde mit dem mattgrauen, bisweilen auch dunkelbraunen Fell sind robust und zäh. Sie können Hungerperioden und kalte Winter überstehen. Weil die Tiere außerdem gute Schwimmer sind, eignen sie sich gut für die Flusslandschaft mit den regelmäßig wiederkehrenden Hochwassern. Außerdem sind Konik-Pferde autark. "Die Wildpferde und die schottischen Hochlandrinder, die hier laufen, sorgen weitestgehend für sich selbst. Nur wenn es notwendig ist, beispielsweise, bei Hochwasser, wenn die Tiere auf einer Insel im Fluss stehen, füttern wir Heu", sagt Gerrit van Scherrenburg.
Vision von "lebendigen Flüssen“
Dem großen Strom Rhein wieder mehr Raum zu geben und Schwemmland zu renaturieren, ist eine Kehrtwende. Die Vorgeschichte: Durch intensive Nutzen des Schwemmlandes, wie Tonabbau, waren die Flussauen stark zerstört und für die Flussanrainer unattraktiv geworden. Auch war das Wasser des Rheins bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts
Dann lösten verheerende Rhein-Hochwasser in den Jahren 1993 und 1995 einen Notstand aus an Waal, Nederrijn und IJssel. 200.000 Menschen und Millionen Tiere mussten evakuiert werden. Die Maas, die in Frankreich entspringt und südlich der Waal fließt, verließ 1993 ihr Bett. Sie überschwemmte riesige Flächen in den Provinzen Limburg und Gelderland. Einmal mehr hatte das Wasser die Niederländer daran erinnert, dass große Teile der Landesfläche in dem künstlich trocken gehaltenen Delta großer Ströme liegen.
Den Hochwassern sei mit höheren Deichen allein nicht beizukommen, lautete die Analyse. Diese Einsicht paarte sich mit der Vision von "neuer Natur" und "lebendigen Flüssen“, die Naturschützer bereits in einem Plan "Ooievaar" ausgearbeitet hatten. Diese Pläne für Renaturierung wurden bereits seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelt, weil die Flüsse verschmutzt und unattraktiv waren. Nach den beiden Jahrhunderthochwassern wurden die Deiche erneut ausgebaut; gleichzeitig sollten Waal und Nederrijn wieder Land gewinnen mit ursprünglicher Flussnatur und wertvollem Strömungsraum bei Hochwasser.
Wie sich die "neue Natur" in der Gelderse Poort entwickelt hat, ist dokumentiert in einem Film des World Wide Fund For Nature (WWF), den Besucher des Naturgebiets im Informationszentrum in Millingen aan de Rijn anschauen können. Hier erfährt man, dass zunächst die Lehmschicht, die der Rhein herangeschwemmt und abgelagert hat, bis auf den Sand abgegraben wird. Dabei kommt das Relief aus Wasserrinnen und Inseln zum Vorschein. Auf dem Pionierboden Sand bildet sich bereits im ersten Jahr ein Pflanzensee mit 200 Sorten und viele Brennesseln und Disteln. Der Fluss bringt die Samen mit, legt Bäume an, Auenwälder wachsen. Auch der Wind ist beteiligt, er verweht den Sand der breiten, langen Sandstrände am Flussufer zu Dünen. In der Millingerwaard sind diese Flussdünen bis zu zehn Meter hoch. Und bei den periodischen Hochwassern wütet der Strom in seinen Auen. Spült Sand weg, nimmt Bäume mit, jagt die Tiere auf, die am Fluss leben. Manche kommen um. Durch die Dynamik des Stroms ist mit den Jahren wieder eine abwechslungsreiche und robuste Flusslandschaft entstanden.
Positive Bilanz
"Wir wussten nicht, was geschehen würde, als wir mit dem Projekt begannen. Heute können wir feststellen, es ist ein Erfolg", sagt Ranger Van Scherrenburg. "Seltene Pflanzen sind in die Auen zurückgekehrt, beispielsweise der Ehrenpreis, die kleine Wiesenraute, die blaue Ochsenzunge." Pflanzen, Vögel, Fische, Frösche, Schmetterlinge, Insekten siedelten sich an, von denen manche seit Jahrzehnten nicht mehr gesichtet wurden. Insbesondere eine große Vielfalt an Wasser-, Wald- und Wiesenvögeln sind nun in der Gelderse Poort heimisch. Wer in dieser neuen Wildnis herumstreunt, hat die Chance Trauerseeschwalben, Blaukehlchen, Schilfrohrsänger, Rohrdommeln, Löffler, Silberreiher, den Wachtelkönig anzutreffen. Jüngst wurden schwarze Störche in der Millingerwaard gesichtet.
Auch der Biber ist zurück in den Niederlanden. Dabei hat der Mensch tatkräftig Schützenhilfe geleistet. Die putzigen Nager tummeln sich nun wieder in den Flüssen und Gewässern. In der Millingerwaard stößt man beim Streifzug auf ihre Spuren: auf abgenagte Weiden, die in einen See gesunken sind. Bei Kerkerdom ist vom Deich aus eine Biberburg zu sehen. Wer die scheuen Holzfäller beobachten will, muss Glück und Geduld haben und wissen, in welchem Domizil aus aufgeschichteten Ästen und Zweigen sie gerade wohnen. Dass Biber wieder am Fluss leben, freut Gerrit van Scherrenburg besonders. "Wie viele Biber mittlerweile in der Gelderse Poort leben, wissen wir nicht genau. So an die Hundert", vermutet er. Die emsigen Nager mit dem wertvollen Pelz waren Ende des 19. Jahrhunderts in den Niederlanden ausgerottet. Genau wie in vielen anderen Ländern Europas. An der Elbe, im Osten Deutschlands, hatte eine kleine Population den Raubzug des Menschen überlebt. Von dort kommen die Biber, die in der neuen Natur, in den flachen Seen, an den Ufern mit Wildwuchs, in den jungen Weidenwäldern und dem rauen Grasland ein prima Biotop vorgefunden haben. "Inzwischen sind unsere Biber auch weitergewandert", weiß der Ranger, "den Nederrijn und die IJssel hoch."
Erholungsraum Fluss
Die erfolgreiche Naturentwicklung und die verbesserte Wasserqualität hat die Flüsse für die Menschen wieder attraktiv gemacht. Die Gelderse Poort ist ein Publikumsmagnet. "Besucher können frei herumstreifen", so der Ranger. "So können sie die lebendige Flussnatur unmittelbar erleben und haben Freude daran. Dadurch, dass die Auen immer wieder überflutet sind, ist die Landschaft sehr dynamisch, ist sie permanent in Bewegung.“ Das zieht viele Besucher an. 600.000 kommen inzwischen pro Jahr in die Gelderse Poort. Damit ist Renaturierung nicht nur ökologisch interessant, sondern auch wirtschaftlich. Gastronomie hat sich angesiedelt in den umliegenden Orten. Landwirte betreiben Naturcampings und bieten Bed & Breakfast an. "So haben die Landwirte auch was davon", sagt Gerrit van Scherrenburg. Schließlich hätten sie für die Gelderse Poort fruchtbares Land abgegeben.
Insgesamt sieht die Planung "Raum für die Flüsse" vor, den Flüssen Waal, Nederrijn und IJssel im Rhein-Delta an mehr als 30 Stellen mehr Raum zu geben. Es werden Rinnen gegraben, Hindernisse beseitigt, Deiche zurückverlegt und mancherorts Menschen umgesiedelt. So sollen die etwa vier Millionen Niederländer, die an den Flüssen leben, sicherer sein hinter den Deichen.
In die Herde Wildpferde ist inzwischen Bewegung gekommen. Zwei Hengste messen ihre Kräfte. Sie haben sich auf die Hinterbeine gestellt und wirbeln mit den Vorderhufen. Die Herde zieht weiter übers Grasland, in Richtung natürlicher Tränke, zum Fluss. Am gegenüberliegenden Ufer sind die Wildpferde, die in der kleinen Wildnis Klompenwaard laufen, am Strand zu sehen.
Wie so oft ist auf der Waal reger Betrieb. Kähne pflügen sich durchs Wasser, manchmal mehrere nebeneinander, als seien sie auf einer vierspurigen Autobahn unterwegs. Die kleine Fähre, die seit acht Jahren in der warmen Jahreszeit in Betrieb ist, setzt Radfahrer und Fußgänger über. Der alte Fährmann schippert erfahren zwischen den großen Booten über den breiten Strom. Ein Trampelpfad verliert sich schließlich am Strand eines Sees. Silberreiher staksen am Ufer. Eine Idylle, die Ruhe nahelegt. Aber vom Fluss her erklingt leise der tiefe Brummton der Dieselmotoren.
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Gunda Schwantje ist Journalistin und Fotografin in Arnhem, Niederlande.
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