Rütteln an den Grundfesten der Adenauer-Republik
Der folgenschwere Dialog des Publizistikwissenschaftlers Walter Hagemann mit der SED
Thomas Wiedemann
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1. Einleitung
Im Mittelpunkt des Aufsatzes steht das, was für den Zusammenhalt der Bundesrepublik Deutschland zu Beginn ihres Bestehens wesentlich war: die Abgrenzung von der DDR. Veranschaulichen kann dies der Fall des Publizistikwissenschaftlers Walter Hagemann (1900 bis 1964), der sich Ende der 1950er Jahre als CDU-Mitglied gegen die Westorientierung der bundesdeutschen Außenpolitik wandte und auf eigene Faust den Dialog mit der SED suchte.
Dabei beging Hagemann am 18. Oktober 1958 einen folgenschweren Tabubruch. Mit einer Rede vor dem Nationalrat der Nationalen Front wurde er in Westdeutschland zur Unperson und verspielte schlagartig den Kredit, den er als Publizist und Angehöriger der Deutschen Zentrumspartei in der Weimarer Republik erworben und nach dem Zweiten Weltkrieg für eine wissenschaftliche Karriere an der Universität Münster fruchtbar gemacht hatte. Aus der Union ausgeschlossen, vom Hochschuldienst entlassen und mit einem Strafverfahren konfrontiert, sah er die Flucht in die DDR als letzte Möglichkeit, um einer Haftstrafe zu entgehen.
Die Fallstudie zeichnet Hagemanns Oppositionskurs nach. Sie gewährt Einblick in die Kommunikationsstrukturen im geteilten Deutschland der 1950er Jahre und veranschaulicht den Umgang mit Abweichlern innerhalb der Adenauer-CDU. Natürlich war Hagemann nicht der Einzige, der seine Stimme gegen Konrad Adenauers Kurs erhob. Doch lassen sich an seiner Person exemplarisch die Regeln festmachen, nach denen die junge Bundesrepublik funktioniert hat. Denn in der heterogenen Oppositionsbewegung war nur der Münsteraner Universitätsprofessor bereit, offen die Prinzipien infrage zu stellen, die sich aus dem Alleinvertretungsanspruch der Bundesregierung ergaben. Dieser Regelverstoß erklärt vielleicht auch, warum man Hagemann so drastisch zu Leibe rückte. Folglich wird hier die These vertreten, dass der Bezug auf den anderen deutschen Staat womöglich nicht nur für die DDR konstitutiv war. Öffentliche Solidaritätsbekundungen mit SED-Positionen wurden auch in der Bundesrepublik mit umfassendem Reputationsverlust bestraft.
Diese Aussage stützt sich auf einen breiten Quellenfundus, über den im folgenden Abschnitt informiert wird. Der Beitrag skizziert dann zunächst Hagemanns gesellschaftliche Position vor seinem Übertritt in die Politik im Jahr 1957. In den Fokus gerückt werden schließlich das öffentliche Engagement des Publizistikwissenschaftlers gegen die Außenpolitik der Bundesregierung sowie die Sanktionen, die bald darauf gegen ihn eingeleitet wurden.
Das wichtigste Quellenfundament der Fallstudie ist Material aus elf Archiven, das bisher noch nicht systematisch ausgewertet wurde und Hagemanns beruflichen Werdegang ebenso dokumentiert wie seinen Feldzug gegen Bundeskanzler Adenauer und dessen Folgen. Dazu zählen unter anderem Unterlagen aus dem Archiv der Westfälischen Wilhelms-Universität, dem Archiv für Christlich-Demokratische Politik, dem Landesarchiv Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf und Münster, dem Bundesarchiv in Koblenz und Berlin, der Stasi-Unterlagenbehörde sowie dem Privatarchiv von Hagemanns Sohn. Außerdem greift die Studie auf ausgewählte Publikationen Hagemanns aus Journalismus und Politik zurück. Zu erwähnen sind hier seine außenpolitischen Leitartikel in der Germania aus den 1920er und 1930er Jahren, seine Stellungnahmen zur Weltpolitik, die zur selben Zeit in Buchform erschienen sind, sowie seine Veröffentlichungen Ende der 1950er Jahre, die sich mit der Außenpolitik der Bundesregierung auseinandersetzen. Hinzu kommen Zeitungsartikel, die das politische Engagement des Publizistikwissenschaftlers kommentieren und es damit ermöglichen, die Resonanz auf seine Verlautbarungen in der Öffentlichkeit abzuschätzen.
3. Gesellschaftliche Position bis 1957
Dass sich Walter Hagemann dazu berufen fühlte, als Vermittler zwischen Ost und West mit der SED zu verhandeln, verwundert nicht, wenn man seinen biografischen Hintergrund kennt. Geboren 1900 in Euskirchen im katholischen Rheinland, studierte er nach einem kurzen Weltkriegs-Einsatz Geschichte, vor allem in Berlin. Wichtigster akademischer Lehrer war Friedrich Meinecke, der zwar aus seiner konservativen Gesinnung keinen Hehl machte, der Weimarer Republik aber durch couragiertes Auftreten in der Öffentlichkeit Stabilität verleihen wollte. Geprägt wurde Hagemann auch durch das konfessionelle Milieu, mit dem er sich in Berlin umgab. Folgerichtig schloss er sich 1925 dem Zentrum an. Für den Journalismus qualifizierte er sich weniger durch seine Promotion über den Staatstheoretiker Paolo Paruta, als vielmehr durch vier Weltreisen, die er publizistisch auswertete. Als Verfasser mehrerer Bücher zur internationalen Politik hatte sich Hagemann bereits mit 27 Jahren einen solchen Expertenstatus erarbeitet, dass ihn der Mitherausgeber der Germania, Richard Kuenzer, zum Ressortleiter Ausland bei der prestigeträchtigen katholischen Tageszeitung machte. Rasch wurde er dort zu einem der einflussreichsten Publizisten der Reichshauptstadt, der alle politischen Ereignisse in der Welt kommentierte und dabei seine nationale, aber demokratische und christliche Weltsicht zur Schau stellte. Stets warb er für eine Politik der Verständigung und die schrittweise Gleichberechtigung des Deutschen Reichs in einem friedvollen Europa. Dass Hagemann seinem Ziel, als "geistige Persönlichkeit" in die Gesellschaft hineinzuwirken, schon früh sehr nahegekommen war und ihm große Aufmerksamkeit zuteilwurde, verdeutlichen auch seine Kontakte. Wie er selbst später berichtete, hatte er es mit noch nicht einmal 30 Jahren zum journalistischen Vertrauensmann von Joseph Wirth, Gustav Stresemann und Heinrich Brüning gebracht.
Im Dritten Reich geriet die Karriere des ehrgeizigen Gesinnungsjournalisten ins Stocken. Zwar stieg Hagemann noch 1934 zum Hauptschriftleiter der Germania auf, doch war sein Handlungsspielraum begrenzt. Den katholischen Charakter des einstigen Zentrums-Organs konnte er nicht bewahren. Nachdem er von Joseph Goebbels persönlich über die neuen Aufgaben der deutschen Presse belehrt worden war, kam er nicht mehr um lobende Worte für die Neugestaltung des öffentlichen Lebens herum. Positiv bewertete er etwa den wirtschaftlichen, sozialen und technischen Aufschwung unter Adolf Hitler, der beweise, wozu das deutsche Volk fähig sei, wenn es geschlossen geführt werde. 1938 verließ Hagemann die politisch bedeutungslos gewordene Germania und gründete einen Pressedienst. Doch auch hier ließ sich das Regime nicht auf Distanz halten. Vox Gentium wurde 1941 dem Reichspropagandaministerium unterstellt und drei Jahre später als nicht kriegswichtig eingestellt.
Dass Walter Hagemann wiederholt seine Sympathie für Adolf Hitlers Revisionskurs zum Ausdruck brachte, durch den das Deutsche Reich die "Fesseln von Versailles endgültig und unwiderruflich abgestreift" habe, bereitete ihm nach Kriegsende kaum Schwierigkeiten. Hoch angerechnet wurde ihm vielmehr, nie Mitglied der NSDAP gewesen und öffentlich für die Belange der katholischen Publizistik eingetreten zu sein. Im Nachkriegsdeutschland war er so wieder eine gefragte Persönlichkeit. Er zählte zum Gründungszirkel der Münchner CSU und debütierte im Oktober 1945 als erster deutscher Redakteur bei der Neuen Zeitung, dem offiziellen Blatt der US-amerikanischen Militärregierung. Beseelt von dem Wunsch, "junge Menschen für eine bessere, wahrhaft demokratische (…) Presse heranzubilden", nahm Hagemann aber schon ein halbes Jahr später eine Honorarprofessur für Zeitungswissenschaft an der Westfälischen Landesuniversität in Münster an und wurde dort 1948 zum Extraordinarius ernannt. Zu verdanken hatte der Universitäts- und Fachfremde das nur seinem journalistischen Renommee und seinen Freunden aus der Weimarer Republik. Doch war es ausgerechnet Hagemann, der das kleine und nach dem Nationalsozialismus diskreditierte Fach wie kein Zweiter prägte. Sein Theoriegebäude der Publizistikwissenschaft, seine praxisorientierte Lehre und Forschung und sein institutionelles Engagement verschafften ihm Respekt in der Wissenschaft und sorgten dafür, dass die Nachkriegsdisziplin ihre Existenzkrise überwinden konnte. Zugute kam ihm dabei auch sein hervorragender Draht nach Bonn. Vor allem das Bundespresseamt zeigte sich aufgeschlossen, Hagemanns Bitten um finanzielle Unterstützung für seine Projekte zu entsprechen.
4. Feldzug gegen Konrad Adenauer
Nach seiner Ankunft in Münster hatte sich Walter Hagemann ganz aus der Politik zurückgezogen. 1950 war er zwar der CDU beigetreten, allerdings hatte er die "Hoffnung, daß eine neue Generation auf Grund der harten Lehren zweier Weltkriege einen grundsätzlich neuen Kurs steuern" werde. Sein Interesse am außenpolitischen Geschehen war jedoch nicht erloschen. Kummer bereitete ihm die enge Bindung der Bundesrepublik an den Westen, die 1955 in den Nato-Beitritt mündete, sowie die kompromisslose Haltung gegenüber der DDR, zum Ausdruck gebracht vor allem durch den in der Hallstein-Doktrin formulierten Alleinvertretungsanspruch. Mit der Ansicht, Adenauers Kurs sei einer Wiedervereinigung alles andere als förderlich, war der Publizistikwissenschaftler auch in der Union nicht allein. So trat etwa Bundesinnenminister Gustav Heinemann 1950 aus Protest gegen die Wiederbewaffnung von seinem Amt zurücktrat, verließ die CDU zwei Jahre später, gründete 1953 mit der ehemaligen Zentrums-Politikerin Helene Wessel die Gesamtdeutsche Volkspartei und schloss sich nach deren Scheitern der SPD an. Ein prominenter Kritiker der einseitigen Vertragspolitik war ferner der CDU-Mitbegründer Wilhelm Elfes, der 1951 nach einem öffentlichen Konflikt mit dem Bundeskanzler aus der Partei ausgeschlossen wurde und dann mit Joseph Wirth den Bund der Deutschen ins Leben rief. Aber auch die Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier und Hermann Ehlers sowie der Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, plädierten als führende Köpfe des Kuratoriums Unteilbares Deutschland für eine Verständigung mit der DDR. Walter Hagemann blieb dagegen ganz in der Rolle des stummen Beobachters. Obgleich er besorgt zur Kenntnis nahm, dass sich von ihm geschätzte Persönlichkeiten wie der FDP-Angehörige Karl Georg Pfleiderer oder der Schriftsteller Reinhold Schneider resigniert aus der Politik zurückzogen, und auch einige seiner engsten Freunde in der CDU (wie Ernst Lemmer und Johann Baptist Gradl) ihren Unmut über die vermeintliche Passivität des Bundeskanzlers in der deutschen Frage äußerten, kam für ihn ein Engagement gegen die eigene Parteispitze nicht infrage. Ändern sollte sich das erst 1957. Als Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU) die Bereitschaft signalisierte, die Bundeswehr gemäß den Plänen der Nato mittelfristig mit taktischen Atomwaffen auszustatten, brach der Publizistikwissenschaftler sein Schweigen. Wie Hagemann erklärte, machte es ihm die "Sorge um die atomare Katastrophe und um die Verewigung der deutschen Spaltung" zur "Gewissensverpflichtung", seine "Überzeugung offen zu bekennen". Er bezeichnete seinen Gang in die Öffentlichkeit als "nationales Opfer". Doch spricht vieles dafür, dass er auch wieder die Geltung erlangen wollte, die er in der Weimarer Republik bereits besessen hatte und die ihm die Lehrkanzel in Münster trotz des wissenschaftlichen Erfolges nicht bieten konnte.
Mit aller Macht strebte Hagemann auf die politische Bühne zurück. Da er keinen hochrangigen Unionspolitiker für eine öffentliche Debatte gewinnen konnte (abgesagt hatten der Bundestagsvizepräsident Richard Jaeger sowie der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Kurt Georg Kiesinger), betrachtete er die außerparlamentarische Opposition als einzige Möglichkeit, um den "Irrweg der CDU" zu stoppen. Mittlerweile hatte das Göttinger Manifest, in dem 18 namhafte Physiker (darunter Carl Friedrich von Weizsäcker, Otto Hahn, Werner Heisenberg und Max Born) eindringlich vor der Verharmlosung atomarer Waffen warnten, eine Welle des öffentlichen Protests gegen eine Atombewaffnung der Bundeswehr ausgelöst – und Hagemann engagierte sich in fast allen Initiativen, die von Vertretern der Opposition, der Gewerkschaften und der Kirchen sowie von Intellektuellen und Künstlern ins Leben gerufen worden waren. Er zählte im März 1958 zu den Erstunterzeichnern der Kampagne Kampf dem Atomtod (neben Herbert Wehner, Gustav Heinemann, Thomas Dehler, Martin Niemöller, Eugen Kogon, Erst Wolf und Heinrich Böll) und war an der Seite von Ulrike Meinhof führende Figur des Netzwerks in Münster. Ebenso ließ er sich ins Präsidium der Aktionsgemeinschaft gegen atomare Aufrüstung wählen (zusammen mit Gerhard Gollwitzer, Ernst Rowohlt und Klara-Marie Faßbinder) und wurde Mitglied im erweiterten Vorstand des Deutschen Klubs 1954, einer bürgerlichen Vereinigung gegen Wiederaufrüstung und Westintegration, die im Zuge der Pariser Verträge von Karl Graf von Westphalen ins Leben gerufen worden war. Er setzte seine Unterschrift unter ein von Renate Riemeck initiiertes Schreiben von 44 Professoren an den DGB, unterzeichnete einen Aufruf von 100 westdeutschen Professoren an die Kirchen, hinter dem Gerhard Gollwitzer stand, war Mitverfasser eines offenen Briefes an den polnischen Außenminister Adam Rapacki, in dem dessen Konzept einer neutralen Zone in Mitteleuropa befürwortet wurde, und sprach auf Kundgebungen und Diskussionsveranstaltungen im gesamten Bundesgebiet. Daneben schrieb Hagemann schon ab 1957 wieder außenpolitische Meinungsartikel, vor allem in den Blättern für deutsche und internationale Politik im Pahl-Rugenstein-Verlag, der aus der DDR mitfinanziert wurde, aber auch im Westdeutschen Tageblatt und in der Welt.
Ergriffen von dem Ziel, die eigene Partei wieder zu ihren Grundsätzen zurückzuführen, nahm der Publizistikwissenschaftler kein Blatt vor den Mund. Vernichtend fiel sein Urteil über die Vereinigten Staaten aus, die Westeuropa für ihren "aggressiven postkolonialen Imperialismus" instrumentalisierten. Dass Adenauer einen Pakt mit dem Tod geschlossen habe, zeigten die Pläne zur Aufrüstung der Bundeswehr, die direkt ins "atomaren Massengrab" führten. Man müsse "weit in der deutschen Geschichte zurückgehen, um eine Epoche zu finden, in der die deutsche Außenpolitik auf so knappe geistige Rationen gesetzt war". Anstatt das Ziel der nationalen Einheit zu verfolgen, mache man in Bonn der Bevölkerung mit der Parole ‚Der Bolschewik greift an!‘ den Kalten Krieg schmackhaft. Diesen "Hexenwahn" warf Hagemann nicht nur CDU vor, sondern auch der Katholischen Kirche, die das christliche Abendland mit Massenvernichtungswaffen absichern wolle. Dagegen sei es höchste Zeit, den Entspannungsbemühungen der DDR-Führung konstruktiv zu begegnen. "Wenn wir Deutschen in dieser Stunde versagen", schlussfolgerte er, "dann haben wir es wirklich verdient, dass wir aus dem Buch der Geschichte ausgelöscht werden".
Deutlich wurde bereits, dass sich Hagemann mit seiner Kritik am außenpolitischen Kurs der Bundesregierung in prominenter Gesellschaft befand. Und auch wenn seine Stellungnahmen radikal waren, unterschieden sie sich kaum von den Äußerungen seiner Mitstreiter und erzielten nur deshalb so viel Beachtung, weil sie von einem bekennenden CDU-Mitglied stammten. Dass der Publizistikwissenschaftler dennoch aus der "unsichtbaren Akademie freier Geister" herausragte, hatte einen anderen Grund. Berührungsängste mit dem Osten konnte man zwar Martin Niemöller, dem Kirchenpräsidenten von Hessen-Nassau, ebenso wenig nachsagen wie den Universitätsprofessorinnen Renate Riemeck und Klara-Marie Faßbinder, die alle im Rahmen ihrer Aktivität für die Friedensbewegung in die Sowjetunion, nach Prag oder in die DDR gereist waren. Und auch Gustav Heinemann hatte als Präses der Evangelischen Kirche an deren gesamtdeutscher Funktion festgehalten. Doch war in der Oppositionsbewegung nur Walter Hagemann bereit, offen das Gespräch mit maßgeblichen DDR-Offiziellen zu suchen.
Der SED-Führung war es bis dato nicht gelungen, die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung für sich zu gewinnen und die Massenflucht in den Westen zu stoppen. Um dem weitverbreiteten Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Politik im eigenen Land zu begegnen, ordnete die Staatsführung eine ausführliche Medienberichterstattung über die Kriegsorientierung des gegnerischen Lagers an und demonstrierte ihrerseits das Festhalten an der Unteilbarkeit Deutschlands. In der Hoffnung auf einen Imagegewinn wurden außerdem Kontakte mit bürgerlichen Persönlichkeiten in der Bundesrepublik angebahnt. Hagemanns Verlautbarungen waren auch im Osten vernommen worden und als CDU-Angehöriger, der nicht im Verdacht stand, ein Kommunist zu sein, erschien er der SED-Führung für ihre ‚nationale’ Zielsetzung besonders attraktiv. Noch dazu hatte er bereits im April 1958 eine Interviewanfrage des Pressedienstes der Ost-CDU angenommen und den DDR-Journalisten dann unumwunden erklärt, die Union im Westen werde von Reaktionären beherrscht. Ein halbes Jahr später lud deshalb der Volkskammerabgeordnete Hermann Kalb (Ost-CDU) Hagemann ein, auf der kommenden Tagung des Nationalrats der Nationalen Front in Berlin zu sprechen. Überzeugt davon, dass "einmal jemand im Interesse der gesamtdeutschen Sache den Mut aufbringen" müsse, "das Tabu zu durchbrechen", ging der Hochschullehrer auf das Angebot ein.
Dass Hagemanns öffentlicher Auftritt in der Hauptstadt der DDR am 18. Oktober 1958 den Höhepunkt seines politischen Engagements markierte, lag weniger an dem Inhalt seiner Rede, als vielmehr an der Unerhörtheit seines Handelns an sich. Kontakte in den Osten waren nur auf privater Ebene erlaubt. Zudem vertrat Hagemann auf der Tagung lediglich seine schon bekannte Auffassung. Er mahnte direkte Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und der DDR-Führung an und lobte Walter Ulbrichts Vorschlag zur Bildung einer neutralen deutschen Konföderation. Schließlich stellte er dem anwesenden Ersten Sekretär des Zentralkomitees der SED fünf Fragen, die es diesem erlaubten, seine deutschlandpolitische Konzeption öffentlichkeitswirksam zu präsentieren. Für die Nationale Front war die Tagung ein großer Erfolg. Mitarbeiter berichteten der Leitung, Hagemann sei von dem Austausch mit Ulbricht beeindruckt. Der Empfang habe bestätigt, dass man mit der DDR verhandeln könne. Seinem Wunsch nach medialer Resonanz wurde entsprochen. Das Neue Deutschland widmete dem Besuch aus Münster die ganze Titelseite. Zudem bemühten sich mit Unterstützung der SED der Deutsche Klub 1954 und der Pahl-Rugenstein-Verlag auch, die westdeutsche Öffentlichkeit über Hagemanns Thesen zu informieren (mit dem Versand von 3000 Redeexemplaren, einer Sonderbeilage in der Deutschen Volkszeitung und einer Pressekonferenz des Publizistikwissenschaftlers in Bonn).
Hagemann war sich der Tragweite seines Schrittes durchaus bewusst. Um dem Instrumentalisierungsverdacht zumindest in Kreisen der Politik zu begegnen, unterrichtete er noch in Berlin Gustav Heinemann sowie Johann Baptist Gradl über sein Vorgehen. Zurück in Münster war er um Beschwichtigung bemüht. Gegenüber der Universität betonte er, seine Initiative sei der "einmalige Versuch eines politischen Außenseiters" gewesen, einer "Minderheit in der CDU" Gehör zu verschaffen. Ferner verwies er darauf, dass in den Monaten zuvor "nicht nur höhere Beamte und westdeutsche Kaufleute", sondern auch Abgeordnete des Bundestags den Dialog mit dem Osten gesucht hätten. Das Echo auf sein Unterfangen war dennoch verheerend.
5. Folgen des Tabubruchs
Karikatur: Hinauswurf für Vernichtungshieb am falschen Objekt (aus: Das freie Wort)
Hagemanns Engagement verfehlte sein Ziel. Weder bewegte er die CDU zu einem Richtungswechsel, noch brachte er den deutsch-deutschen Dialog in Gang. Durch seinen Auftritt in der DDR verspielte er im Gegenteil jeden Kredit, den er sich im Lauf seines Lebens als Journalist, Politiker und Wissenschaftler erworben hatte.
An seinen publizistischen Erfolg in der Weimarer Republik, als er eine Referenz in der Hauptstadtpresse war, konnte Hagemann nicht mehr anknüpfen. Stattdessen machte die Annäherung an die SED nicht nur seine Kontakte mit führenden Vertretern der journalistischen Zunft zunichte, sondern überdeckte auch sein Renommee als Chefredakteur der Germania in schwieriger Zeit. Zum einen bereitete es Hagemann plötzlich Schwierigkeiten, Artikel in der Presse unterzubringen. Weigerten sich zunächst nur bürgerliche Organe, seine Thesen abzudrucken, waren seine Beiträge nach der Nationalrats-Rede höchstens noch in kleinen linksgerichteten Blättern wie der Anderen Zeitung zu lesen. Zum anderen wurde Hagemann auf einmal von beinahe der ganzen westdeutschen Presse diffamiert. Nachdem er wegen seiner "Liebe zur Moskauer Außenpolitik" schon im Frühjahr 1958 dazu aufgefordert worden war, in den Osten zu gehen, waren sich die Kommentare nach seinem Auftritt mit Ulbricht endgültig einig über die Ziele seiner Opposition. "Der unermüdliche Vorkämpfer für die Wehrlosigkeit der Bundesrepublik" habe nun "vollends die Maske fallen lassen", befand etwa Hans Töpfer im Rheinischen Merkur. Als "bedingungsloser Mitläufer des sowjetischen Terrorsystems" wurde ihm vorgeworfen, "Verrat an der Freiheit" begangen zu haben.
Das politische Gewicht, das Hagemann als Zentrums-Mitglied und Mitbegründer der CSU besessen hatte, konnte er auch nicht mehr geltend machen. Schon im Februar 1958 drang aus der CDU-Bundespartei, man möge endlich Maßnahmen gegen den Rebellen ergreifen. Da Hagemann nicht bereit war, die Union freiwillig zu verlassen, konstituierte der CDU-Kreisverband in Münster ein Ehrengericht, das ihn am 21. April 1958 aus seinen Reihen ausschloss. Der Grund: Der Publizistikwissenschaftler habe sich "fortgesetzt in beleidigender und gehässiger Weise über die Politik der CDU und ihre führenden Persönlichkeiten in Wort und Schrift geäußert." Hagemann beanstandete, es sei "nicht einmal der Versuch gemacht worden", sich "mit meinem Recht der freien Meinungsäußerung und meiner Verpflichtung als Hochschullehrer ernsthaft auseinanderzusetzen", und legte Berufung ein. Bis zur Verhandlung vor dem Landesehrengericht hatte sich seine Position aber verschlechtert. Das prominent besetzte Gremium mit den Vorsitzenden Joseph Blank und Artur Sträter trat zwei Wochen nach der Nationalrats-Tagung zusammen und bestätigte nicht nur die Feststellungen des Kreisehrengerichts, sondern legte dem Professor auch dessen Auftritt in der DDR zur Last, mit dem er die "Grenzen des Zulässigen endgültig überschritten" habe. Aus Hagemanns Netzwerk (zu dem auch der Vorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion, Heinrich Krone, gehörte) fand sich niemand mehr bereit, für den einstigen Zentrums-Freund ein gutes Wort einzulegen und da die CDU über kein Ehrengericht auf Bundesebene verfügte, war der Ausschluss endgültig. Hinzu kam, dass die Staatsanwaltschaft am Dortmunder Landgericht gegen Hagemann ermittelte. Der Vorwurf, die Westarbeit der SED und damit verfassungsfeindliche Bestrebungen unterstützt zu haben, beschädigte sein Ansehen weiter. Mit der Sympathie, die ihm anfangs vonseiten der SPD und der FDP entgegengebracht wurde, war es nun vorbei und selbst in Kreisen der außerparlamentarischen Opposition ging man auf Abstand.
Zwar leitete die Karlsruher Bundesanwaltschaft letztlich kein Strafverfahren ein, doch eröffnete der nordrhein-westfälische Kultusminister Werner Schütz (CDU) Anfang April 1959 ein Disziplinarverfahren gegen den Universitätsprofessor, weil er die für Beamten vorgeschriebene politische Mäßigung verletzt habe und für ein totalitäres System eingetreten sei. Während die Öffentlichkeit noch darüber diskutierte, ob damit nicht ein Gesinnungsprozess angestrebt werde, ordnete man in Düsseldorf am 21. April 1959 an, Hagemann wegen sittlicher Verfehlungen zu suspendieren. Vorgeworfen wurde ihm jetzt auch die Beziehung mit einer minderjährigen Studentin und die Staatsanwaltschaft am Oberlandesgericht in Hamm durchsuchte Hagemanns gesamte Privatkorrespondenz und vernahm ein halbes Dutzend Frauen aus dem Umfeld des Münsteraner Instituts für Publizistik. Das Ergebnis der Ermittlungen war eine über 100-seitige Anklageschrift, die Politisches und Privates vermischte und den Adenauer-Widersacher zu Fall brachte. Bis auf einen Protestbrief von 30 Professoren (darunter der Marburger Politologe Wolfgang Abendroth) und mehrere Schreiben des Senats und der Philosophischen Fakultät der Universität Münster hielt sich die Entrüstung über das Vorgehen der Justiz in Grenzen. Die Publizistikwissenschaft hatte sich schon zuvor von Hagemann abgewandt. Der Angeklagte wies zwar alle privaten Vorwürfe zurück und beteuerte, er habe die "konspirative Absicht" der Nationalen Front nicht unterstützt, sondern nur ein „hohes Anliegen“ verfolgt, nämlich „das Leben und die Einheit meines Volkes“. Dennoch beschied das Verwaltungsgericht Münster am 1. Dezember 1959, ihn vom Universitätsdienst zu entfernen, seinen Professorentitel einzukassieren und seine Pensionsansprüche zu streichen.
Darüber hinaus hatte das Urteil ein strafrechtliches Nachspiel. Im November 1960 klagte die Staatsanwaltschaft am Landgericht Münster Hagemann "wegen Unzucht mit Abhängigen" sowie "wegen Meineids" in einer Vaterschaftsklage an. Eine Welle der öffentlichen Empörung schlug über ihm zusammen. Für Hagemann gestaltete sich die Situation immer auswegloser. Nachdem er bereits Anfang Januar 1961 zwei Tage in Untersuchungshaft verbracht hatte und im März untergetaucht war, um einem erneuten Haftbefehl wegen Flucht- und Verdunklungsgefahr zu entgehen, setzte er sich in der Nacht vor Prozessbeginn am 14. April 1961 in die DDR ab.
Die SED-Führung hatte für diesen Fall vorgesorgt. Hagemann erhielt ein Haus in Potsdam und wurde Professor für Imperialismus an der Humboldt-Universität. Um die "Bonner Hexenjagd" gegen ihn zu "brandmarken", bereitete das Stadtbezirksgericht Berlin-Lichtenberg zudem einen Schauprozess "vor Vertretern der Weltpresse" vor und sprach ihn am 11. August 1961 von allen Vorwürfen frei. Mit dem Mauerbau zwei Tage später war der Überläufer aber kaum noch von Wert für die DDR-Kommunikationsstrategen. Da die eigene Bevölkerung nicht mehr fliehen konnte und die internationale Anerkennung sowie der Ausbau von Handelsbeziehungen auf die Tagesordnung rückten, ebbte die Kritik an der Bundesrepublik ab. Hagemann lobte in einigen Stellungnahmen zwar noch sein neues "Vaterland", das "mit Entschlossenheit, Optimismus und Erfolg den Weg der Freiheit und des echten Humanismus" beschreite, und trat im Februar 1962 feierlich der Ost-CDU bei, verstarb aber bereits am 16. Mai 1964.
6. Fazit
Es ist bekannt, dass die SED-Führung bis 1989 jeden DDR-Bürger mit einem Bann belegte, der ohne Erlaubnis mit den Westmedien zusammenarbeitete. Für diese Praxis stehen nicht nur die Namen Wolf Biermann, Robert Havemann, Stefan Heym oder Roland Jahn, sondern auch der Umgang mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie der Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz in Zeitz im August 1976. Der Fall Hagemann zeigt, dass die andere Seite in den 1950er Jahren ebenfalls höchst empfindlich reagierte, wenn ein westdeutscher Protagonist die öffentliche Bühne in der DDR nutzte, um die Bundesregierung zu kritisieren. Als der Publizistikprofessor sein Engagement im Jahr 1957 begann, war er eine angesehene Persönlichkeit in Politik, Journalismus und Wissenschaft. Wie selbstverständlich positionierte er sich in der Oppositionsbewegung gegen die Bundesregierung an vorderster Front und erhielt dort die erhoffte öffentliche Aufmerksamkeit. Sein Versuch, als Vermittler zwischen Ost und West zu agieren, wurde ihm aber zum Verhängnis. Die politischen Regeln in der damaligen Bundesrepublik erlaubten zwar, in der einheimischen Presse gegen die Adenauer-Politik anzuschreiben und sich an Protestveranstaltungen gegen die Atombewaffnung zu beteiligen, ein öffentlich sichtbarer Dialog mit der DDR-Spitze war dagegen ein Tabu. Nach seinem Auftritt vor dem Nationalrat wurde Walter Hagemann zur Unperson. Er verlor nicht nur seine Reputation als Politiker, sondern wurde auch aus Journalismus und Wissenschaft ausgeschlossen und schließlich moralisch vernichtet. Dass Kontakte mit dem Osten in der westdeutschen Politik der 1950er Jahre einen nicht zu überbietenden Fauxpas darstellten, lässt sich am Schicksal einiger prominenter Gegner der Außenpolitik Adenauers erahnen. So verlor etwa Joseph Wirth Anfang des Jahrzehnts seine Reichskanzlerpension, nachdem er den Dialog mit Moskau gesucht hatte und wiederholt auf Gesprächsangebote mit Vertretern der DDR eingegangen war. Einen direkten Angriff auf das außenpolitische Credo der Bundesregierung vor einem offiziellen Gremium der SED hatte er sich aber gar nicht zuschulden kommen lassen. Vermutlich trug deshalb Walter Hagemanns öffentlicher Schulterschluss mit den Machthabern im Osten Berlins nicht nur zufällig dazu bei, dass seine Existenz in der Bundesrepublik ein abruptes Ende nahm.
Zitierweise: Thomas Wiedemann, Rütteln an den Grundfesten der Adenauer-Republik, Der folgenschwere Dialog des Publizistikwissenschaftlers Walter Hagemann mit der SED. In: Deutschland Archiv Online, 04.02.2013, Permalink: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/wiedemann20130204
Thomas Wiedemann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München.
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