Einleitung
"STALAG - TRUTZHAIN - HEIMAT!"
Auch das im Folgenden vorgestellte Fallbeispiel ist ein solcher Ort. Aus dem Kriegsgefangenenlager STALAG IX A Ziegenhain entwickelte sich in der Nachkriegszeit zunächst ein Internierungslager für NS-Größen und ein Durchgangslager für Displaced Persons, bis aus der Flüchtlingssiedlung die hessische Gemeinde Trutzhain wurde. Innerhalb von sechs Jahren hatte das ehemalige Kriegsgefangenenlager drei weitere Gruppen von Personen "beherbergt" und sich zu einem Dorf weiterentwickelt. 73 Jahre nach der Errichtung des Kriegsgefangenenlagers STALAG IX A Ziegenhain beschäftigt sich dieser Beitrag deshalb mit der Frage, was aus dem Lager nach 1945 geworden ist und wie mit dem Erbe der NS-Vergangenheit vor Ort umgegangen wurde.
Multiple Vergangenheiten in Trutzhain - 1939-1945 STALAG IX A Ziegenhain
Das von 1939 bis 1945 bestehende STALAG IX A Ziegenhain war eines von 83 Kriegsgefangenenlagern im damaligen Reichsgebiet und das Größte auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen.
Die Topographie des Lagers zeigte eine Dreiteilung: Im Vorlager befanden sich die Holz- und Fachwerkbaracken für die Wachmannschaften und die Verwaltung. Das Hauptlager bestand aus den Fachwerkbaracken für die Gefangenen. Mit der Ankunft der sowjetischen Kriegsgefangenen im November 1941 kam es zu einer räumlichen Separierung dieser von den anderen Gefangenengruppen. Für das sogenannte "Russenlager" wurden die acht letzten Baracken durch Stacheldraht vom Hauptlager getrennt. Hier waren ab 1943 auch die italienischen Militärinternierten untergebracht. Die systematische Ungleichbehandlung und Trennung der Gefangenengruppen zeigte sich auch in der Gestaltung der Friedhöfe und der Bestattungspraxis: Die toten polnischen, französischen, jugoslawischen und amerikanischen Kriegsgefangenen wurden auf dem Stalag-Friedhof I - Alliiertenfriedhof - begraben. Hier wurden insbesondere die westlichen Kriegsgefangenen nach internationalen Gepflogenheiten bestattet. Im Gegensatz zu den westalliierten Toten wurde die sowjetischen und serbischen Toten in zum Teil mehrfach belegten Einzel- und Massengräbern anonym, ohne feierliche Bestattung, auf dem Stalag-Friedhof II - Waldfriedhof - im Kreiswald unter die Erde gebracht. An den Gräbern fehlte eine namentliche Kennzeichnung. Die Grabstellen wurden mit fortlaufend nummerierten Betonpflöcken markiert. Am Karfreitag, den 30. März 1945, befreiten Einheiten der 3. US-Armee das STALAG IX A Ziegenhain.
1945-1951 Umnutzung des STALAG IX A - Civil-Internment Camp 95, Displaced-Persons-Lager 95-443 und Flüchtlingssiedlung
Bereits ab dem 16. April 1945 bis zum Sommer 1946 nutzte die amerikanische Militärverwaltung das Lager als Civil-Internment Camp 95 (CIC 95) zur Unterbringung internierter Funktionäre der NSDAP, der SA, von Wehrmachtssoldaten und SS-Angehörigen.
Die ersten jüdischen Displaced Persons wurden von der amerikanischen Militärverwaltung ab August 1946 in den völlig heruntergekommenen Baracken untergebracht.
Als Folge des Zweiten Weltkriegs nahm das Land Hessen bis Juni 1949 etwa 700.000 Flüchtlinge und Heimatvertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und dem Sudetenland auf. Ab dem 1. März 1948 wurde die Barackensiedlung als Wohnraum für die Flüchtlingsfamilien herangezogen. Sie glich noch immer dem Kriegsgefangenenlager: Zwei Reihen Stacheldrahtzaun umgaben das Areal und zeugten neben den Wachhäusern und Wachtürmen vom ehemaligen Gefangenenlager.
Multiple Erinnerungen in Trutzhain von 1951 bis heute
Erinnern und Gedenken ab 1951
Am 1. April 1951 wurde aus der Flüchtlingsunterkunft die selbstständige Gemeinde Trutzhain gegründet. Der alte "Ortskern ist das einzige Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht aus dem Zweiten Weltkrieg, das bis heute in seiner Gesamtheit fast vollständig erhalten geblieben ist".
In den ersten Jahren beziehungsweise Jahrzehnten dominierte das eigene Schicksal der Vertreibung aus der alten Heimat die Erinnerung, welches mit zwölf Millionen Menschen geteilt wurde. Diese Erinnerung überlagerte dabei die Rückschau auf die Vergangenheit der NS-Zeit. Die Flüchtlingsfamilien in Trutzhain kannten zwar die Vorgeschichte des Lagers - sie hatten die sechs Jahre des STALAG IX A aber nicht persönlich miterlebt, und so begann für die meisten die Geschichte Trutzhains erst mit dem Jahr 1948. Die neuen Bewohner waren mit der psychischen Verarbeitung ihres persönlichen Schicksals und dem Neuanfang beschäftigt. In den Fokus der Aufmerksamkeit rückte die wirtschaftlich erfolgreiche Entwicklung der neugegründeten Gemeinde. Den Blick zurück ließen sie nur in Verbindung mit ihrer persönlichen Geschichte zu und die Erinnerungen daran hielten sie in den ersten Jahrzehnten mit Festen, Prozessionen und einem aktiven Vereinsleben in ihrer Freizeit aufrecht.
"Das Museum für den Frieden"
1968 war die neue Heimat Trutzhain Anlass für die Kyffhäuserkameradschaft Trutzhain, Verbindung zu den ehemaligen internierten Kriegsgefangenen und italienischen Militärinternierten des ehemaligen Lagers aufzunehmen.
Die ersten greifbaren Fortschritte im Bemühen um die Aussöhnung mit ehemaligen Gefangenen entstanden durch die Verbindung zum ehemaligen Lagerpfarrer und Vertrauensmann der Franzosen im Stalag, Abbé Pierre Dentin.
Das fünfte deutsch-französische Treffen am 17. Juni 1983 wurde durch die Einweihung des restaurierten Denkmals auf dem Gemeindefriedhof sowie des "Museum für den Frieden" zu einer besonderen Zusammenkunft. In Räumlichkeiten der Gemeinde wurden unter anderem durch eine Sammelaktion in Frankreich zusammengetragene Dokumente und Erinnerungsstücke wie Fotos und Kriegsgefangenenpost, die an die Zeit des Kriegsgefangenenlagers erinnern sollten, ausgestellt. Neben der französischen Sicht zum Gefangenenlager wurde das Flüchtlingsschicksal in dem Museum unter der ehrenamtlichen Leitung von Horst Munk dokumentiert.
Nachdem die Bewohner Trutzhains und die Bevölkerung der Schwalm aber lange den Deckmantel des Schweigens über dem Kriegsgefangenenlager haben ruhen lassen, war die Gründung des Museum ein erster Schritt zur Institutionalisierung der Erinnerung an das ehemalige Lager. Im Rahmen der deutsch-französischen Freundschaft entsprach diese Einrichtung dem Anliegen nach Frieden und Verständigung, "was in der Bezeichnung 'Friedensmuseum Trutzhain' seinen sinnfälligen Ausdruck fand".
Mahn- und Gedenkstätte Waldfriedhof
Der kleine Ort Trutzhain besitzt aufgrund seiner Geschichte zwei Friedhöfe: Der ältere der beiden, der heutige Gemeindefriedhof, diente ursprünglich als Kriegsgefangenenfriedhof des STALAG IX A Ziegenhain. Abgelegen im Kreiswald, deutlich separiert von diesem Friedhof, wurde nach dem Eintreffen der ersten sowjetischen Kriegsgefangenen im Lager der Stalag-Friedhof II - Waldfriedhof - angelegt. Die toten sowjetischen und serbischen Soldaten wurden in 162 Einzel- und sechs Massengräbern anonym verscharrt. Neben diesen Toten fanden italienische Militärinternierte auf dem Waldfriedhof in 50 Einzelgräbern und einem Sammelgrab für zwölf Soldaten ihre letzte Ruhestätte. Nach einem versehentlichen Bombardement am 21. März 1945 wurden in einem deutlichen Abstand vom sowjetischen Gräberfeld, links vom heutigen Eingang, 16 Franzosen in einem Sammelgrab auf dem Waldfriedhof beigesetzt. Dies war der Überfüllung des eigentlichen Alliiertenfriedhofs geschuldet. Im gleichen Monat folgten in vier Einzelgräbern die Beisetzungen von drei Franzosen und einem amerikanischen Piloten. Der Umgangssprachlich als "Russenfriedhof" bezeichnete Waldfriedhof wurde nach der Befreiung durch die amerikanischen Truppen weiter als Begräbnisstätte verwendet. So wurde im Juni 1945, abgesondert von allen anderen Gräbern, ein Gräberfeld für die deutschen Internierten der Lager Ziegenhain und Schwarzenborn angelegt. Im Januar 1946 folgten die ersten Beerdigungen von Verstorbenen des International Refugee Organisation (IRO) Hospitals Steinatal. Das Internationale Rote Kreuz und die Vereinten Nationen hatten dieses Hospital zur Versorgung von geflüchteten Displaced Persons in den von den Alliierten besetzten Gebieten eingerichtet. In einem unterhalb der Gräber der Franzosen angelegten Gräberfeld entstanden bis Februar 1949 15 Einzelgräber.
Auf Drängen der Bundeswehr, die den Truppenübungsplatz Schwarzenborn übernommen hatte und ihn seiner ursprünglichen Bestimmung zurückführen wollte, sollten die verstorbenen Internierten des Lagers Schwarzenborn, die dort 1945/46 auf den Schießbahnen beerdigt worden waren, exhumiert und nach Trutzhain umgebettet werden. Dies war 1960 Anlass für eine Umgestaltung des Interniertenteils des Friedhofs unter finanzieller Beteiligung der Bundeswehr und deutschnationaler Verbände.
In den 1960er Jahren folgten weitere Umgestaltungen des Areals, die "von der [Ursprungs-] Bedeutung des Ortes immer weiter weggeführt" haben.
Die starke optische Aufwertung der Interniertengräber und die Gedenkfeiern ihrer zu Ehren bewirkten eine stärkere Wahrnehmung des Interniertenteils des Friedhofs auch in der Öffentlichkeit, so dass im allgemeinen Sprachgebrauch aus dem "Russenfriedhof" ein "Interniertenfriedhof" wurde und dies sich schließlich auch auf dem einzigen Hinweisschild an der alten Bundesstraße mit der Aufschrift "Interniertenfriedhof" niederschlug.
Erst die Gruppe Arbeitskreis "Spurensicherung" des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Kreis Schwalm-Eder unter der Leitung von Hans Gerstmann begann mit Nachforschungen zu den sowjetischen Toten.
Gedenkstätte und Museum Trutzhain
Die "Gedenkstätte und Museum Trutzhain" wurde schließlich elf Jahre später am 27. Juni 2003 feierlich eröffnet. Die vierte zentrale NS-Gedenkstätte in Hessen erinnert an das Schicksal der Kriegsgefangenen im Stalag IX A Ziegenhain unter dem NS-Regime sowie an die Umnutzungsphasen des Lagers nach 1945.
Die Stadtverordnetenversammlung fasste am 26. April 1995 den Beschluss, das bestehende Friedensmuseum "mit einer wissenschaftlich, museal und didaktisch fundierten Konzeption sowie einer thematischen Erweiterung" in eine ehemalige Wachbaracke des STALAG IX A zu verlegen.
Schlussbemerkung: Probleme einer angemessenen Erinnerung in Trutzhain
Von jeher war es schwierig, Geschichte objektiv aufzuzeichnen. Denn die geschichtlichen Erfahrungen, die ein jeder in sich trägt, sind subjektiv und werden durch äußere Einflüsse, wie neue Erfahrungen, Erlebnisse und Gespräche mit anderen interpretiert, so dass jede Person, aber auch eine Gruppe oder Nation ein eigenes Bewusstsein von der Geschichte entwickelt und dieses bewahrt.
Dies war in Trutzhain nicht anders. Bis zur politischen Entscheidung 1995, eine Gedenkstätte und ein Museum in Trutzhain zu errichten, wurden von den unterschiedlichsten Gruppen aus den vielfältigsten Motiven an verschiedene Zeiten der Geschichte des Lagers erinnert, während andere wiederum in Vergessenheit gerieten. Außerdem spiegelte die Erinnerung in Trutzhain auch die bundesdeutsche Erinnerungspolitik wider, die bis in die 1980er Jahre von einem Verdrängen der NS-Zeit geprägt war.
Das ehemalige STALAG IX A Ziegenhain erfuhr in der Nachkriegszeit drei Umnutzungen. Es ist also auch kein ungebrochenes Ergebnis historischer Überlieferung, sondern es trägt verschiedene zeitlich aufeinanderfolgende Spuren der Nutzung in sich und daraus ergibt sich keine eindeutige Form des Gedenkens. So besitzt das Lager neben den ehemaligen Kriegsgefangenen des Stalags für drei weitere Personengruppen eine ganz unterschiedliche emotionale und symbolische Aussagekraft.
Zur Zeit des Internierten- und DP-Lagers wies das Lager noch keine größeren architektonischen Veränderungen auf. Der Stacheldraht und die Wachtürme waren genauso noch vorhanden wie die karg eingerichteten Baracken. Erst nach dem Einzug der heimatlosen Deutschen wurden verschiedene Überreste, die an das Stalag erinnerten, abmontiert und die Baracken zu Wohnhäusern umgebaut, so dass nur noch die äußeren Fassaden und die Straßenzüge an das Lager erinnern. Der Geist des Kriegsgefangenenlagers - soweit das möglich war - wurde vertrieben und ein Familien- und Wirtschaftsleben hielt in den ehemaligen Baracken Einzug, so dass sich auch die öffentliche Wahrnehmung an das Lager veränderte: Das STALAG IX A Ziegenhain gab es nicht mehr, nun existierte an gleicher Stelle die (Flüchtlings-) Gemeinde Trutzhain, die aber trotz der vielfältigen Bemühungen die Aura des Gefangenenlagers nicht vollständig abstreifen konnte. Auch die beiden Friedhöfe veränderten sich nach dem Krieg. Auf dem Alliiertenfriedhof erinnerten nach den Exhumierungen der Kriegsgefangenen nur noch das Denkmal der trauernden Frau und das geschnitzte Eingangstor an das Kriegsgefangenenlager. Doch da es als Symbol für alle trauernden Frauen, Mütter und Töchter stehen konnte, wurde es in das allgemeine Gedächtnis der Gemeinde an die verstorbenen Angehörigen des Krieges miteinbezogen, hatte darüber hinaus aber zunächst keine auf das Kriegsgefangenenlager bezogene öffentliche Symbolkraft. Erst mit der Annäherung zwischen dem französischen Veteranenverband und der Bevölkerung Trutzhains erhielt es wieder eine ausdifferenzierte Aufgabe. Für "Les Anciens du Stalag" war sie Gedenkort für die verstorbenen Kameraden und im Rahmen der deutsch-französischen Freundschaftstreffen wurde sie zum Sinnbild für die Verständigung und Versöhnung zwischen Gegnern, die gemeinsame Gedenkfeiern an diesem Denkmal feierten.
Besonders der Waldfriedhof zeigte wie das Lager selbst die Mehrdeutigkeit des Erinnerungsortes Trutzhain auf und wie ein Ort für verschiedene Erinnerungspraxen herangezogen werden konnte. Wie oben beschrieben, liegen dort Tote aus drei Lagerphasen begraben, derer in sehr unterschiedlicher Weise und Intensität gedacht wurde. Auffällig war die optische Aufwertung der Interniertengräber in den 1960er Jahren und Gedenkfeiern ihnen zu Ehren sowie das im gleichen Zeitraum einsetzende Vergessen der dort auch bestatteten sowjetischen und serbischen Kriegsgefangenen durch das Einebnen ihrer Grabstätten. Dies entsprach einer allgemeinen Tendenz in der Nachkriegszeit, das Gedächtnis an den Zweiten Weltkrieg und die NS-Verbrechen auszulöschen. Der Umgang mit dem Lager in Trutzhain, seine Überformung und architektonischen Veränderungen durch die multiplen Umnutzungen und schließlich die Gründung des Ortes war nicht einzigartig im Nachkriegsdeutschland, wie die Beispiele von anderen Lagern wie Sandbostel oder auch Bathorn zeigen. Auch in Trutzhain waren Erinnerungsverschiebungen durch die verschiedenen Lagerphasen und deren Akteure die Folge. Sie beeinflussten, ob und wie an die Geschichte vor Ort erinnert wurde. Eine differenzierte und kritisch hinterfragende Erinnerungsarbeit, bei der alle multiplen Lagerphasen dargestellt und erinnert werden, blieb bis zur Gründung der "Gedenkstätte und Museum Trutzhain" 2003 aus. In den letzten 20 Jahren ist ein allgemeiner Institutionalisierungsprozess von Gedenkstätten auf lokaler wie nationaler Ebene erkennbar. Gedenkstätten haben sich als Teil der deutschen Erinnerungskultur etabliert und stehen nicht mehr am Rand der öffentlichen Wahrnehmung. Offen bleibt jedoch, wie sich die Formeln des Erinnerns und Gedenkens verändern. Auf jeden Fall darf mit der Etablierung der NS-Gedenkstätten - auch nicht in Trutzhain - Erinnerung als "vollbrachte Leistung" angesehen werden, wie Volkhard Knigge warnte.
Zitierweise: Corinna Wagner, Gedenkstätte und Museum Trutzhain, Probleme einer angemessenen Erinnerung in NS-Gedenkstätten mit multiplen Vergangenheiten nach 1945. Ein Fallbeispiel. In: Deutschland Archiv Online, 21.03.2013, Permalink: http://www.bpb.de/156917