Gemeinhin lässt der Begriff der Notaufnahme an die entsprechende Station eines Krankenhauses denken, auf der die Notfallpatienten eine erste medizinische Versorgung erhalten. Im folgenden Zusammenhang spiegelt der Begriff des Notaufnahmelagers jedoch die Befindlichkeit der deutschen Nachkriegsgesellschaft wider, die in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands bis Mitte der 1950er Jahre großen Bevölkerungsbewegungen ausgesetzt gewesen war. Zur Befriedung Mitteleuropas hatten die Alliierten die Umsiedlungsmaßnahmen der deutschsprachigen und deutschstämmigen Bevölkerung aus den nunmehr polnischen und tschechischen Grenzgebieten angeordnet. Konnten sich die deutschen Landesregierungen in den westlichen Besatzungszonen aufgrund der bedingungslosen Kapitulation und des damit verbundenen Status der alliierten Besatzung schon nicht gegen die Umsiedlungen verwahren, so versuchten sie ab Ende der 1940er Jahre, zumindest den Zuzug von Deutschen aus der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und späteren DDR zu begrenzen. Deshalb führte das Notaufnahmegesetz von 1950 die bis dahin in der britischen und amerikanischen Besatzungszone bestehenden Regelungen zusammen und schrieb fest, Personen aus der SBZ/DDR nur in Ausnahmefällen aufzunehmen, also aus politischen Gründen oder wenn ihnen Gefahr für Leib und Leben drohte. Als Not galt hierbei weniger die prekäre Lage eines Flüchtlings; vielmehr sah sich die Bundesrepublik in der Not, diese Menschen zusätzlich zu versorgen.
Das Notaufnahmegesetz gab also den Lagern in Uelzen-Bohldamm, Gießen und Marienfelde ihre Namen. Das Gießener Flüchtlingslager war 1946 gegründet worden und bestand als kleinstes der drei Lager bis 1990 als Erstaufnahmeeinrichtung für Übersiedler aus der DDR. Im Folgenden werden seine Entstehung und seine Verstetigung skizziert sowie nach Kontinuitäten von äußeren Lagerstrukturen gefragt.
Ein Flüchtlingslager entsteht
Seit April/Mai 1945 gehörte die Normalisierung des täglichen Lebens in den verschiedenen Besatzungszonen Deutschlands zu einer der wichtigsten Aufgaben der Besatzungsmächte: Zum einen war ein Großteil der städtischen und betrieblichen Infrastrukturen zerstört, zum anderen galt es, die ortsansässige Bevölkerung und diejenigen Menschen, die in dieser Zeit auf der Flucht oder auf der Suche nach Verwandten waren, mit Lebensmitteln, Wohnraum und Brennstoffen zu versorgen. Die alliierte Anordnung, Deutsche aus den einstigen Ostgebieten aufzunehmen, stellte angesichts der angespannten Wohnraumsituation und der Arbeitsmarktlage eine zusätzliche Herausforderung dar.
Auch in Gießen waren die Lebensverhältnisse für die ca. 31.000 Einwohner in dieser Zeit schwierig: Alliierte Bombenangriffe und ein sich anschließender Großbrand im Winter 1944/45 hatten einen Großteil der Gebäude und der innerstädtischen Infrastrukturen zerstört. Von ehemals 3.800 Gebäuden im inneren Stadtbezirk waren nur 45 Gebäude unbeschädigt geblieben, und von ehemals 12.000 Wohnungen galten nur ca. 865 als unversehrt. Lediglich der Bahnhof und ein Großteil der Wehrmachtskasernen blieben erhalten und funktionsfähig. Viele Gießener wurden in die umliegenden Gemeinden evakuiert oder hausten in den Kellern der zerstörten Stadt, als die amerikanischen Besatzungstruppen in Gießen Quartier bezogen. Die US-Army beschlagnahmte die Kasernen und einen Teil der unversehrten Häuser und Wohnungen, womit sich die Wohnungslage in der Stadt zusätzlich verschärfte. Bereits im Frühjahr 1945 wurde in Gießen eine Sozial- und Flüchtlingsverwaltung gegründet, die den Heimatlosen und Durchwanderern vorübergehend Unterbringung und Versorgung anbot. Diese organisierte auch die - möglichst rasche - Weiterreise. Zum 1. Juli 1945 bezog das Sozialamt deshalb das notdürftig instandgesetzte Hotel Lenz gegenüber dem Bahnhof.
Ende Oktober 1945 teilte die US-amerikanische Besatzungsmacht der hessischen Landesregierung mit, dass etwa 600.000 Volksdeutsche in Hessen aufzunehmen seien. Die neue Landesregierung wiederum forderte verschiedene Städte und Gemeinden auf, unter ihnen die Stadt und der Landkreis Gießen, Räumlichkeiten für die anstehenden Aufgaben der Registrierung, der medizinischen Versorgung, der Versorgung mit Nahrungsmitteln und der kurzfristigen Unterbringung der Umzusiedelnden bereitzustellen. Die vorbereitenden Maßnahmen beinhalteten, dass die kommunale Sozial- und Flüchtlingsverwaltung dem Staatskommissariat für das Flüchtlingswesen unterstellt wurde, welches seinerseits dem Hessischen Ministerium für Arbeit und Wohlfahrt zugeordnet war. Der Staatskommissar für das Flüchtlingswesen ernannte - in Rücksprache mit den Kommunalverwaltungen - den Flüchtlingskommissar für die Stadtverwaltung und den für den Landkreis Gießen. Während der erste vom Hotel Lenz aus arbeitete, bezogen letzterer sowie das Gesundheitsamt die untere Etage des Hotels Kobel, ebenfalls in Bahnhofsnähe gelegen. Beide Einrichtungen schienen eng zusammenzuarbeiten, der Flüchtlingskommissar der Stadt koordinierte die organisatorischen Vorbereitungen.
1946 standen den Umzusiedelnden in der Stadt Gießen drei Gebäude als provisorische Unterkünfte zur Verfügung, die als "Flüchtlingslager" bezeichnet wurden. Hierbei handelte es sich um das Hotel Lenz für 100 Personen, um die studentische Unterkunft Otto-Eger-Heim mit einer Kapazität für 600 Personen sowie um zwei Baracken in Bahnhofsnähe für zusammen 100 Personen. Die Flüchtlingslager des Landkreises befanden sich in Lich (350 Personen), am Flugplatz Ettingshaus (150 Personen) und in Freienseen (100 Personen). Damit zeichneten sich in der Stadt Gießen und im gleichnamigen Landkreis dezentrale Strukturen für Flüchtlingseinrichtungen in der amerikanischen Besatzungszone ab. Dies kann - wie am Beispiel Gießens - auf die allgemein beengte Raum- und Gebäudesituation der Stadt zurückgeführt werden. Der Hauptgrund mag darin gelegen haben, dass die westlichen Alliierten Assoziationen mit einstigen NS-Lagern vermeiden wollten, weshalb in diesem Fall nicht auf vorhandene Lagerstrukturen zurückgegriffen wurde, sondern vielmehr Gaststätten, Schulen, Vereinshäuser oder eben Hotels als provisorische Unterkünfte für die Umzusiedelnden dienten. Auf die bis dahin übliche äußeren Kennzeichen von Lagern, wie etwa auf einen Zaun und auf eine Schranke wurde in diesen Fällen verzichtet.
Dass sich dennoch die Frage nach der Kontinuität zur NS-Zeit aufdrängen konnte, verdeutlicht der Bericht des Gießener Oberbürgermeisters, der dem Darmstädter Regierungspräsidenten im Dezember 1945 beflissen über den Stand der Vorbereitungen zur Aufnahme der Umzusiedelnden unterrichtete: "Gruppenweise werden die Ostrückwanderer unter Polizeischutz (...) vom Zug zur Entlausung in die von der Stadt bereitgestellten Baracke geführt. Von dort wird die jeweilige Gruppe in die Flüchtlingszentrale zur gründlichen Untersuchung gebracht (...). Erst nachdem die Rückwanderer auf ihrem Laufpass einen Vermerk ‚frei von Läusen und ansteckenden Krankheiten’ erhalten haben, können sie zu den für sie hergerichteten Quartieren weitergeleitet werden." Die Gießener Stadtverwaltung konzentrierte sich formal an den Aufgaben von Polizeischutz und medizinischer Versorgung. Der sachliche Ton mag charakteristisch für die Verwaltungssprache jener Zeit gewesen sein und doch zeigt seine Wortwahl, wie eng das Wohl bzw. Wehe der Umzusiedelnden in solchen Provisorien beieinander liegen mochten.
Die Stadt Gießen und die mit der Aufnahme der Vertriebenen betrauten Institutionen waren jedenfalls auf den Tag X vorbereitet. Diese Maßnahmen konzentrierten sich auf Sicherheit und Kontrolle sowie auf stabile Verhältnisse in der Stadt. Bereits am 10. Februar 1946 traf der erste Flüchtlingszug aus Mähren ein. 600 Personen wurden nach Friedberg weitergeleitet, die anderen 600 fanden Unterkunft in den genannten Räumlichkeiten. Nur einen Tag später lud die Landesregierung den Oberbürgermeister der Stadt, die Landräte verschiedener Landkreise, die Flüchtlingskommissare, den Polizeidirektor sowie Vertreter der Stadtverwaltung und hessischer Hilfsorganisationen zu einer "Konferenz ‚Flüchtlingsfragen’" in Gießen, vermutlich um so den Akteuren der Aufnahmeregion ihre Unterstützung zuzusichern.
Vom Regierungsdurchgangslager zum Notaufnahmelager
Ende 1946 stoppten die Alliierten die Ausweisung von Deutschen aus den Vertreibungsgebieten, und die Anzahl der Umzusiedelnden nahm ab. Trotzdem wurde das Gießener Flüchtlingslager nicht aufgelöst, vielmehr wurde es auf Anordnung der Hessischen Regierung zu einem Regierungsdurchgangslager. Zu den Aufgaben dieser –Art von Flüchtlingszentrale gehörte es, den Zuzug von Deutschen nach Hessen zu kontrollieren, war dieser doch aufgrund der angespannten Wohnraumsituation in den hessischen Städten von der Besatzungsmacht stark eingeschränkt worden.
Zu den Personengruppen, die das Lager aufzusuchen hatten, gehörten neben den Umzusiedelnden zeitweise Displaced Persons, heimkehrende Kriegsgefangene oder auch entlassene Internierte. Auch diejenigen, die in den ersten Nachkriegsjahren in anderen Ländern auf ihre Rückkehr nach Deutschland gewartet hatten, wurden hier durchgeschleust, wie es in der Amtssprache hieß. Bis 1950 wickelte das Lager "Transporte mit Flüchtlingen aus den Vertreibungsgebieten, Dänemark, Schleswig-Holstein, Österreich, Shanghai, Jugoslawien und Rumänien" ab. Eine weitere Personengruppe waren illegale Grenzgänger. So wurden offiziell jene Deutsche bezeichnet, die selbstständig von einer Besatzungszone in die andere wechselten. Da die Anzahl der illegalen Grenzgänger vor allem aus der sowjetischen Zone stetig zunahm, sahen sich die deutschen Behörden in der britischen und amerikanischen Besatzungszone gezwungen, deren Aufnahme zu beschränken. Auf einer Konferenz der deutschen Länder der britischen und amerikanischen Besatzungszone im Juli 1949 wurde die Uelzener Entschließung verabschiedet, die festschrieb, aus welchen Gründen welche Grenzgänger aus der SBZ aufgenommen werden sollten. Außerdem beschlossen die Vertreter, künftig nur noch zwei Flüchtlingslager für SBZ-Flüchtlinge je Besatzungszone zu betreiben. Für die britische Zone wurde das Uelzener Lager vorgehalten. In der amerikanischen Zone gestaltete sich die Standortfindung nicht ganz so einfach. Zunächst war eine Einrichtung in Ulm, später eine bei Hof-Mochendorf in Bayern im Gespräch. Weil es in der einen Einrichtung logistische Schwierigkeiten gab und die andere für einen anderen Personenkreis vorgesehen war, fiel die Wahl des US-Zonenlagers schließlich auf Gießen.
In der Folge schien sich die hessische Landesregierung am Uelzener Beispiel eines Zentrallagers für Flüchtlinge zu orientieren. Die bislang bestehenden dezentralen Strukturen wurden nun aufgegeben und ein Gelände oberhalb des Bahnhofs hergerichtet, das den Verantwortlichen für ein Flüchtlingslager geeignet erschien. Die bisher vom Lager genutzten ehemaligen Baracken in der Stadt wurden ab- und auf dem Gelände des Viehmarkts wieder aufgebaut. Welche Entscheidungen dazu führten, dass die dezentralen Lager-Strukturen, die vor allem dem missliebigen "Lagereindruck" entgegenarbeiten sollten, aufgegeben wurden, ist noch unbekannt. Vielleicht war ein Ausdruck von Souveränität gegenüber der Besatzungsmacht, vielleicht war es aber auch ein Angebot an die Stadt, die über die vielen Menschen vor bzw. auf dem Bahnhofsvorplatz gar nicht glücklich war. Vielleicht sollten aber auch Verwaltungskompetenzen gebündelt werden.
Zu einer Verbesserung der Lebensumstände im Lager jedenfalls führte die Zentralisierung zunächst nicht. Vielmehr kritisierte der Flüchtlingsausschuss des neugegründeten Bundestages, der das Gießener Lager im November 1949 besuchte, die geringe finanzielle Unterstützung des Lagers durch das Land Hessen, die unzureichende Ernährung der Flüchtlinge und den Umstand, dass Flüchtlinge auf dem Boden schlafen mussten. In den Folgemonaten wurden diese Missstände behoben und im Anschluss an eine erneute Besichtigung Anfang März 1950 wurde vermerkt: "Gut abgeschnitten. […] Die Verantwortlichen waren von der vorteilhaften Veränderung des Lagers gegenüber der letzten Besichtigung so beeindruckt, dass die Entscheidung zu Gunsten des Lagers gefällt wurde." Zu diesem Zeitpunkt bestand das Lager aus sieben Wohnbaracken, vier Wirtschaftsbaracken, einer Kranken- und einer Kulturbaracke. Das Lager bot etwa 740 Flüchtlingen Unterkunft und Versorgung, ihre Unterbringung erfolgte nach Geschlechtern getrennt in Gemeinschaftsunterkünften. Die Baracken selbst entstammten in aller Regel aus den Beständen des Reichsarbeitsdienstes. Die Wahl des Standortes des neuen Flüchtlingslagers verweist auf die lokale Kontinuitäten: Nach dem Ersten Weltkrieg befand sich auf dem Gelände des Viehmarktes ein Heimkehrerlager für Soldaten. In der Zwischenkriegszeit diente es den Sinti und Roma und "Schaustellern" als Stellplatz für ihre Wohnwagen. Nach Kriegsende zogen auch diese wieder umher und fanden hier erneut Unterkunft. Mit der Errichtung eines neuen Flüchtlingslagers wurde vor allem ihr Stellplatz stark verkleinert, was in der Folge zu Spannungen mit den Lagerinsassen des Flüchtlingslagers führen sollte.
Territorial gesehen befand sich das neue Lager damit vor den Toren der Stadt, denn es lag hinter dem Bahnhof. Wollte man so die Fremden aus der Stadt fernhalten oder die Bewohner der Stadt schützen? Bekannt ist, dass die Stadtverwaltung um 1948/49 viel daran setzte, eine Verlegung des Lagers zu erreichen.
Und noch etwas scheint wichtig: Im Fall der provisorischen Unterkünfte für die Umzusiedelnden wurde nicht auf bereits bestehende infrastrukturelle Einrichtungen aus der NS-Zeit - etwa auf Kriegsgefangenen- oder andere NS-Lager - zurückgegriffen, sondern neue Lager geschaffen. Damit distanzierten sich sowohl die Landesregierung als auch die Stadtverwaltung von der NS-Zeit.
Der Ausbau des Notaufnahmelagers
1952 stiegen die Flüchtlingszahlen aus der DDR erneut stark an. Die Gründe hierfür waren vielfältig: Die SED proklamierte den Aufbau des Sozialismus, befestigte ihren Grenzstreifen entlang der Demarkationslinie und erhöhte die Arbeitsnormen der Werktätigen. Erst der Volksaufstand am 17. Juni 1953 führte dazu, dass die Flüchtlingszahlen etwas abnahmen, nicht zuletzt, weil die Normerhöhungen zurückgenommen worden waren. Nach den Grenzsicherungsmaßnahmen der DDR vom 26. Mai 1952 konnten Fluchtwillige nicht mehr einfach die grüne Grenze, wie die Demarkationslinie im Volksmund genannt wurde, überschreiten. Deshalb verließ der Großteil der Flüchtlinge die DDR fortan über Berlin. Weil dadurch die West-Berliner Lager alsbald hoffnungslos überfüllt waren, erfolgte am 30. Juli 1952 die Grundsteinlegung für ein neues großes Flüchtlingslager in Berlin-Marienfelde. Als 1953 das Notaufnahmelager Marienfelde medienwirksam eröffnet wurde, galt es mit den fünfzehn dreistöckigen Gebäuden als modernste Einrichtung dieser Art in der Bundesrepublik.
Es ist davon auszugehen, dass das Lager Marienfelde zu so etwas wie einem Vorbild für lagerähnliche Einrichtungen in der Bundesrepublik wurde. Außerdem setzte es sich die hessische Landesregierung in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zum Ziel, die bestehenden Baracken als Unterkünfte für Vertriebene und Flüchtlinge zu schließen. Im März 1955 kaufte das Land Hessen in Gießen das Lagergelände und bald darauf begann ein für eine ursprünglich temporär angelegte Einrichtung untypischer Umbau: Die Baracken wurden abgerissen und verkauft. An ihre Stelle rückten neue massive Häuser mit mehreren Etagen, zuerst ein Wirtschaftsbau mit Küche, Speisesaal und Kantine. Ihm folgten je ein dreigeschossiges Verwaltungs- und zwei Unterkunftsgebäude. In der Anordnung der Gebäude entstand ein Hof, der als Versammlungs- und Feierplatz, später auch als Parkplatz genutzt wurde. Die letzte Bauphase begann nach dem Mauerbau: Im September 1961 fand eine Besprechung über den "Endausbau des Lagers" statt. Dabei wurde der Bau eines fünfgeschossigen Unterkunfts- und Bürogebäudes, einer neuen Krankenstation, einer größeren Gemeinschaftshalle und eines Pförtnerhauses bewilligt. Nach Abschluss dieses insgesamt etwa fünf bis sieben Jahre dauernden Projekts verfügte das Gießener Notaufnahmelager über eine Aufnahmekapazität von etwa 700 Personen.
Zum bisherigen Kenntnisstand deutet kaum etwas darauf hin, dass der Ausbau des Lagers mit den hohen Flüchtlingszahlen aus der DDR begründet wurde. Es bleibt noch unbeantwortet, auf welche politischen Entscheidungen die Verstetigung der Gebäude und damit des Lagers zurückzuführen ist. Denkbar ist, dass die Flüchtlingsunterkünfte an die urbanen Strukturen der Stadt anknüpfen sollten, um so ihre Akzeptanz vor Ort zu erhöhen. Vielleicht waren die Lagergebäude als Eintrittsportal oder Schaufenster gedacht, mit denen sich die Bundesrepublik den deutschen Brüdern und Schwestern in der DDR präsentieren wollte. Nicht zuletzt sollten die neuen Gebäude demonstrieren, dass man glaubte, die unmittelbare Nachkriegszeit erfolgreich überwunden zu haben.
Das Lager nach dem Mauerbau
Die Bundesregierung reagierte erst knapp zwei Jahre nach dem Mauerbau auf die veränderte Flüchtlingssituation: Zum 1. April 1963 wurden das Lager Uelzen-Bohldamm in Niedersachsen geschlossen und das Lager Marienfelde in den Folgejahren um ein Drittel verkleinert. Gleichzeitig erhielt das Lager in Gießen den Status eines zentralen Bundesnotaufnahmelagers für alle Flüchtlinge aus der DDR. Hierfür wurden zunächst die Jugendlager in Krofdorf und das Haus Elisabeth in die Einrichtung integriert. Weil die Belegungskapazität im Notaufnahmelager Gießen noch immer zu hoch war, wurde sie schließlich halbiert. So gab es um 1965 insgesamt 132 Unterkünfte für erwachsene Flüchtlinge, 72 für jugendliche, allein reisende Männer und acht für jugendliche, allein reisende Mädchen. Weitere 100 Betten wurden für Studenten und 46 für Krankenschwestern bereitgehalten und genutzt; das Krankenhaus konnte 40 Patienten betreuen. Weil die Kapazitäten für die erwachsenen Flüchtlinge nach dem Mauerbau nur selten ausgeschöpft waren, erfolgte die Unterbringung von Familien zunehmend auch in Doppelzimmern.
Damit erinnerte im Grunde kaum noch etwas an die einst typischen Merkmale eines Lagers. Feste Gebäude hatten die Baracken ersetzt. Die ursprüngliche "Architektur auf Zeit", wie die Baracken einmal bezeichnet worden waren, wurde in eine Architektur der Zeit transformiert. Sie waren kantig, klotzig und funktional. Die räumliche Enge einstiger Gemeinschaftsunterkünfte war in den Viermann- und Doppelzimmern zwar noch nicht vollständig aufgehoben, doch der individuelle Raum eines Flüchtlings bei weitem nicht mehr so beschränkt wie Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre; gleiches galt für die sanitären Einrichtungen. Erhalten blieb die Abgrenzung des Lagers nach außen, gut sichtbar mit einer Schranke am Pförtnerhaus und einem Zaun um das Lagergelände, sowie rudimentäre Merkmale einer Lagerordnung.
Die Flüchtlingszahlen von DDR-Bewohnern gingen zwischen 1961 und 1989 stark zurück, weshalb von einer Auslastung der Lagergebäude keine Rede mehr sein konnte. Deshalb gewährte das Lager in den 1960er und 1970er Jahren Gießener Institutionen so etwas wie Notaufnahme, wenn auch wiederum in einem ganz anderen Sinne. Ab etwa 1967 residierte hier die Kriminalpolizei der Stadt, bis deren Verwaltungsbau 1972 fertig gestellt und bezugsfertig war. Es gab - wie angedeutet - erfolgreiche Verhandlungen mit der Gießener Universität, die dringend Schwesternheime bzw. Lernschwesterwohnheime benötigte. Letztlich wohnten hauptsächlich ausgelernte Krankenschwestern in einem Unterkunftsgebäude des Lagers, hatte doch das hessische Kultusministerium Bedenken geäußert, die Verantwortung für die minderjährigen Lernschwestern im Lager nicht übernehmen zu können. Parallel dazu wurde ein Gebäude als Studentenwohnheim genutzt. Später wurde ein Unterkunftsgebäude zu einer Schule für spätausgesiedelte Jugendliche umgebaut, die hier sowohl einen Sprachkurs absolvieren und als auch einen Schulabschluss anstreben konnten. Weitere Beispiele ließen sich anführen.
Damit werden einmal mehr die flexiblen Arbeitskontinuitäten einer solchen Einrichtung deutlich, die mit verhältnismäßig geringem Aufwand immer wieder neue, andere Aufgaben übernehmen konnte. Es bleibt noch zu untersuchen, welche Strukturen hierfür die nötigen Bedingungen schufen. Die zunächst der Baracke als preiswerte Unterbringungsmöglichkeit zugeschriebene Charakteristik von begrenzter Zeitlichkeit mag zwar der Flexibilität der Lager entgegengearbeitet haben, letztere waren aber nicht auf sie angewiesen, wie die erfolgreiche Modernisierung und ihre anschließende Nutzung belegen.
Resümee
Vorliegend wurde der langjährige Prozess einer Verstetigung skizziert. Eine zunächst als Provisorium konzipierte und betriebene Einrichtung entwickelte sich über einen Zeitraum von 25 Jahren zu einer Institution. Hierfür wurden die unter der amerikanischen Besatzungsmacht geschaffenen dezentralen räumlichen Strukturen an einem neuen Standort zentralisiert, wobei man – wider Erwarten - an die Tradition der Vorkriegszeit anknüpfte.
Der Bau einer aus festen Gebäuden bestehenden Einrichtung schien den bis dahin üblichen Aufgaben zu widersprechen, die die Machthabenden bis dahin den Lagern zugeschrieben hatten - dem Insassen seine Rand-Position in der Gesellschaft aufzuzeigen und ihn damit aufzufordern, rasch Eigeninitiative zu zeigen und sich in die Gesellschaft zu integrieren. Zwar können die Neubauten auch als "Schaufenster des Westens" interpretiert werden, mit denen den Deutschen aus der DDR ein spezifisches Bild von Freiheit und Demokratie präsentiert werde sollte. Vor allem aber signalisierte die Modernisierung dieser Provisorien der eigenen Gesellschaft, dass die man Nachkriegszeit Anfang der 1960er Jahre nunmehr endgültig überwunden glaubte.
Zitierweise: Jeanette van Laak, Das Notaufnahmelager Gießen. In: Deutschland Archiv Online, 27.3.2013, Link: http://www.bpb.de/157195