I. Einleitung - Totenstille bei Willy Brandts Besuch in Ost-Berlin
Als Bundeskanzler Willy Brandt 1970 nach Erfurt reiste, wurde ihm riesiger Zuspruch der DDR-Bürger zu Teil. Als er 1985 Ost-Berlin besuchte, war davon nichts zu spüren. Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (nachfolgend: MfS) hatte getarnte Mitarbeiter als Schaulustige eingesetzt, um eine ähnliche Szenerie zu verhindern. Im Jargon des MfS wurde dies irreführend als "bürgernahe Sicherungstaktik" bezeichnet.
In der Folge werden Brandts Besuch im Spiegel der westlichen Medien beschrieben und die internen Abläufe des MfS bei diesem Einsatz aufgearbeitet. Die Ergebnisse münden im Hinblick auf die Geschichte der DDR und des MfS in den 1980er Jahren in der These, dass es sich hier nicht nur um eine Strategieanpassung bezüglich Willy Brandt handelte, sondern dass sich in der "bürgernahen" Taktik ein Anpassungsversuch des MfS auf die neuen Herausforderungen der DDR und die Kontextbedingungen der 1980er Jahre insgesamt offenbart.
Als Quellengrundlage dienen dabei die Akten des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU). Diese ermöglichen einen Einblick in die internen Abläufe zwischen den verschiedenen involvierten Abteilungen des MfS und offenbaren durchaus Diskrepanzen zwischen den einzelnen Stellen. Es kann vermutet werden, dass die neue Taktik in der Folge noch häufiger zum Einsatz gebracht wurde. Es wären weitere Forschungen von Nöten, um den genauen Umfang des Einsatzes dieser Vorgehensweise einschätzen zu können. Die Betrachtung des "bürgernahen" Einsatzes stellt einen neuartigen Zugang zur Geschichte der Stasi dar.
Der Brandt-Besuch in den Medien
"Die Polizeiabsperrungen hielten dem Druck nicht mehr stand. Scharen von Menschen strömten auf den Bahnhofsvorplatz. […] Plötzlich ertönten die ersten Willy-Rufe. 'Willy Brandt ans Fenster'." So oder ähnlich wurde in den westdeutschen Medien 15 Jahre später dem historischen Besuch Willy Brandts in Erfurt 1970 gedacht. Anlass für die neuerliche Berichterstattung war die anstehende Visite des SPD-Vorsitzenden in Ost-Berlin am 18. September 1985, die ebenfalls einen bemerkenswerten Verlauf nehmen sollte. Denn Willy Brandts Besuch sollte für das MfS der Auftakt zu einem veränderten Umgang mit den DDR-Bürgern werden. Sie reagierte damit auf die abnehmende Akzeptanz des Regimes im Inneren.
"Willy Brandt [war] im deutsch-deutschen Verhältnis nicht irgendwer", wie betont wurde - nach seinen großen Erfolgen in der Ostpolitik war er 1974 wegen der Guillaume-Affäre als Bundeskanzler zurückgetreten. Sein Verhältnis zu den Spitzen der DDR blieb schwer belastet: "Die Spionageaffäre Guillaume […] war nicht vergessen." Jahre zuvor hatten die begeisterten Reaktionen der ostdeutschen Bevölkerung auf den Aufenthalt Brandts in Erfurt die Machthaber in eine unangenehme Situation gebracht. Folgerichtig wurde die Strategie bei künftigen Besuchen geändert - so wirkte die Stadt Güstrow wie ausgestorben, als Bundeskanzler Helmut Schmidt sie 1981 für ein Arbeitstreffen besuchte. Zu dieser Zeit erinnerte man sich in der Staatsführung "mit Grausen" an die Reaktionen in der Bevölkerung auf Brandts Visite 1970. Daher ließ die Staatssicherheit lediglich ausgewählte Kader in die Nähe von Schmidt und Honecker, um spontane Sympathiebekundungen zu verhindern. Das Regime hatte aus den eigenen Fehlern gelernt. Dennoch waren die leeren Straßen nicht das optimale Bild, um sich propagandistisch stimmig gegenüber der eigenen Bevölkerung und dem Westen zu präsentieren.
Damit stellte sich die Frage nach der Organisation des Brandt-Besuchs 1985, denn "Helmut Schmidts Gang durch das zur Geisterstadt abgeriegelte Güstrow" war "da noch in genauso guter Erinnerung wie Brandts einziger Kurz-Aufenthalt in der 'DDR', als er 1981 François Mitterrand […] begleitete." Er selbst hegte wohl keine allzu großen Hoffnungen, erneut in engen Kontakt mit der Bevölkerung treten zu können: "Die lassen mich in der DDR nicht frei herumspazieren, die denken gar nicht daran." Er schätzte vielmehr, "daß da etwas übriggeblieben ist von damals […], etwas, das nicht zur Wiederholung ermutigt." Diese Einschätzung entsprach dem Tenor in den westdeutschen Medien, die es ebenfalls für "höchst fraglich" hielten, ob sich Szenen wie in Erfurt wiederholen würden. Zudem wurde schlicht festgestellt, dass "Ost-Berlin Willy-Rufe zu verhindern wissen" werde.
Brandts Besuch verlief durchaus unüblich, da er von Honecker wie ein Staatsgast empfangen wurde, obwohl weder er noch die SPD Regierungsverantwortung trugen und die Folgen der Guillaume-Affäre das Verhältnis der beiden belasteten. Das Protokoll umfasste die folgenden Termine: ein gemeinsames Abendessen, eine Stadtrundfahrt durch Ost-Berlin, ein Treffen mit Vertretern der evangelischen Kirche und Gespräche mit Honecker, bei denen unter anderem "die Einrichtung [einer] gemeinsamen Arbeitsgruppe zur Bildung eines 'atomwaffenfreien Korridors in Europa'" vereinbart wurde. Außerdem gab es einen öffentlichen Auftritt Unter den Linden. Jedoch ließ man Brandt keineswegs "frei herumlaufen […], jede spontane Begegnung mit Ost-Berlinern nach Art der Erfurter 'Willy, Willy'-Rufe 1970 [wurde] vorsorglich ausgeschlossen." Umso mehr verwundert die Szenerie, die sich bei Brandts Termin Unter den Linden ergab. Hier legte er einen Kranz am Mahnmal für die Opfer von Faschismus und Krieg nieder und besuchte das Museum für Deutsche Geschichte. Als er an diesen öffentlichen Orten ankam, hatte sich auch tatsächlich eine größere Menschenmenge versammelt. Jedoch verharrten "hunderte von DDR-Bürgern in Totenstille", als Brandt zur Ehrung der Opfer schritt. Wieso blieben Reaktionen auf den einst gefeierten Brandt aus, obwohl die anwesenden Menschen allem Anschein nach eine exklusive Gelegenheit dazu gehabt hätten? In der Zeit seit seinem Erfurtbesuch hatte sich nichts ereignet, was die öffentliche Meinung in der DDR über Willy Brandt so nachhaltig verändert haben könnte. Viele Beobachter versuchten die Reserviertheit durch die kurzfristige Ankündigung des Besuchs oder die schlecht einsehbare Szenerie vor Ort zu erklären, manche dokumentierten diese lediglich, ohne sie zu hinterfragen.
Andere schauten jedoch genauer hin. So stellte etwa Günter Müchler in seinem Artikel für die "Bonner Rundschau" nüchtern fest: "Die Beamten des Staatssicherheitsdienstes (MfS) hielten sich dezent im Hintergrund." Er identifizierte zwar nicht das Ausmaß des Einsatzes, erkannte unter den Schaulustigen anscheinend aber einige Mitarbeiter des MfS. Auch die ARD-Tagesschau thematisierte diese Beobachtung in der Spätausgabe am 18. September. Deutlich wurden die Journalisten Dravenau und Pieper: Es habe sich "eine 350-köpfige Menschengruppe vor dem Mahnmal gebildet, darunter - man konnte sie gut erkennen - viele Mitglieder des Staatssicherheitsdienstes […]. Sie stehen zumeist in der zweiten Reihe, unauffällig in ihren Lederjacken." Die Autoren offenbaren die Szenerie also als Ergebnis einer "listenreichen Regie" seitens des MfS. Interessanterweise erwähnte Heinz Dravenau sie in seinem einige Zeit später erschienenen Artikel im "Vorwärts" nicht mehr. Auch in der am 23. September 1985 publizierten Ausgabe des Magazins "Der Spiegel" wurde diese Beobachtung nicht thematisiert, obwohl sie aufgrund des zeitlichen Abstands mittlerweile bekannt gewesen sein dürfte. Möglicherweise wurde dieser Feststellung in der medialen Betrachtung mit größerem zeitlichem Abstand wenig Bedeutung beigemessen. Barbara Marshall fasst in ihrer Brandt-Biographie zusammen: "Für wie 'gefährlich' die DDR-Machthaber die potentielle Wirkung Brandts auf die ostdeutsche Öffentlichkeit noch immer einschätzten, kam darin zum Ausdruck, daß bei seinem Museumsbesuch alle anderen Besucher MfS-Angehörige waren."
Eine neuartige Taktik
Die Beobachtung einiger Journalisten entsprach den Tatsachen. In den mittlerweile zugänglichen Akten ist zunächst von "insgesamt und teilweise modifiziert[en], auf den Besuches des SPD-Vorsitzenden abgestimmt[en] zum Einsatz gebrachten Sicherungselemente[n]" die Rede. Hinter dieser hölzernen Umschreibung verbirgt sich eine bei dieser Gelegenheit erstmals angewandte Taktik des MfS. Es waren tatsächlich in großer Zahl getarnte Mitarbeiter samt ihrer Familienangehörigen zum Mahnmal Unter den Linden und ins Museum für Deutsche Geschichte transportiert worden, um die Szenerie des Besuchs zu kontrollieren und das Straßenbild, welches sich Beobachtern in West und Ost bot, zu gestalten. Über dieses neuartige Vorgehen tauschten sich die verschiedenen Abteilungen des MfS intern aus. Dabei taucht ein Begriff immer wieder auf, den man heutzutage nur aus anderen Kontexten kennt: der Begriff der Bürgernähe. Was meinte das MfS damit und was bezweckte sie mit ihrer - gegenüber früheren Anlässen - veränderten Taktik?
II. Das neuartige Vorgehen der Staatssicherheit: Die "bürgernahe Sicherungstaktik"
Der Begriff der Bürgernähe ist im heutigen Sprachverständnis einigermaßen klar definiert. Nimmt man das populäre Online-Lexikon Wikipedia als Maßstab für das aktuell verbreitetste Verständnis dieses Begriffs, so ist eine bürgernahe Regierung oder Verwaltung eine, die "auf die Bedürfnisse, Probleme und die allenfalls geäußerten Wünsche der Bürger eingeht" und dabei möglichst "'unbürokratische' Vorgangsweisen" anwendet. Für politische Vereinigungen stellt die Bürgernähe ein prinzipiell positives Konzept dar, wenn die eigene demokratische Legitimation erhöht werden soll.
Legt man ein solches Verständnis zu Grunde, verwundert es, dass eine Terminologie wie etwa die "bürgernahe Sicherungstaktik" in den Akten der Staatssicherheit der DDR auftaucht. Diese hatte jedoch nicht das Ziel, den Schutz der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten (wie eventuell zunächst zu vermuten), sondern vielmehr eine Strategie zu entwickeln, die "generell […] das Vertrauen der Bevölkerung zur Partei und Staatsführung" befördern sollte.
Diese Vorgehensweise wurde wie folgt begründet: "die zunehmende Schärfe der Klassenauseinandersetzung [...] und die weitere allseitige Entwicklung unserer Republik und die nicht zuletzt immer mehr zum Tragen kommende Politik der Bürgernähe ergeben insgesamt ein neues Anforderungsbild, das mit perspektivischem Blick neu bestimmt und konsequent realisiert werden muß." So heißt es in einer Stellungnahme zu den Erkenntnissen aus den Maßnahmen bei Willy Brandts Besuch. Ziel sei "eine das Vertrauen der Bevölkerung zur Partei- und Staatsführung fördernde Sicherungstaktik." Zu diesem Zweck wurden - wie bereits erwähnt - Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und deren Angehörige getarnt als "Schaulustige" bei Willy Brandts Besuch in Ost-Berlin eingesetzt. Parallel zeigte die Staatsmacht jedoch auch durch uniformierte Kräfte Präsenz, um das gewohnte Bild derartiger Anlässe nicht zu gefährden. Der Begriff der Bürgernähe gehörte bis dato nicht zur gängigen Terminologie des MfS. Der Ausdruck wurde wahrscheinlich erst im Zuge der Ausarbeitung der neuartigen Strategie entwickelt.
Arbeitsteilung und Ausführung der Aktion
Federführend für die Operation während des Brandt-Besuchs war die Hauptabteilung Personenschutz (HA PS), deren Aufgabe die "Gewährleistung des Schutzes der führenden Repräsentanten der SED und der DDR sowie ihrer ausländischen Gäste unter allen Bedingungen" war. Leiter der dieser Abteilung war seit 1974 Günter Wolf. Ebenfalls involviert war die Hauptabteilung XXII, "Terrorabwehr". Wie wurde nun das neuartige Vorgehen intern bei der Staatssicherheit betrachtet und bewertet?
Zunächst waren Vorbereitungen nötig, da die Vorgehensweise des "gedeckten" (soll heißen: getarnten) Einsatzes von Mitarbeitern in Zivilkleidung bei offiziellen Terminen ein neuartiger Ansatz war. Daher musste das Personal auf die neue Aufgabe vorbereitet werden. So geht aus einem handschriftlichen Bericht des Hauptamtes Personenschutz hervor, dass "zur Realisierung dieser Einsatzaufgabe, die in gedeckter Form realisiert werden sollte, es notwendig war, aus dem Personalbestand solche Kader auszuwählen und auszubilden (kurzfristig) die in der Lage sind, operativ und flexibel der Situation und Aufgabenstellung entsprechend zu handeln". Und weiter: "In Vorbereitung beider Einsätze wurden ausgehend von den Aufgabenstellungen des Genossen Minister und des Ltr. der HA PS die für die jeweiligen Stützpunkte des Sicherungssystems, der speziellen Handlungen und Einsatzrichtungen der Reserve verantwortlich eingesetzten Leiter anhand der Sicherungskonzeption und vor Ort konkret in ihre speziellen Aufgaben eingewiesen." Insgesamt waren laut diesem Dokument ca. 600 Mitarbeiter (gedeckt und ungedeckt) im Einsatz. Wie die weitere Auswertung der Akten ergab, wurde die Vorbereitung auf diesen Einsatz überwiegend als nicht ausreichend angesehen, anders als es die obige Beschreibung suggeriert.
Interne Auswertung - Positive Bewertung
Über den Verlauf des Einsatzes sowie die Erkenntnisse aus ihm und die Vorgehensweise insgesamt tauschten sich verschiedene Dienststellen aus. Die Bewertung fiel insgesamt recht positiv aus: "Während der Gesamtdauer der Aktion war im Verantwortungsbereich der Hauptabteilung PS eine stabile politisch-operative Lage zu verzeichnen". Grundsätzlich wurde zudem festgehalten, dass sich "die gedeckte Einsatzdurchführung [...] beim Brandt-Besuch im wesentlichen bewährt" habe. Konkreter hieß es später an anderer Stelle, dass es gelungen sei, trotz der zahlreichen "gedeckt" eingesetzten Kräfte, ein normal wirkendes Straßenbild beizubehalten: "Bewährt hat sich der ausschließliche Einsatz von gedeckt handelnden Kräften des MfS, die Einbeziehung von weiblichen Angehörigen und Familienangehörigen der eingesetzten Sicherungskräfte, [...] zur Aufrechterhaltung eines völlig normal wirkenden öffentlichen Lebens in den verschiedensten Handlungsräumen. Die normale Präsenz uniformierter Kräfte und ihr Wirken vor allem in der Tiefe sowie die beabsichtigte Vermeidung des Einsatzes gesellschaftlicher Kräfte ist richtig und zweckmäßig." Zu diesem "völlig normal wirkenden öffentlichen Leben" trug auch die Kleidung der "gedeckten" Mitarbeiter bei, da sie sich unauffällig in das Straßenbild einfügen sollten: "Die Anpassung in der Bekleidung der SK [Sicherungskräfte] entsprechend der konkreten Einsatzlage (Straßenbild) trug zur Tarnung der SM [Sicherungsmaßnahmen] bei und sollte in den weiteren Einsatzdurchführungen beachtet werden." Betont wurde jedoch auch, dass die "bürgernahe Sicherungstaktik [...] nicht auf den Einsatz gedeckt handelnder Kräfte beschränkt werden" solle, damit "für die teilnehmende Bevölkerung […] auch das gewohnte Bild bei öffentlichen Anlässen gesichert werden" könne. Diese positiven Eindrücke über einzelne Aspekte des Einsatzes führten jedoch partiell zu Fehleinschätzungen des Einsatzes. So konstatierte beispielsweise Oberstleutnant Oswald (Hauptabteilung PS, Abteilung XI) es sei "erreicht" worden, "daß die Sicherungskräfte zwar im Handlungsraum präsent waren, aber nicht als solche erkannt wurden."
"Enttarnung" durch die westlichen Medien
Diese Einschätzung war wie gezeigt nur zum Teil korrekt, da der Einsatz getarnter Kräfte von westlichen Medienvertretern erkannt wurde. Dies war logischerweise auch die Hauptkritik, die MfS-intern in der Folge häufig geäußert wurde: "Durch die westlichen Massenmedien" würden "abfällige Bemerkungen über die Sicherungskräfte und -maßnahmen in Umlauf gesetzt", es erfolgte eine "teilweise Enttarnung unseres Vorgehens […]", so das Resümee der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe. Darauf folgte eine Reihe von Zitaten westlicher Medien zur Kenntnisnahme der übrigen Abteilungen. "Insbesondere die eingesetzten Kamerateams" interessierten "sich auffallend deutlich für die laufenden politisch-operativen Sicherungsmaßnahmen", hieß es dazu noch am Tag des Besuchs von Seiten des Zentralen Operativstabs. Kritisiert wurde, dass "unerfahrene, nicht genügend politisch vorbereitete Angehörige als 'Bevölkerung' zum Einsatz" kamen und damit das Gesamtbild unrealistisch erscheinen ließen. Diese Kritik steht freilich im Widerspruch zum Bericht über die Vorbereitung der eingesetzten Kräfte weiter oben. Um eine Enttarnung zukünftig zu vermeiden, wurde die Empfehlung ausgesprochen, dass "beim Einsatz gedeckt handelnder Kräfte […] generell deren konkrete Instruierung über das Verhalten am Einsatzort erforderlich" sei und dadurch zu verhindern sei, "daß Unterschiede im Verhalten von als 'gedeckte Kräfte' eingesetzte[n] Angehörige[n] des MfS und 'normaler Bevölkerung' für die ausländische Presse sichtbar" werde und "zur Enttarnung der Sicherungselemente führten."
Verbesserung der Strategie
Um gegen dieses Defizit anzugehen, wurden diverse Verbesserungsvorschläge artikuliert. Beispielsweise wurde die Empfehlung ausgesprochen, die An- und Abreise der getarnt eingesetzten Mitarbeiter besser und unauffälliger zu koordinieren. Bei Brandts Besuch waren die MfS-Mitarbeiter größtenteils als geschlossene Gruppe am Ziel angekommen. In der Folge war für Außenstehende wohl auch deutlich zu erkennen, dass die anwesenden Menschen sich untereinander kannten, da sich viele Gesprächskreise bildeten, was den Eindruck einer zufällig zusammen gekommenen Menschenmenge konterkarierte. Auch die Kleidung solle besser abgestimmt werden. Um die Auswirkungen dieser besseren Tarnung auf die eigene Arbeit zu minimieren, sollten Erkennungszeichen festgelegt werden, an denen sich die Mitarbeiter untereinander erkennen sollten.
Trotz der Probleme wurde beabsichtigt, die Einsatzform des "gedeckten" Auftretens weiterzuentwickeln: "Die Methode der stichpunktartigen gedeckten Durchführung von Einsatzmaßnahmen erwies sich insgesamt als eine zweckmäßige Form und kann unter Beachtung spezifischer Anforderungen hinsichtlich der Ausbildung und Befähigung der Leiter und Angehörigen als taktische Handlungsvariante der HA PS weiterentwickelt werden." Es wurde jedoch auch angemahnt, dass die neue Taktik kein "Allheilmittel" darstelle und "eine prinzipielle Schlußfolgerung […], daß der Einsatz von 'gedeckten Kräften' als Bevölkerung ein bei allen Einsatzarten vorrangig einzusetzendes Sicherungselement" darstelle, als "nicht realistisch und […] nicht zu empfehlen" abgelehnt.
Die vorliegenden Akten offenbaren das Bild einer Behörde, welche intensiv und zumindest partiell kontrovers versuchte, die neue Taktik bei offiziellen Anlässen zu optimieren, um die gewünschten Reaktionen, Bilder und Eindrücke in Zukunft zu erreichen. Die gesammelten Erfahrungen wurden kritisch reflektiert, um die Taktik für zukünftige Einsätze zu verbessern. Eine gewisse Diskrepanz zwischen einzelnen Abteilungen deutet sich dabei an. Dieser Binneneindruck entspricht den Weisungen von MfS-Chef Erich Mielke. Dieser hatte angeordnet, "dem Interesse Brandts, DDR-Bürger zu treffen, 'offensichtlich entgegen zu kommen', Kontakte aber letztlich 'zuverlässig zu verhindern'". Die gegenüber früheren vergleichbaren Einsätzen veränderte Taktik offenbart sich also sehr deutlich bei der Analyse der relevanten MfS-Akten. Es ist naheliegend zu vermuten, dass die negativen Bilanzen (aus Sicht des MfS) der Besuche 1970 und 1981 ein wichtiger Faktor bei der Neukonzipierung der MfS-Vorgehensweise beim Brandt-Besuch 1985 waren. Darüber hinaus soll aber in der Folge gezeigt werden, dass hinter dem Konzept der bürgernahen Sicherungstaktik mehr steckte als nur ein taktischer Neuansatz des MfS, nachdem man bei ähnlichen Anlässen zuvor mit der eigenen Einsatzbilanz unzufrieden war. Vielmehr erkennt man hier die prekäre Lage von DDR und MfS in der Mitte der 1980er Jahre generell. Wie ist dies zu begründen?
III. Die Lage des Regimes 1985 - Wie kam es zum "bürgernahen" Einsatz?
Will man die Situation, in der sich die DDR Mitte der 1980er Jahre befand, verstehen, muss man verschiedene innen- und außenpolitische Faktoren berücksichtigen. Zudem gilt es das Verhältnis des MfS zur SED zu skizzieren. Im Rahmen dieses Beitrages ist nur die Schilderung von Grundzügen möglich. Zur genaueren Betrachtung und Charakterisierung des MfS gibt es mittlerweile sehr gute, einschlägige Forschungsliteratur.
Die Herausforderungen der DDR in den 1980er Jahren
Anfang der 1980er Jahre stand die DDR vor "fundamentalen Herausforderungen." Es machte sich "wachsendes Unbehagen" in der Bevölkerung breit, da "die diktatorischen Machtstrukturen immer schmerzlicher als nicht zu rechtfertigende, illegitime Anmaßung empfunden" wurden, widersprachen sie doch der Zustimmung zur KSZE-Vereinbarung von 1975. Diese war jedoch nur auf Grund strategischer Kalküle zu Stande gekommen und erlangte in der politischen Praxis der DDR-Führung nie Relevanz.
Hinzu kamen immer stärker hervortretende wirtschaftliche Probleme, durch die sich "die Lage der DDR […] in den frühen achtziger Jahren bedrohlich" zuspitzte. Die DDR war auf wirtschaftliche Hilfen des Westens angewiesen und musste sich diesem im Gegenzug mehr öffnen. Der MfS-Führung missfiel der "Westdrall" der DDR-Führung, was einen unterschwelligen Konflikt zwischen Parteiführung und Staatssicherheit zu Folge hatte. Ab 1985 veränderte sich die Situation gravierend durch den Amtsantritt des neuen Generalsekretärs der KPdSU, Michail Gorbatschow. Dieser erkannte, stärker als die Spitzen des DDR-Regimes, dass sich die Sowjetunion und der Ostblock insgesamt wirtschaftlich und militärisch überdehnt hatten. Die Führungsriege der DDR war allerdings nicht bereit, den neuen Kurs der Öffnung mitzugehen - trotz der vorherigen (in erster Linie ökonomisch motivierten) leichten Annäherung an den Westen. Insgesamt war der Reformwille sehr gering und sollte dies auch bis Ende der 1980er Jahre bleiben.
Es lässt sich schon für das Jahr 1985 konstatieren, dass "Honeckers Haltung zu Gorbatschow […] von Beginn an zwiespältig" war. Zum Zeitpunkt des Besuches von Bundeskanzler Willy Brandt in Ost-Berlin "waren die Animositäten […] noch ganz frisch". Diese Verwerfungen zwischen Ost-Berlin und Moskau will auch Brandt zum damaligen Zeitpunkt schon wahrgenommen haben. Mittelfristig ging er von einer Ablösung der DDR-Führung durch Gorbatschow aus. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Innenpolitisch war die DDR mit wachsenden ökonomischen Problemen und einer durch die KSZE-Zusagen gestärkten Opposition konfrontiert, welche eine demokratische Reform der Strukturen der DDR anstrebte. Außenpolitisch war die DDR zusätzlich vermehrt auf wirtschaftliche Unterstützung des Westens angewiesen, was zu Unstimmigkeiten in der Führungsriege des Regimes führte. Ab 1985 konnte man sich zudem nicht mehr auf die vorbehaltlose Unterstützung des "großen Bruders" Sowjetunion verlassen, der 1953 den Aufstand in der DDR noch mit Panzern niedergeschlagen hatte.
Anpassungsversuche der Staatssicherheit
Trotz dieser für die DDR negativen Tendenzen stand "zu Anfang der achtziger Jahre [...] das Ministerium für Staatssicherheit [noch] im Zenit seiner Macht". Im Laufe des Jahrzehnts sollten sich die Veränderungen jedoch auch innerhalb des MfS bemerkbar machen: "Aus der Perspektive der MfS-Mitarbeiter verschoben sich die politischen Rahmenbedingungen [...] ständig zu ihrem Nachteil. Dies war eine Folge der Öffnungspolitik zum Westen". Diese Entwicklung zu Ungunsten des MfS bewirkte einen "Zwang zur Verringerung offener Repression" und "das Bemühen, innergesellschaftlichen Widerspruch präventiv zu bekämpfen und möglichst unsichtbar zu zersetzen". Um die gesellschaftlichen Forderungen nach einer Verringerung der Repressionen zu berücksichtigen und ihre Aufgaben dennoch weiter erfüllen zu können, war das MfS gezwungen, ihre Strategien zu überdenken und stärker im Verborgenen vorzugehen: Es erfolgte ein Übergang zu einer "defensiven, die Herrschaftsstrukturen konservierenden und sichernden Repression." Diese Änderung stellte jedoch mitnichten eine Liberalisierung dar, sondern nur eine neue Vorgehensweise bei der Kontrolle und Repression der Bevölkerung.
So verstärkte sich auch die Tendenz, die Bevölkerung der DDR als politisch unzuverlässig und vom Westen unterwandert zu betrachten. Dabei wurden nicht nur Menschen aus eher oppositionell eingestellten Milieus (wie beispielsweise der Kirche) sehr kritisch beäugt, "sondern […] selbst die Angehörigen institutioneller Säulen des Regimes grundsätzlich als potentiell unzuverlässig" verdächtigt. Diese Einschätzung des eigenen Volkes war dabei nicht völlig aus der Luft gegriffen: "Faktisch führten die verstärkten Kontakte und Beziehungen seit den siebziger Jahren zu einer schleichenden und nicht umkehrbaren Verwestlichung im akzeptierten oder zumindest tolerierten Wertehorizont der DDR-Bürger." Da die Hauptaufgabe des MfS in der Sicherung des Machterhalts des SED-Regimes lag, reagierte sie beinahe paranoid auf diese Tendenzen und entwickelte ausgeklügelte verdeckte Strategien, um potentielle Feinde des Regimes einzuschüchtern und in die Schranken zu weisen. Verleumdung, Rufmord und rücksichtslose Eingriffe in das Privatleben der Verdächtigen waren die Regel. "Das Ausweichen [...] auf andere Methoden der 'Feindbekämpfung' war auch ein Symptom der Schwäche des SED-Staats", fasst Gieseke das Dilemma von MfS und Staatspartei zusammen.
Parallel setzte man im MfS daher auch auf eine optimierte Öffentlichkeitsarbeit, um zu versuchen, sich ein besseres Image in der Bevölkerung zu verschaffen. Verdeutlicht wurde das in der Dienstanweisung Nr. 2/84. Darin wurde eingeräumt, dass beim MfS ein Reformbedarf bestehe, der es erfordere, "die Öffentlichkeitsarbeit insgesamt zu verstärken, sie differenzierter, überzeugungskräftiger, anschaulicher und damit sicherheitspolitisch wirkungsvoller zu gestalten." Ziel dabei sei die "allseitige[n] Stärkung und zuverlässige[n] Sicherung der Arbeiter- und Bauern-Macht bei der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR durch Darstellung und Verdeutlichung." Die von der Führung des MfS unterstellte Notwendigkeit, das vorherrschende Bild des Sicherheitsapparats in der Öffentlichkeit zu verbessern, wird hier deutlich. Dieser Ansatz schloss strategische Neuausrichtungen ein. Offenbar wollte man im Geheimen verstärkt gegen Teile der Bevölkerung vorgehen, das allgemeine Bild des MfS in der Öffentlichkeit jedoch verbessern. Es zeigte sich trotz dieser Maßnahmen, dass das MfS in der Bevölkerung zunehmend an Zuspruch und Rückhalt verlor - daher glaubte man umso mehr, der eigenen Bevölkerung auf keinen Fall trauen zu können. Ebenfalls wurde zu dieser Zeit versucht, das eigene Vorgehen zu verrechtlichen, um sich selbst zumindest eine Scheinlegitimität zu verschafften. Diese Bestrebungen sind von Clemens Vollnhals ausführlich beschrieben worden. Diese Entwicklungen hatten auch Folgen für den Personalbestand des MfS: "Die Verschärfung der inneren Überwachung als Reaktion auf die äußere Entspannung führte im Ministerium für Staatssicherheit zu einem erheblich verstärkten Personalausbau." Insbesondere die Zahl der "Inoffiziellen Mitarbeiter" stieg bis Mitte der 1980er Jahre auf einen Rekordwert - diese sollten als "Hauptwaffe im Kampf gegen den Feind" und als "Augen und Ohren" des MfS in der Bevölkerung dienen.
Der "bürgernahe" Einsatz als Anpassungsversuch des Ministeriums für Staatssicherheit
Vergleicht man diese allgemeinen Entwicklungstendenzen und Problemfelder des MfS mit den Eindrücken, die man durch Betrachtung der Vorgehensweise beim Brandt-Besuch gewinnt, so fallen interessante Übereinstimmungen auf, welche die allgemeinen Erkenntnisse beispielhaft untermauern. So zeigt sich mit Blick auf die Zielsetzung des verdeckten Vorgehens des MfS, hier die Sicherstellung eines authentisch wirkenden Straßenbildes bei gleichzeitig ausbleibenden Sympathiekundgebungen für Brandt, dass der Anschein einer Scheinliberalität erzeugt werden sollte, wie er auch in Versuchen einer Verrechtlichung der eigenen Maßnahmen oder eines verdeckten Vorgehens gegen potentielle Regimegegner beabsichtigt war. Wie sehr dabei der eigenen Bevölkerung misstraut wurde, verdeutlicht die Tatsache, dass nicht etwa "Gesellschaftliche" oder "Inoffizielle Mitarbeiter" für diesen Einsatz herangezogen wurden, sondern hauptamtliche Kräfte des MfS und ihre Familien. Darüber hinaus wurde die Bevölkerung über den Besuch von Bundeskanzler Brandt im Vorfeld kaum informiert und sollte bei Betrachtung der Szenerie durch eine Kombination aus uniformierten und verdeckten Einsatzkräften das übliche Straßenbild erkennen. Daher kann man postulieren, dass die Taktik der Bürgernähe, wie bei Willy Brandts Besuch erstmals eingesetzt, eine direkte Folge der Neuausrichtung des MfS war.
Alle Maßnahmen, die Vorbereitungen, Ausführung und Auswertung des Einsatzes zeigen ein bereits verunsichertes oder zumindest umdenkendes, wenn auch beileibe kein schwankendes Regime. Man ging bei Willy Brandts Besuch quasi auf Nummer sicher, hatte aber neue Mittel und Wege, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Diese Vorgehensweise war zum Teil - im Sinne des MfS - durchaus erfolgreich: Wie gezeigt gingen nur eine einige der Medienberichte auf die Anwesenheit verdeckter MfS-Mitarbeiter ein, oftmals war es nur eine Randnotiz. In den meisten Berichterstattungen standen andere Themen im Vordergrund: etwa der Inhalt der Gespräche zwischen Brandt und Honecker, das sonst Regierungsvertretern anderer Länder vorbehaltene Protokoll oder die ungewöhnliche Geste Honeckers, die Delegation aus dem Westen bei einer Stadtrundfahrt persönlich zu begleiten. Insofern war den Behörden einigermaßen gelungen, was 1970 in Erfurt oder 1981 in Güstrow noch gänzlich fehlgeschlagen war: Die Szenerie nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten, ohne dass seitens des Westens die dazu erforderlichen Maßnahmen gänzlich aufgedeckt wurden. Man könnte von einem Teilerfolg der Staatssicherheit sprechen. Die intern geäußerte Kritik verdeutlicht dabei jedoch, dass durchaus hohes Optimierungspotential gesehen wurde.
Die ganze Konzeption des Einsatzes lässt allerdings bereits erkennen, wie stark sich die Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume der SED und ihres "Schwertes und Schildes" bereits gewandelt hatten und wie versucht wurde, sich dem anzupassen. Die Strategie, subsumiert unter dem irreführenden und (aus heutiger Sicht) verfälschend anmutenden Begriff der Bürgernähe, zeigt in der Mikroperspektive Anpassungsversuche der Staatssicherheit an die neuen Herausforderungen, vor denen die DDR 1985 stand. Diese allein hätten nicht das Ende der DDR bedeutet, geben aber erste Hinweise auf die Ereignisse der Jahre 1989/1990.
Mit den Ergebnissen dieser Untersuchung offenbart sich die Möglichkeit, makroperspektivisch ähnliche Strategieanpassungen des MfS in anderen Bereichen ausfindig zu machen und den sehr fokussierten Blickwinkel dieser Untersuchung auszuweiten. Dies würde es erlauben, die Forschung über das MfS in den letzten Jahren der DDR voranzubringen.
Zitierweise: Benjamin Koerfer, Die Taktik der "Bürgernähe" des MfS, in: Deutschland Archiv Online, 19.04.2013, Link: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/koerfer20130419