Sammelrezension zu:
Mark Lehmstedt: Die geheime Geschichte der Digedags. Die Publikations- und Zensurgeschichte des "Mosaik" von Hannes Hegen, Leipzig: Lehmstedt 2010, 430 S., € 24,90, ISBN: 9783937146997.
Dietrich Löffler: Buch und Lesen in der DDR. Ein literatursoziologischer Rückblick (Forschungen zur DDR-Gesellschaft), Berlin: Ch. Links 2011, 440 S., € 49,90, ISBN: 9783861536369.
Wilfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, 2., erw. Aufl., München: C. H. Beck 2006, 1 295 S., € 49,90, ISBN: 9783406542206.
Helmut Peitsch: Nachkriegsliteratur 1945–1989 (Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs; 24), Göttingen: V&R unipress 2009, 404 S., € 53,90, ISBN: 9783899717303.
Richard Kämmerlings: Das kurze Glück der Gegenwart. Deutschsprachige Literatur seit '89, Stuttgart: Klett-Cotta 2011, 208 S., € 16,95 , ISBN: 9783608946079.
Michael Braun: Wem gehört die Geschichte? Erinnerungskultur in Literatur und Film, Sankt Augustin/Berlin: Konrad Adenauer Stiftung 2010, 136 S., ISBN: 9783941904835 (Der Band ist vergriffen, eine erw. Neuauflage bei einem Verlag in Vorbereitung).
Ute Dettmar, Mareile Oetken (Hg.): Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte; 279), Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2010, € 44,–, ISBN: 9783825357559.
Nachdem in den beiden ersten Jahrzehnten seit der deutschen Vereinigung vor allem politikgeschichtliche Publikationen erschienen sind, werden in den letzten Jahren zunehmend kulturgeschichtliche Studien vorgelegt, die zugleich wichtige Beiträge zur deutschen Gesellschaftsgeschichte bieten.
Die geheime Geschichte der Digedags
Ein denkwürdiges, in gewisser Hinsicht singuläres Kapitel in der Publikationsgeschichte der DDR bildet die Comic-Zeitschrift "Mosaik". Diese aus einer fantasievollen Privatinitiative von Hannes Hegen (der tatsächlich Johannes Hegenbarth hieß) hervorgegangene und als Weihnachts-überraschung 1955 gestartete, an eine von Weltsehnsucht erfasste Jugend adressierte Bildergeschichten-Serie wurde zu einem der einflussreichsten Medien in der DDR. Nachdem 2005 das Jubiläum einer Comic-Zeitschrift, die bis heute erscheint, in verschiedenen Beiträgen gewürdigt worden ist
Lehmstedt ist vor 20 Jahren eher zufällig auf das Thema aufmerksam geworden, als er auf dem Gründungskongress der Society for the History of Authorship, Reading and Publishing in New York statt eines ursprünglich geplanten historischen Beitrags dem Aktualitätsinteresse Tribut zollte und mit seinem "Mosaik"-Referat so große Resonanz gefunden hat, dass er die folgenden Jahre, unter anderem als Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin, intensiven Recherchen und Befragungen von Akteuren widmete, die in unterschiedlichen Bereichen und Funktionen am "Mosaik" beteiligt waren.
Obwohl die erste Fassung des Manuskripts bereits 1994 fertiggestellt war, hat es Lehmstedt erst 2010 in seinem eigenen Verlag ediert. Es ist keine Inhaltsanalyse und auch keine Rezeptionsgeschichte dieses beliebtesten Jugend-Periodikums aus der DDR, sondern eine akribisch dokumentierte "Publikations- und Zensurgeschichte", die – strikt chronologisch gegliedert – die einfallsreichen Strategien Hegens zur Realisierung seiner Konzepte und Ideen im konfliktreichen Umgang mit seinen beiden Verlagen und ihren übergeordneten politischen Instanzen lebendig werden lässt.
In politischer Perspektive ist die Geschichte des "Mosaik" eine Geschichte des Konflikts zwischen kreativer Fantasie und ideologischem Argwohn sowie gleichzeitig ein Prinzipienstreit um die pädagogische Relevanz und literarische Dignität von Bildergeschichten. Diese waren den ideologischen Hardlinern als Produkt westlicher "Unkultur" suspekt, obwohl sie auch in der DDR schon anfangs in bescheidenem Umfang in verschiedenen illustrierten Medien und 1954/55 sogar einige Monate lang im "Neuen Deutschland" (in der von Harry Berein gezeichneten Serie "Die lustigen Abenteuer von Pit und Pat") genutzt wurden. Erst das Jahr 1955 kann aber als der eigentliche Beginn von zwei Bildergeschichten-Karrieren betrachtet werden, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Im April 1955 debütierte die monatlich erscheinende Bilder-Zeitschrift der Jungen Pioniere "Atze", die auf politisch-erzieherische Wirkung abzielte und dabei gleichzeitig das Gebot der Unterhaltung zu befolgen suchte, indem sie Anleihen bei dem westdeutschen Comic "Fix und Foxi" von Rolf Kaukas nicht scheute (der ostdeutsche Autor Jürgen Kieser nannte seine Abenteuer-Mäuse Fix und Fax).
Dass nur acht Monate später die erste Ausgabe des "Mosaik" an den Start gehen durfte, hat neben der beharrlichen Initiative Hegens gewiss auch mit einer günstigen politischen Konstellation zu tun. Lehmstedt weist darauf hin, dass Albert Norden auf dem 25. ZK-Plenum im Oktober 1955 heftige Kritik an der Arbeit der Freien Deutschen Jugend geübt hatte, die er für die Abwanderung vieler Jugendlicher in den Westen hauptverantwortlich machte (34). Diese Situation kam dem FDJ-Verlag Neues Leben entgegen, als er mit Hegens Idee für eine neuartige unkonventionelle Bildergeschichte konfrontiert wurde. Aus dem Startheft mit den drei von Hegen erfundenen Protagonisten Dig, Dag und Digedag unter dem vielsagenden Titel "Auf der Jagd nach dem Golde" wurde eine erste Heftfolge im Vierteljahresturnus, bevor im Juli 1957 schließlich eine monatliche Erscheinungsweise vertraglich vereinbart werden konnte. Das "Mosaik" war ursprünglich im Umfang von 32 Seiten mit einer Auflage von 100.000 Exemplaren zum Preis von 95 Pfennigen herausgebracht worden, seit Herbst 1957 wurde der Umfang auf 24 Seiten bei einer Auflage von 250.000 Exemplaren festgelegt, was bei der Umstellung auf monatliches Erscheinen den Jahresoutput von zuvor 128 auf nunmehr 288 Seiten gravierend steigerte. Hegen musste daher die Zahl seiner Mitarbeiter auf zwölf Personen deutlich erhöhen, wofür ihm in Berlin-Karlshorst ein 1956 erworbenes Atelierhaus zur Verfügung stand. Die Auflage des "Mosaik" konnte bis 1968 auf 500.000 gesteigert werden und erreichte 1975 schließlich 700.000 Exemplare.
Hegen war nicht nur ideenreich, sondern auch mit großem Geschäftssinn ausgestattet. Die jeweils für einen Jahreszeitraum abgeschlossenen Verträge (erst 1968 wurde ein unbefristeter Vertrag unterzeichnet) sicherten Hegen erhebliche Einkünfte und das alleinige Urheberrecht an seinen drei Digedags. Der wachsende Erfolg bei den jungen Lesern war von kleinkarierter Kritik, inszeniert vor allem von der Deutschen Lehrerzeitung, und von anhaltendem ideologischen Argwohn begleitet, zu den gewichtigen Fürsprechern zählte dagegen neben Johannes Dieckmann und Gerald Götting auch Manfred von Ardenne.
Den politischen Anfeindungen musste schließlich ein Zugeständnis gemacht werden. Im Dezember 1958 wurde dem "Mosaik" erstmals – allerdings lose und leicht zu entfernen – eine Beilage zugefügt ("Ein Unterrichtstag in der Produktion"), die den Verfechtern sozialistischer Erziehungspostulate Entgegenkommen signalisieren sollte. Doch die Bedrohung spitzte sich zu, nachdem die Pionierorganisation auf die Geschicke der Hegen-Comics wachsenden Einfluss gewonnen hatte, sodass am 15. Oktober 1959 ein Wechsel zum Verlag Neues Leben vollzogen wurde, in dem diverse Pionierzeitschriften ressortierten, wobei das "Mosaik" sogar unter Kuratel der polittreuen Pionierzeitschrift "Frösi" (Fröhlich sein und singen) gestellt werden sollte. (Die durchsichtige formale Begründung war, dass der Verlag Neues Leben als Buchverlag zuvor der falsche Partner gewesen sei.) Ende 1959 stand die Existenz des "Mosaik" dramatisch auf dem Spiel. Lehmstedt berichtet, dass bereits ein Entwurf für die letzte Ausgabe im Dezember vorbereitet war, der eine entsprechende Ankündigung an die Leser auf der Titelseite enthielt. Das drohende Aus konnte abgewendet werden, wobei die damit verbundenen Entscheidungsabläufe nicht genau rekonstruierbar sind. Doch erscheint Lehmstedts Vermutung plausibel, dass die Verantwortlichen eine Abwanderung Hegens in den Westen befürchteten. Dieser gefährlichsten Krisensituation sollten weitere folgen, von denen die amüsanteste das klägliche Scheitern eines unter dem Titel "Kristall" 1963/64 sondierten Alternativprojekts darstellt.
Der Erfolg des "MOSAIK von Hannes Hegen" war nicht aufzuhalten, das schlug sich in steigenden Auflagen und erheblichen Gewinnen beim Produzenten und beim Verlag gleichermaßen nieder. Es war überraschenderweise nicht die Politik, die Hegens Ära beendete, sondern der Eigensinn ihres Urhebers. Seit 1974 hatte Hegen den Entschluss gefasst, künftig nur noch sechs Hefte pro Jahr zu realisieren, wofür er vor allem einen Mangel an geeigneten Mitarbeitern geltend machte. Da er sich nicht umstimmen ließ, wurden vor allem von seinem wichtigsten Mitarbeiter Lothar Dräger im Auftrag des Verlages Alternativkonzepte entwickelt, wobei der Name des Comics "Mosaik" beibehalten, die Protagonisten der Bildergeschichten aber mit Rücksicht auf Hegens vertraglich verbrieftes Urheberrecht neu erfunden werden sollten. Die unauflösbare Patt-Situation zwischen Hegen und dem Verlag mündete schließlich in eine heftig ausgefochtene Urheberrechts-Kontroverse, in der Hegen nicht nur das Urheberrecht an den Digedags beanspruchte, sondern an allen Bildern und Figuren, die jemals im "Mosaik" in Erscheinung getreten waren, indem er behauptete, alle Zeichnungen selbst entworfen zu haben. Ebenso vertrat er die Auffassung, dass ohne seine Beteiligung der Name ""Mosaik"" nicht weiter benutzt werden dürfte. Besonders gravierend war die Auseinandersetzung um die Mitwirkung seiner angestellten Zeichner an den Bildgeschichten des "Mosaik". Die Mitglieder des Zeichner-Kollektivs wehrten sich entschieden gegen Hegens juristischen Vorstoß, "Klage dagegen zu erheben, daß seine Mitglieder, in der Klageschrift mit nicht zu überbietender Arroganz als Hilfskräfte diffamiert, mehr als eineinhalb Jahrzehnte lang von der Anerkennung ausgeschlossen und um ihre völlig gerechtfertigten ideellen und finanziellen Ansprüche geprellt wurden" (332). Schließlich kam es am 2. Mai 1977 zur Rücknahme der Klage, nachdem Hegen verschiedene Zugeständnisse gemacht worden waren, die vor allem sein Recht betrafen, die von ihm herausgebrachten "Mosaik"-Serien in Sammelbänden in eigener Regie zu publizieren. Das "Mosaik" konnte seine Erfolgsgeschichte fortsetzen, es überschritt 1988 die Millionen-Grenze und war damit auf den dritten Platz aller Zeitschriften und Wochenzeitungen in der DDR (nach der Fernsehzeitschrift "FF dabei" und der "Wochenpost") vorgerückt.
Plakat zur Ausstellung "Dig, Dag, Digedag. DDR-Comic 'Mosaik'". (© Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland)
Plakat zur Ausstellung "Dig, Dag, Digedag. DDR-Comic 'Mosaik'". (© Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland)
Lehmstedt hat eine spannende Background-Story zum "Mosaik" geschrieben, die gekonnt auf dem schmalen Grat zwischen der Bewunderung für ein einzigartiges Medienprojekt und der kritischen Distanz gegenüber ihrem Regisseur Hannes Hegen balanciert, der hier – stärker als in anderen Veröffentlichungen – durchaus als ambivalente Persönlichkeit ins Bild gerät. Im Hinblick auf eine Auftragsarbeit Hegenbarths aus den frühen 1980er-Jahren urteilt Mark Lehmstedt abschließend: "Ohne das Mosaik-Kollektiv und ohne Lothar Dräger als Texter war Hegenbarth nur ein Pressezeichner, der zudem – im Vergleich zu seinen Anfängen – allen Witz und Schwung verloren hatte." (341) Diese kritische Einschätzung später Aktivitäten mag auch durch die Enttäuschung Lehmstedts beeinflusst sein, dass Hegen ihm bei seinen umfangreichen Recherchen für kein Gespräch zur Verfügung gestanden hat, was seiner grundsätzlichen Haltung entspricht, sich zu seiner "Mosaik"-Geschichte nicht persönlich zu äußern. Die kreative Leistung des "Mosaik"-Machers und vigilanten Unternehmers kann dadurch nicht geschmälert werden. Dies zeigt nach verschiedenen Ausstellungen seit 2007 nun eine aktuelle Überblicksschau im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig, dem Hegen seinen künstlerischen Vorlass im Sommer 2009, allerdings ohne das Schriftgutarchiv, übergeben hat.
Buch und Lesen in der DDR
Studien zur Literatursoziologie wurden in der DDR bereits seit den ausgehenden 1970er-Jahren, vornehmlich von Helmut Göhler, Dietrich Sommer und Dietrich Löffler betrieben und eine Bilanz konnte noch kurz vor dem Ende der DDR publiziert werden
Buch und Lesen in der DDR (© Ch. Links Verlag)
Buch und Lesen in der DDR (© Ch. Links Verlag)
Nun hat Dietrich Löffler mit seinem im Herbst 2011 erschienenen Band "Buch und Lesen in der DDR" sein Opus magnum vorgelegt. Es ist ein eindrucksvolles Kompendium geworden, in dem er umfangreiches statistisches Material und einschlägige Forschungsarbeiten verarbeitet hat, die er im Kontext der kulturpolitischen Konzepte, der ideologischen Restriktionen und der damit verbundenen ökonomischen Produktionsbedingungen überzeugend verknüpft. In sieben Kapiteln (Literaturplanung, Ideologische Steuerung, Infrastruktur, Buchproduktion, Buchkauf und -besitz, Literaturnutzung, Lektüre, Literatur und Öffentlichkeit) informiert das Buch über alle Aspekte, die mit der Literatur in der DDR verbunden sind. Löffler skizziert die Ausgangslage nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als in der Sowjetschen Besatzungszone (SBZ) wesentlich radikaler als in den Westzonen ideologisch kontaminierte Publikationen aus der Zeit der NS-Diktatur ausgesondert wurden (so wurden 1945 insgesamt 500 Tonnen, das entspricht zwei Millionen Bänden vernichtet). Er beschreibt die ersten Verlagsgründungen und Publikationsschwerpunkte, den sukzessiven Niedergang des privaten Buchhandels gegenüber dem Volksbuchhandel, der bereits 1962 einen achtmal höheren Umsatz erreicht hatte, und schildert die paradoxe Situation, dass bei einem eklatanten Mangel an attraktiven bellestristischen Titeln ein exorbitantes Überangebot an politpropagandistischen Schriften bestand: "Als der Lagerbestand des Dietz Verlages im LKG [Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel] 1957 10 Millionen Mark erreicht hatte, war eine Verkaufsoffensive ausgelöst worden, für die die zentrale Leitung des Volksbuchhandels u.a. festlegte, dass pro Kopf der Bevölkerung jährlich 74 Pfennig Dietz-Literatur umzusetzen sei. Das löste das Problem aber nicht. Die unverkauften Bestände betrugen 1960 15,9 Millionen Mark, (...) Ende 1961 gar 20,1 Millionen Mark." (232)
Instruktiv beschreibt Löffler, wie die Aufbruchstimmung einer revolutionären Romantik und des damit verbundenen gesellschaftlichen Engagements der Schriftsteller zunehmender Desillusionierung wich und sich schließlich in den 1980er-Jahren ein kritischer Realismus artikulierte, der die DDR-Gesellschaft in Kategorien der Ernüchterung und Ent-Täuschung schilderte. "Am Vorabend der Wende war die Dokumentarliteratur in den Werken der kritischen Autoren die meistgelesene und zugleich am häufigsten diskutierte DDR-Gegenwartsliteratur." (347)
Johannes R. Becher hatte die DDR in ihren Gründerjahren emphatisch als "Literaturgesellschaft" gefeiert, bevor Klaus Höpcke sie ein Vierteljahrhundert später (1982) nüchterner als "Leseland" benennen sollte. Auch wenn der Begriff "Literaturgesellschaft" – worauf Löffler hinweist – in parteioffiziellen Verlautbarungen kaum verwendet wurde, machte sich die SED zunächst Illusionen über die Wirksamkeit von Literatur. Als 1968 die "Prognosegruppe Kultur im strategischen Arbeitskreis der Parteiführung" Vorstellungen künftiger Literaturpolitik für die 1970er-Jahre konzipierte, schlug Hans Koch vor, "im Prognosezeitraum die Zahl der ständigen, regelmäßigen Leser schöner Literatur von gegenwärtig ca. 35 % der erwachsenen Bevölkerung auf ca. 85–90 % zu steigern." (25) Dass es sich hierbei um eine utopische Zielsetzung handelte, ergibt sich nicht nur aus einer fundamentalen Fehleinschätzung des Interessenpotenzials in der Bevölkerung, sondern auch aus den beschränkten ökonomischen Möglichkeiten, über die das Land verfügte.
Am meisten beeindruckt Löffler, wenn es ihm gelingt, langfristige Entwicklungen komprimiert zu beschreiben. Das ist besonders überzeugend in dem konzisen Abschnitt über die Zensur in der DDR gelungen (127–154). In welchem Ausmaß das Literaturangebot durch die Papierzuteilung gesteuert werden konnte, zeigt Löffler mit statistischen Zeitreihen ebenso wie mit instruktiven Beispielen. Er informiert über die Auflagenzahlen für wichtige belletristische Werke und über die Disproportionen zwischen dem verfügbaren Angebot und der häufig eklatant höheren Nachfrage, die auf ein grundlegendes Dilemma des Buchangebots in der DDR verweisen. In Extremfällen betrug die Auflage nur ein Zwanzigstel der vom Buchhandel vorausbestellten Exemplare.
Als aufschlussreiche Fallstudie hat Löffler die Perspektivplanung und die jeweiligen Jahresthemenplanungen des Aufbau-Verlages im Zeitraum von 1970 bis 1975 dargestellt. Hier wird deutlich, auf welche Weise Verlage einfallsreich versucht haben, ideologisch beargwöhnte Autoren dem Lesepublikum in der DDR zugänglich zu machen (191–200).
Erfrischend und überzeugend räumt Löffler mit einigen fest verankerten Vorurteilen auf. So weist er auf der Basis statistischer Daten nach, dass Bücher in der DDR im Durchschnitt keineswegs nennenswert billiger waren als in der Bundesrepublik und wendet sich gegen die verbreitete Vermutung, dass in der DDR mehr Menschen intensiver gelesen hätten. "Trotz einer flächendeckenden Infrastruktur (...) war das Lesepublikum in der DDR statistisch gesehen nicht größer als das der westlichen Länder mit gleicher Buchtradition. Es unterschied sich von diesem dadurch, dass die Extreme – Viel- und Nichtleser – weniger ausgeprägt, dafür aber die Mitte aus bisher eher buchfernen Schichten höher besetzt war." (13)
Für eine These Löfflers hätte man sich freilich eine differenziertere Begründung gewünscht: "Charakteristisch für den Zustand der Kulturpolitik war, dass die 6. Tagung des ZK der SED von 1972 die letzte Tagung zu Fragen der Kultur blieb (...) Die Kulturpolitik der SED verharrte bis zum Ende der DDR manövrierunfähig." (24) Wenn damit gemeint sein sollte, dass es der SED spätestens seit der Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns am 16. November 1976 nicht mehr gelungen ist, das vielbeschworene "Bündnis von Geist und Macht" bei Künstlern und Schriftstellern glaubhaft erscheinen zu lassen und damit die kulturpolitische Kampagnen- und Mobilisierungsfähigkeit der SED erschöpft war, so dass sie kulturelle Entwicklungsprozesse nur noch durch administrative Zwangsmaßnahmen mit eingeschränkter Wirkung zu kanalisieren suchte, ist diese Einschätzung nicht von der Hand zu weisen. Doch wäre es aufschlussreich gewesen, wenn der Autor den zunehmenden Antagonismus zwischen den gerontokratischen "Rittern der Tafelrunde" (Christoph Hein) und den Kulturschaffenden etwas eingehender analysiert hätte. Dieser Hinweis kann den Wert dieses höchst aufschlussreichen Kompendiums allerdings nicht schmälern. Dietrich Löffler ist ein Referenzwerk gelungen, akribisch recherchiert, informativ und umfassend, nüchtern und abgewogen im Urteil – eine spannende Lektüre für jeden, der das Leseland DDR in seinen Widersprüchen begreifen möchte.
Nachkriegsliteratur
Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart (© C. H. Beck)
Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart (© C. H. Beck)
Wer sich einen umfassenden Überblick über die Geschichte der Literatur in Deutschland verschaffen möchte, wird zuerst auf die 1994 publizierte, 2006 in erweiterter Auflage erschienene, von Winfried Barner herausgegebene "Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart" zurückgreifen. Nach einer Darstellung der Nachkriegsjahre 1945–1952 sind die fünf folgenden Kapitel nach den Dezennien gegliedert, dabei werden Bundesrepublik und DDR – bis auf das neu hinzugefügte Abschlusskapitel – getrennt dargestellt, sodass Bezüge, Interaktionen oder gar Vernetzungen kaum erschlossen werden. Die Kapitel sind nach einem einheitlichen Strukturprinzip gegliedert: Zunächst werden jeweils die Bedingungen der literarischen Produktion dargestellt und anschließend die zentralen literarischen Genres Prosa, Drama und Lyrik fundiert analysiert.
Diesem noch immer unverzichtbaren Standardwerk hat Helmut Peitsch mit seiner Studie "Nachkriegsliteratur 1945–1989" nun eine originelle, höchst anregende Darstellung hinzugefügt. Der Umschlag signalisiert, was im Fokus dieses Buches steht: Es ist die Leitfrage, ob es in Zeiten der Teilung zwei deutsche Literaturen gegeben hat und wie sich diese in einer wechselvollen Geschichte aufeinander bezogen, voneinander abgegrenzt und miteinander korrespondiert haben. Dabei versucht der Autor nicht, einem enzyklopädischen Anspruch gerecht zu werden, er vergleicht vielmehr ausgewählte Werke mit gleichartiger Genrespezifik paradigmatisch. Seine Darstellung bietet damit keine Literaturgeschichte im engeren Sinne, sondern interessiert sich neben der Literatur für das, was der Autor unter den Begriff "Literaturverhältnisse" subsumiert, das heißt, Peitsch legt einen wichtigen Akzent auf die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen, die für die Produktion und Rezeption von Literatur maßgeblich sind. Er wählt ein anderes Periodisierungsschema als die Autoren der Beck'schen Literaturgeschichte, indem er die Zeiträume 1945–1949, 1949–1961, 1961–1976 und 1976–1989 voneinander abgrenzt und damit die drei politischen Zäsuren der zweifachen Staatsgründung, des Mauerbaus und der Biermann-Zwangsausbürgerung auch für die Literaturentwicklung markant exponiert.
Nachkriegsliteratur 1945–1989 (© Vandenhoeck & Ruprecht)
Nachkriegsliteratur 1945–1989 (© Vandenhoeck & Ruprecht)
Seine Darstellung überzeugt durch die Perspektivenvielfalt, die in den vier behandelten Perioden unterschiedliche thematische Schwerpunkte setzt und damit ein Gesamtbild konturiert, das eher wie ein Mosaik erscheint. Dabei wechseln literatursoziologische, gesellschaftspsychologische und innerliterarische Fragestellungen einander ab, wie in einer Folge von Einzelstudien, die nach drei Dimensionen entfaltet werden. Literatursoziologische Abschnitte zu Säuberung und Lizenzierung, Druckgenehmigung und Papierzuteilung in den Besatzungszonen (im Kapitel I unter dem diffusen Begriff "Öffentliche Öffentlichkeiten" zusammengefasst), "Verlags- und Zeitschriftenwesen" (in Kapitel II), zu "Rundfunk und Fernsehen" (in Kapitel III) oder zu "Verbänden, Gruppen und Begegnungen"(im Abschlusskapitel IV) werden in Beziehung gesetzt zu gesellschaftspsychologischen Themen wie "Die Schuldfrage" (I) "Antifaschismus und Antitotalitarismus" (II), "Modernisierung und Moderne" (III) sowie "Geschichte und Identität" (IV). Exemplarische Literaturanalysen im engeren Sinne bieten die Abschnitte "Kurzgeschichte" (I) "Modernes und sozialistisch-realistisches Erzählen" (II), "Dokumentarismus" (III) und "Autobiographik" (IV).
Ein Vorzug dieses mit einer originellen Konzeption gestalteten, facettenreichen Buches liegt in dem in allen Abschnitten vorgenommenen Vergleich zwischen ost- und westdeutscher Entwicklung. Mit dieser Verknüpfung bietet der Band eine willkommene Ergänzung zur systematisch strukturierten Literaturgeschichte des Beck-Verlages.
Schließlich regt Peitschs Einleitung zum Nachdenken über die Tragfähigkeit und Erklärungskraft der im Titel verwendeten Bezeichnung "Nachkriegsliteratur" an: "Der Begriff Nachkriegsliteratur wurde in den sechziger Jahre geprägt; er grenzte sie von der damaligen Gegenwartsliteratur ab, indem er sich auf die Literatur der unmittelbaren Nachkriegszeit (1945–1949) bezog. Die folgende Entwicklung von zwei deutschen Literaturen in den 1949 gegründeten Staaten wurde seit den späten siebziger Jahren in den Begriff eingeschlossen, so dass 1990 mit dem Ende der Zweistaatlichkeit auch die Nachkriegsliteratur der Vergangenheit angehörte." (9) Es sind die politischen Kontexte, die den von Helmut Peitsch in seinem Buchtitel benutzten erweiterten Begriff allenfalls plausibel machen. Die Literaturentwicklung selbst lässt ihn jedoch höchst zweifelhaft erscheinen, weil die literarischen Themen sich von einer bloßen Vergangenheitsfixierung in beiden Deutschländern rasch gelöst hatten, was insbesondere die Beiträge von Wilfried Barner und Manfred Durzak in der genannten Literaturgeschichte verdeutlichen.
Das kurze Glück der Gegenwart
Das kurze Glück der Gegenwart (© Klett-Cotta)
Das kurze Glück der Gegenwart (© Klett-Cotta)
Dass Literaturkritiker auch als Buchautoren ihr Publikum finden, hat Marcel Reich-Ranicki jahrzehntelang unter Beweis gestellt. Seinem Beispiel sind immer wieder auch jüngere Kollegen wie Helmut Böttiger, Volker Weidermann, Volker Hage
In unserem Kontext ist vor allem die Studie "Die deutsche Wiedervereinigung: Eine Erinnerung aus Ost und West" hervorzuheben. Dabei geht Kämmerlings von der markanten "Erfahrungsdifferenz" aus, die eine "Generation Golf" (Florian Illies) von der ostdeutschen Lebenserfahrung grundlegend unterscheidet. Diese manifestiert sich etwa in Clemens Meyers Roman "Als wir träumten" (den Kämmerlings in seinem Kapitel über die soziale Frage in der Literatur heranzieht) oder bei Autorinnen wie Jana Hensel, Julia Schoch oder Annette Gröschner. Mit überzeugend ausgewählten Beispielen entfaltet Kämmerlings seine These, dass "die Erinnerungsliteratur im Westen und Osten jeweils eine völlig verschiedene Funktion hat. Während sie im Westen zum Medium der Erinnerung wird, zum Gefäß, muss sie im Osten die Erinnerung ersetzen. Das merkt man am Ton. Während die Westautoren sich ironisch-schmunzelnd, heiter-melancholisch der Vergangenheit nähern, ist der Osten ernst und unversöhnlich (...) Oder ihm ist jede Erinnerung mit einem Gran Trauer versetzt" (111). Das klingt auf den ersten Blick plausibel, doch wer etwa Oskar Röhlers "Herkunft" mit Eugen Ruges großartigem Generationenroman "In Zeiten des abnehmenden Lichts", mit dem Deutschen Buchpreis 2011 ausgezeichnet, vergleicht, mag in Kämmerlings Dichotomie doch eher eine problematische Simplifizierung erkennen – Autoren haben ein autonomes Gedächtnis, das nicht nur gesellschaftlich konditioniert ist, sondern sich als authentisches Zeugnis in unser kulturelles Gedächtnis, in den Erinnerungsfundus einer Gesellschaft, einzuschreiben vermag.
Wem gehört die Geschichte?
Wem gehört die Geschichte? (© Konrad Adenauer Stiftung)
Wem gehört die Geschichte? (© Konrad Adenauer Stiftung)
Ein anregender Beitrag zur Erinnerungskultur in Literatur und Film ist Michael Braun gelungen. Der Autor, der dieses Thema zuvor schon in verschiedenen Aufsätzen elaboriert hat
Auch wenn der Autor eingangs – etwas missverständlich – von einer "Autonomie der Fiktion" in Literatur und Film spricht, erkennt er in beiden Kunstformen "eine ausgeprägte Lizenz zur freien Aufnahme, Behandlung und Ausdeutung historischer Stoffe", die in der künstlerischen Gestaltung ein "Zusammenspiel von Fakten und Fiktionen" (8f) bedeutet, aber nur ausnahmsweise – wie in Quentin Tarantinos "Inglourious Basterds" einem kontrafaktischen Erzählkonzept folgt.
Ein Vorzug dieser ebenso schmalen wie inhaltsreichen Schrift besteht darin, dass Braun sein theoretisches Gerüst in zwei Folgekapiteln mit Beispielen aus Literatur und Film zur Geschichte der NS-Diktatur ("Täter- und Opfer-Gedächtnis") und des SED-Regimes exemplarisch elaboriert. Ausführlicher als das NS-Kapitel (das sich unter anderem auf Günter Grass und Walter Kempowskis "Echolot" sowie auf drei Filme, darunter Michael Verhoevens "Sophie Scholl – Die letzten Tage", bezieht) ist das Kapitel über die DDR in der Erinnerungskultur "Zwischen 'Ostalgie' und Entmythologisierung" ausgelegt, das vom Literaturstreit um Christa Wolf, ausgelöst durch die Nachwende-Veröffentlichung ihrer Erzählung "Was bleibt" (1979), ausgeht und sich in einem aufschlussreichen Vergleich von Erinnerungsmodellen Christoph Hein und Uwe Tellkamp zuwendet. Braun unterstreicht den "Pluralismus der Gedächtniskulturen" (Anne Fuchs), den er in seinen geschickt gewählten Beispielen überzeugend nachweist, und resümiert seine anregende Darstellung: "Die Erinnerungsromane und Erinnerungsfilme der letzten 20 Jahre wollen weniger aufklären und aufarbeiten, sondern vielmehr verstehen und einordnen." (113) Am Ende einer aufschlussreichen Lektüre fragt man sich gleichwohl, ob die kühne Feststellung von Louis Begley, auf die sich Michael Braun abschließend beruft, die Literatur nicht doch überfordert, wenn dort postuliert wird: "Wir kommen der Wahrheit nie näher als mit erfundenen Geschichten." (115) Wenn Fakten eine authentische literarische Form wie in Herta Müllers "Atemschaukel" oder in Warlam Schalamows "Erzählungen aus Kolyma" finden, kommt man der Wirklichkeit wohl doch ein Stück näher, als in erfundenen Geschichten mit einem historischen Kern.
Grenzenlos
Tagungsbände sind mit dem Risiko mangelnder Kohärenz verbunden, da sich erst nachträglich erweist, ob die Beiträge die Konzeption der Organisatoren tatsächlich einlösen.
Grenzenlos (© Universitätsverlag Winter Heidelberg)
Grenzenlos (© Universitätsverlag Winter Heidelberg)
"Grenzenlos", aus einer Tagung des Jahres 2009 hervorgegangen und um einige Beiträge ergänzt, widmet sich mit insgesamt 15 Einzelstudien dem Thema "Mauerfall und Wende in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien" , wie der Untertitel – akribische Umsicht signalisierend – seinen Gegenstand umreißt. Die beiden Herausgeberinnen haben sich dabei von der Absicht leiten lassen, "unterschiedliche Textsorten (...) in ihren unterschiedlichen sozio-kulturellen Rahmenbedingungen" zu betrachten "und nach den Formen und Funktionen ihrer 'Vergangenheitsvisionen'" zu fragen (9f), wobei sich theoriegeleitete Überblicke mit exemplarischen Einzelstudien abwechseln. Obwohl auch die soziologischen Analysen von Thomas Ahbe und Bernd Lindner (zu Ostalgie bzw. ostdeutschen Jugendgenerationen) höchst anregend sind, sollen hier die Beiträge von Carsten Gansel, Sabine Kyora, Ute Dettmar und Mareile Oetken im Mittelpunkt stehen, die sich im engeren Sinne mit Literatur beschäftigen.
Nicht ganz einsichtig ist die Gliederung des Bandes, die statt eines naheliegenden thematischen Zusammenhanges die zuletzt erwähnten vier Texte auf zwei getrennte Kapitel verteilt und es dadurch erschwert, naheliegende Bezüge unmittelbar zu erfassen. Dass der Untertitel die Fokussierung auf Kinder- und Jugendliteratur relativiert, ist wohlbegründet. Der Eröffnungstext von Carsten Gansel blendet diese weitgehend aus und deutet – durchaus analog zur Studie Michael Brauns und gleichermaßen im Bezug auf Christa Wolfs "Was bleibt" – in einer instruktiven Analyse die "Literatur über die verschwundene DDR" als Versuche, die "Grenzen des Sagbaren" (Christa Wolf) hinauszuschieben, gegen die affirmative Erinnerung ein "Gegen-Gedächtnis" (Michel Foucault) zu konturieren, das aus der "Dringlichkeit" resultiert, "bislang aus dem kollektiven Gedächtnis Ausgeschlossenes endlich zur Sprache zu bringen und dafür die geeignete Form zu finden" (19f). Gansel wählt zur Explikation seines Ansatzes Beispiele aus Literatur und Film, die überwiegend auf andere Texte rekurrieren, als Braun ausgewählt hat, und damit jenen Horizont methodisch und inhaltlich erweitern, den dieser öffnet. Sabine Kyora konzentriert sich in ihrem Beitrag, der als Ergänzung zu Gansels Analyse gelesen werden kann, auf vier Bücher junger Autorinnen (Jana Hensel, Claudia Rusch, Susanne Schädlich, Julia Schoch), die sie vergleichend mit Uwe Tellkamps "Der Turm" in Beziehung setzt. Sie fokussiert ihre Darstellung um drei Aspekte: wie Revolutionsmetaphern verwendet werden; wie die Medien im Zusammenhang des Mauerfalls literarisch in Erscheinung treten; wie und mit welchen erzählerischen Intentionen Rekonstruktionen des Alltags geschildert werden. "Während die Kontinuität der subjektiven Erfahrung in den meisten Texten durch die Erinnerungsarbeit, auch durch die Bindung an die DDR-Literatur wieder hergestellt werden soll, ist der Roman Tellkamps radikaler, er endet mit dem Bruch, dem Doppelpunkt, der das letzte Zeichen des Textes bildet, ohne den Figuren ins Deutschland nach dem November 1989 zu folgen." (221)
Dass Carsten Gansel einem Fehlurteil unterliegt, wenn er der Kinder- und Jugendliteratur attestiert, im Unterschied zur "Allgemeinliteratur" habe es dort "keine einschneidenden Veränderungen gegeben " und konstatiert, "es finden sich (...) vielfach Klischees" (44), belegen die Beiträge von Ute Dettmar und Sabine Berthold. Dettmars Studie "Geschichte(n) von Wende und Wiedervereinigung" stellt Bücher vor, die sich um die Genres Familiengeschichte und zeitgeschichtlicher Roman gruppieren. Hier knüpft Bethold an. Sie analysiert Thomas Brussigs, von Leander Haußmann erfolgreich verfilmte Erzählung "Am kürzeren Ende der Sonnenallee", Waldtraut Lewins Roman "Mauersegler. Ein Haus in Berlin 1989" und Klaus Kordons "Hundert Jahre und ein Sommer", alle 1999 publiziert. Obwohl Berlin jeweils den Ort der Handlung darstellt, erscheinen die drei Bücher ansonsten prima vista grundverschieden: eine "Mauerkomödie", eine Generationengeschichte und Kordons Roman, der eine Doppelperspektive von Ost und West öffnet. Doch der Schein trügt: "Gemeinsam ist den drei Romanen, dass in ihnen die Wende und Wiedervereinigung als ein 'Clash der Kulturen' wahrgenommen wird, dass sie die Konfrontation von Ost- und West-Biografien veranschaulichen." Dabei wird "auch die Möglichkeit ihrer zum Teil kritisch, zum Teil humoristisch dargestellten Überwindung" einbezogen (192). Dieser Befund berührt sich mit Dettmars Beobachtung, dass in der Jugendliteratur der "Clash of Cultures als Comedy" (70) zutage tritt. "Dass in den 90er-Jahren in der Wendeliteratur zunächst die komischen Formate Konjunktur hatten, lässt sich auch als narrative Strategie (...) lesen, sich in dieser Form von Erfahrungen von und mit der DDR zu entlasten, die noch nahe liegen, aber nicht existentiell nahe gehen." (72)
Ein intellektuelles Lesevergnügen bietet der – notabene illustrierte – Text von Mareile Oetken, der "Erzählungen von der Wende im Bilderbuch" vorstellt, und auch der Beitrag von Caroline Roeder, der Berlin nach 1989 im Fokus von zwei kinderliterarischen Geschichten aus östlicher und westlicher Perspektive beschreibt, ist anregend und originell. Bei vielen erhellenden Impulsen bleibt am Ende doch eine Einschränkung bestehen, ein zwiespältiger Eindruck des Disparaten – wie ihn Tagungsbände nur selten vermeiden können.