Sammelrezension zu:
Vera Caroline Simon: Gefeierte Nation. Erinnerungskultur und Nationalfeiertag in Deutschland und Frankreich seit 1990 (Campus Historische Studien), Frankfurt a. M.: Campus 2010, 415 S., € 39,90, ISBN: 9783593391922.
Thomas Großbölting, Rüdiger Schmidt (Hg.): Der Tod des Diktators. Ereignisses und Erinnerung im 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2011, 320 S., € 29,95, ISBN: 9783525300091.
Carola S. Rudnick: Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1990, Bielefeld: Transcript 2011, 766 S., € 39,80, ISBN: 983837617733.
Jan Karski: Mein Bericht an die Welt. Geschichte eines Staates im Untergrund, München: Kunstmann 2011, 620 S., € 28,–, ISBN: 9783888977053. Gedenkstätten an die Opfer der beiden Diktaturen in Deutschland stehen in der Regel im Mittelpunkt der deutschen Debatte um die staatliche Erinnerungspolitik. Objektiv sind sie aber nur ein gewichtiger Ausschnitt des großen Themenkomplexes Erinnerungskultur, in dem sich die Nationen ihrer Geschichte und Identität vergewissern und in dem entschieden wird, was generationenübergreifend nicht vergessen werden soll.
Die vier Bücher, die hier kurz vorgestellt werden, zeigen die Spannbreite des Themas.
Gefeierte Nation
Vera Caroline Simon vergleicht die Feiern des deutschen und französischen Nationalfeiertags seit 1990. In Frankreich ist der 14. Juli seit 1888 Nationalfeiertag, der 3. Oktober wurde es in Deutschland erst durch den Einigungsvertrag 1990. Die französischen Rituale waren die Folie, auf der Simon die deutschen Feierlichkeiten bis 2007 untersuchte. Die grundlegende Differenz zwischen beiden Ländern bei diesen Feiern ist die Kontinuität in Frankreich und die Diskontinuität in Deutschland – bedingt durch die Kontinuitätsbrüche in den deutschen Staatsordnungen, die jeweils mit neuen Staatssymbolen und staatlichen Feiertagen verbunden waren. Es geht der Autorin perspektivisch um die nationalen Feierlichkeiten im Kontext einer "europäischen Erinnerungsgemeinschaft". Nationen brauchen solche Feiertagsrituale, um sich ihrer eigenen Identität zu vergewissern, davon ist Vera Caroline Simon überzeugt.
Tod des Diktators
Der Tod des Diktators (© Vandenhoeck & Ruprecht)
Der Tod des Diktators (© Vandenhoeck & Ruprecht)
Wie weit die europäische Erinnerungs-gemeinschaft noch differiert, zeigt der von Thomas Großbölting und Rüdiger Schmidt herausgegebene Band über den "Tod des Diktators". Angefangen von Napoleon Bonaparte, über Lenin, Stalin, Walter Ulbricht bis zu Mao Zedong, Franco und Saddam Hussein werden 15 Diktatoren des 19. und 20. Jahrhunderts vorgestellt. Die zentrale These der beiden Herausgeber ist, dass der Tod eines Diktators in der Geschichte der jeweiligen Nation eine Zäsur ist. Aber wie gehen die "Hinterbliebenen" mit seinem Erbe um? Verdammen sie ihn, verehren sie ihn, oder wird das Erbe abgelehnt und beginnt damit eine neue Periode in der Geschichte dieser Nation? Generell gibt es für jede dieser Varianten Beispiele.
Exemplarisch führt Rüdiger Schmidt am Beispiel von Napoleon die Skala der Möglichkeiten vor. Verbannt nach seiner endgültigen Niederlage auf die Atlantikinsel St. Helena begruben ihn die Briten, damit er in Europa vergessen würde. 20 Jahre nach seinem Tod entstand in Frankreich eine Bewegung, den Leichnam nach Paris zu überführen, um ihn als genialen Feldherrn würdig zu bestatten.
Enttäuschend ist der Beitrag von Hans-Ulrich Thamer über Hitler. Der Autor beschränkt sich auf den "Verrat" der Größen des "Dritten Reiches" an ihrem "Führer" kurz vor seinem Tod und auf das Versteckspiel der Sowjetunion mit den Resten seiner Leiche. Auf Hitler und die Folgen für die Deutschen geht er nicht ein. Schade.
Die andere Hälfte der Erinnerung
Die andere Hälfte der Erinnerung (© Transcript )
Die andere Hälfte der Erinnerung (© Transcript )
Der Untertitel des Buches von Carola S. Rudnick ist ambitioniert: "Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989". Diesen Anspruch kann die Autorin nicht einlösen. Thematisch konzentriert sie sich auf die Umwandlungen der Haftanstalten der SED-Diktatur für politische Gefangene in Gedenkstätten in Bautzen und Berlin-Hohenschönhausen; die Erinnerung an das Erbe der Staatssicherheit in der Runden Ecke in Leipzig und den Streit um das Haus 1, der Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin, und schließlich den Aufbau der beiden zentralen Gedenkstätten, die an die deutsche Teilung erinnern, die Stiftung Berliner Mauer und die Gedenkstätte Deutsche Teilung im Marienborn.
Rudnicks Studie ist eine verdienstvolle, sich auf viele Quellen stützende Darstellung des mühsamen Aufbaus dieser Gedenkstätten an die SED-Diktatur und die deutsche Teilung. Die beiden Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages zur Geschichte und Überwindung der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit nahmen konzeptionell die entscheidende Weichenstellung für den Aufbau dieser zweiten Hälfte der deutschen Erinnerungskultur an die Diktaturen des 20. Jahrhunderts vor. Ein Novum in der Geschichtspolitik der Bundesrepublik, konstatiert die Autorin. Die Bedeutung ihres Buches schränkt Rudnick aber durch ihre politisch- ideologische Interpretation der Geschichtspolitik des Bundes selbst ein. Ihr Bild wird bestimmt vom Widerstreit zweier politischer Linien: auf der einen Seite die "Konservativen", die vor allem die DDR "delegitimieren" wollten; ihnen widerstand die "Linke", zu der die Autorin auch die PDS zählt.
Ob diese parteiische Wahrnehmung nur eine falsche Interpretation oder gar die Negierung der Diskussion in der Enquete-Kommission darstellt oder ob eine bewusste Legendenbildung vorgenommen wird, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. Ein Indiz für die Berechtigung dieser Frage ist Rudnicks Behauptung, dass sich die konservative "Haltung geschichtspolitisch nicht durchsetzen" konnte. Im Gegenteil habe sich die Linke mit ihrer Forderung nach einer "differenzierenten Betrachtungsweise" durchgesetzt. Die Kommission unterbreitete mit ihrer Gedenkstättenkonzeption dem Bundestag einen Vorschlag, er bekam im Bundestag eine Mehrheit, aber politisch durchsetzen konnte ihn nur die von Kanzler Helmut Kohl geführte Bundesregierung. Sie tat dies im Konsens mit vielen DDR-Bürgerrechtlern. Diese Fakten übergeht Carola S. Rudnick souverän in der Bewertung der damaligen Geschichtspolitik.
Mein Bericht an die Welt
Mein Bericht an die Welt (© Verlag Antje Kunstmann )
Mein Bericht an die Welt (© Verlag Antje Kunstmann )
Jan Karski, der Kurier der polnischen Exilregierung, führte vor seinem Aufbruch nach London im Spätsommer 1942 in Warschau ein Gespräch mit dem Führer des zionistischen Widerstandes im Warschauer Ghetto. Thema der konspirativen Zusammenkunft war der Völkermord an den polnischen Juden. Karski notierte Kernsätze seines jüdischen Gesprächspartners: Ihr Polen könnt euch glücklich schätzen, auch ihr müsst leiden, viele von euch werden sterben, aber ihr werdet als Nation überleben und Polen wieder aufbauen. "Aber die polnischen Juden wird es nicht mehr geben. Wir werden tot sein. Hitler wird seinen Krieg gegen die Menschheit, das Gute und Gerechte verlieren, aber seinen Krieg gegen die polnischen Juden wird er gewinnen. Er wird das jüdische Volk nicht besiegen, sondern ganz einfach ermorden." Seine letzte verzweifelte Hoffnung setzte der Todgeweihte auf die Hilfe der Alliierten. Nach einer Reise durch das von den Deutschen besetzte Europa erreichte Karski London. Die polnische Exilregierung schickte ihn mit dieser unglaublichen Information zur englischen und amerikanischen Regierung. Der britische Premierminister Winston Churchill empfing ihn nicht, aber in Washington konnte Karski mit Präsident Franklin D. Roosevelt sprechen. Festgehalten hat er die Episode in seinem 1944 in London erschienenen Buch über den polnischen Untergrundstaat unter deutscher Besatzung.
Der Auschwitz-Überlebende und Nobelpreisträger Elie Wiesel holte Karski 1981 aus dem Vergessen, als es in der Holocaust-Diskussion um die Fragen ging: Was wussten die Alliierten über den Völkermord und warum taten sie nichts, um ihn zu stoppen? Sein Buch hatte Karski im Auftrag der polnischen Exilregierung geschrieben, um publizistisch ihren Anspruch zu untermauern, als Vertreter Polens an den alliierten Kriegskonferenzen über die europäische Nachkriegsordnung teilzunehmen. Ein Argument hob Karski besonders hervor, auf das die polnische Exilregierung gegenüber ihren Alliierten jedoch vergebens pochte: In Polen gab es keine Kollaborationsregierung. Im Machtspiel der Siegermächte in Jalta und Potsdam sollte aber die polnische Tapferkeit wenig zählen.
Als das Buch im Herbst 1944 erschien, hatte Stalin längst anders entschieden. Der Warschauer Aufstand war noch von deutschen Truppen niedergekämpft worden, und in Lublin war bereits die künftige, von den Kommunisten geführte polnische Regierung installiert. Ein Kapitel über den "östlichen Nachbarn" Polens hatte der britische Verleger abgelehnt zu drucken.
Das Buch von Karski liegt nun endlich in deutscher Übersetzung vor und erinnert die Nachgeborenen an Polens Leid und an die Verbrechen der deutschen Besatzung. Das Buch hilft uns, noch einmal zu verstehen, warum der polnische Staat nach 1945 die Aussiedlung und Vertreibung der Deutschen auch aus Schlesien, Pommern und Ostpreußen mit solch rücksichtslosem Hass betrieb. Jan Karski lange vergessenes Buch über das Schicksal Polens während des Krieges erinnert uns an die Ursache, die in Deutschland zur Teilung des Landes und zur SED-Diktatur geführt haben.