I.
"Politikverdrossenheit" gehört zu den allgegenwärtigen Worten in unserer Gesellschaft.
Die genannten Vorbehalte ignorieren nun keineswegs, dass es in nennenswertem Umfang Skepsis und Unbehagen gegenüber der etablierten Politik gibt und dass diese Distanz in den letzten Jahren offensichtlich zugenommen hat. Sieht man auf bestimmte gesellschaftliche Entwicklungstendenzen, ist das auch nicht verwunderlich. So dürfte eine politisch-normativ entkernte, durch sogenannte Sachzwänge bestimmte und/oder im Krisenmanagement aufgehende Politik kaum Zuversicht in ihre Gestaltungsmöglichkeiten wecken – zumal im Kontext ökonomisch dominierter Globalisierungsprozesse.
Eine ganz andere Frage ist, ob sich die Unzufriedenheits-Reaktionen der Bevölkerung unter dem Stichwort "Politikverdrossenheit" zusammenfassen lassen. Allein die Politisierungsschübe, die in letzter Zeit zu beobachten sind, lassen daran zweifeln. "Stuttgart 21" zum Beispiel oder auch der kometenhafte Aufstieg der Piraten-Partei sprechen für und gleichzeitig gegen "Politikverdrossenheit". Es gibt also gute Gründe für eine Beschäftigung mit diesem Begriff.
II.
Das Wort taucht Ende der 1980er-Jahre in der öffentlichen Diskussion auf. 1994 steht "Politikverdrossenheit" im Duden, nachdem es zwei Jahre zuvor von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum "Wort des Jahres" erklärt worden war (nicht zum "Unwort des Jahres"!). Nach diesem "Ritterschlag" stand der Karriere des Begriffs nichts mehr im Wege. Über seine Bestimmung heißt es bei "Wikipedia": "Politikverdrossenheit bezeichnet eine negative Einstellung der Bürger in Bezug auf politische Aktivitäten und Strukturen, die sich unter Umständen in Desinteresse oder Ablehnung von Politik, ihrer Institutionen und politischem Handeln äußert. Diese Haltung kann generell die ganze politische Ordnung betreffen oder sich nur auf Ergebnisse politischer Prozesse beziehen."
Diese Definition von "Politikverdrossenheit" kann als repräsentativ gelten.
Ähnliche Schwierigkeiten oder Unklarheiten zeigen sich darin, dass – gelegentlich auch in empirischen Studien – nicht immer klar ist, worauf sich der Begriff jeweils bezieht, auf "die Politiker", "die Parteien", "das politische System" – oder auf alles zusammen. Häufig bleibt zudem offen, ob Distanz gegenüber oder Ablehnung von Politik dieser überhaupt gilt oder nur der Politik im Rahmen der überkommenen politischen Organisationsformen, was in Bezug auf "Politikverdrossenheit" eine wichtige Frage ist. Und schließlich bleibt oft unausgesprochen, mit welchen Prämissen und Vorstellungen von politischer Teilnahme bzw. Nichtteilnahme die Merkmale von "Politikverdrossenheit" verknüpft sind.
Das hat erhebliche Konsequenzen. Zum Beispiel: Wenn man von politischem Desinteresse und fehlendem Engagement als Merkmalen von "Politikverdrossenheit" ausgeht, müssten politisches Interesse und Engagement das Gegenteil von "Politikverdrossenheit" sein. Denkt man nun an die realhistorischen Verhältnisse in der Bundesrepublik, fallen einem diese aktiven Verhaltensweisen nicht als erstes ein – abgesehen von den Reformjahren Ende der 1960er-, Anfang der 70er-Jahre, in denen eine große Minderheit außerhalb der Parlamente aktiv war und es gleichzeitig zahlreiche Parteieintritte gab. Viel eher denkt man im Rückblick an ein anderes, verbreitetes Verhaltenssyndrom, das in den Befragungen unter dem Stichwort "politische Zufriedenheit" auftaucht. Und eben diese "politische Zufriedenheit" hatte und hat de facto immer schon mehr mit politischer Apathie als Interesse und Engagement zu tun. Dazu passt, dass Studien zur "Politikverdrossenheit" selber eine gar nicht so kleine Gruppe von Nichtwählern identifiziert haben, die genau aus diesem Grund, also weil sie mit den politischen Verhältnissen zufrieden sind, nicht zur Wahl gehen.
Der Begriff "Politikverdrossenheit" besagt als solcher also nicht nur wenig, sondern lockt auch auf manchen Holzweg. Als erstes ist es wohl notwendig, nicht alles, was Kritisches gegenüber der Politik zu hören und zu lesen ist, umstandslos unter "Politikverdrossenheit" zu subsumieren. Dazu gilt es, die Aussagekraft der empirisch-analytisch verfahrenden Studien in ihrer geläufigen Gestalt als Befragungsforschung im Blick zu behalten. Sie sind – nach dem Vorbild der Naturwissenschaften – ausschließlich oder zuvorderst an quantifizierbaren "Gegenständen" und möglichst exakten Berechnungen orientiert, was den historisch-gesellschaftlichen Kontext von Fragestellungen und Befunden häufig in den Hintergrund treten lässt. Das mindert den Erkenntniswert und erleichtert den Gebrauch der Befunde je nach Neigung und Interessenlage.
III.
Diese Hinweise auf die Begrenzungen und Probleme der empirisch-analytischen Sozialforschung sollen zum vorsichtigen Umgang mit deren Ergebnissen gemahnen. Unberührt davon bleibt, dass solche Studien durchaus wichtige Fingerzeige geben können. Das gilt etwa für eine mehrdimensional angelegte empirische Untersuchung zur "Politikverdrossenheit", deren methodisches Setting als Verlaufsstudie auf einen zeitlichen Vergleich zielt und dabei in erster Linie auf eine Population Bezug nimmt, die im Ruf steht, besonders "politikverdrossen" zu sein: Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 16 und 29 Jahren. Daneben enthält diese Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) auf der Grundlage der Jugendsurveys 1992 und 1997
Zentrales Ergebnis dieser aufwendigen Studie ist, dass sich die Veränderungen von "Politikverdrossenheit" im untersuchten Zeitraum aufs Ganze gesehen in engen Grenzen halten und die auffälligsten Unterschiede (auch im Zeitverlauf) zwischen ost- und westdeutschen Jugendlichen und jungen Erwachsenen bestehen. In nahezu allen Bereichen (Zufriedenheit mit der bundesdeutschen Demokratie, ihren Institutionen und der Reaktionsbereitschaft des politischen Systems gegenüber den Sorgen und Ansprüchen der Menschen wie auch hinsichtlich der Beurteilung der Parteien und Politiker) gibt es bei den Ostdeutschen negativere Werte. Dabei zeigen die Ost-West-Einschätzungen und -Bewertungen im Zeitverlauf eine Scherenbewegung an, das heißt, sie gehen weiter auseinander. Selbstredend verweist das direkt oder mittelbar auf eine Spezifik, nämlich die lange Existenz zweier deutscher Staaten und deren Wiedervereinigung, zu der im Osten nach anfänglicher Euphorie verbreitet Enttäuschungsreaktionen gehören.
Ein weiteres Ergebnis der Studie ist, dass auch die Unterschiede zwischen den jüngeren und älteren Probanden nicht gravierend sind; höhere positive Werte bestehen bei den Älteren (einschließlich der über 30-Jährigen, die als kleine Vergleichsgruppe in die Untersuchung einbezogen worden sind) nur bei "politischem Interesse" und bei der Einschätzung der eigenen "politischen Beurteilungskompetenz", was nicht eben überrascht. Und schließlich ist der Befund hervorzuheben, dass Skepsis, Enttäuschungen und Vertrauensverluste vor allem gegenüber den Parteien und Politikern in West und Ost nicht automatisch ins politische Abseits führen, sondern politisches Interesse und Engagement sich durchaus in anderen als den traditionellen Handlungskontexten zeigen können, zum Beispiel in Bürgerinitiativen.
Das stimmt mit den Ergebnissen einer anderen, im Jahr 2000 veröffentlichten Untersuchung überein, nach der in Gesamtdeutschland fast jeder vierte 16- bis 29-Jährige an Aktivitäten von Umweltschutzgruppen, Friedens- und Dritte-Welt-Initiativen, Menschenrechtsgruppen usw. teilnimmt.
Dabei gibt es auch in der Verlaufsstudie des DJI durchaus Hinweise auf nennenswerte Probleme mit der Politik. Immerhin ist auch hier nur die knappe Hälfte der Befragten mit der aktuellen Politik zufrieden, jeder zehnte ist deutlich unzufrieden, im Osten fast jeder vierte. Ähnliches gilt für das Vertrauen, wobei die nicht zum traditionellen Parteien- und Institutionenspektrum gehörenden Politikformen (Bürgerbewegungen, Greenpeace usw.) deutlich besser abschneiden: Weit über die Hälfte der Befragten hat hierzu "großes Vertrauen". Negativ betroffen sind vor allem die Bundesregierung, die Parteien und der Bundestag ("großes Vertrauen" haben hier zwischen einem Viertel und einem Drittel), während die Gerichte einschließlich des Bundesverfassungsgerichts ähnlich hoch eingestuft werden wie die Bürgerbewegungen bzw. Nichtregierungsorganisationen (NGOs), zu denen etwa die Hälfte bis zu zwei Drittel der Befragten "großes Vertrauen" haben.
Eine repräsentative Forsa-Umfrage von Ende 2006 bestätigt wesentliche Ergebnisse dieser Studie. Das gilt insbesondere für die Unzufriedenheit mit dem Funktionieren des politischen Systems, die hier – einschließlich der impliziten West/Ost-Unterschiede – sogar noch höhere Werte aufweist. Auffällig ist außerdem das deutliche Votum für die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden, die 80 Prozent der Befragten befürworteten
Der registrierte Vertrauensschwund gegenüber den Parteien und Politikern hat insofern besondere Bedeutung, als die Parteien rechtlich-normativ wie faktisch eine zentrale Stellung innerhalb des politischen Systems der Bundesrepublik einnehmen. Sie haben gegenüber anderen Organisationen eine verfassungsrechtlich hervorgehobene, im Grundgesetz verankerte Stellung (speziell Artikel 21 GG), die durch die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts im Laufe der Zeit noch verstärkt worden ist. Das scheint sie ermuntert zu haben, ihre Eigenfinanzierung (vor allem durch Mitgliederbeiträge und Spenden) immer weiter zugunsten einer staatlichen Finanzierung zu ersetzen.
IV.
Zum Stichwort "Politikverdrossenheit" werden in der öffentlichen Debatte und der Sozialforschung (hier von der empirischen Parteienforschung) noch andere Merkmale benannt und diskutiert, die leichter objektivierbar sind. Sie verlangen ebenfalls nach historischer Einbettung. Vor allem werden in diesem Zusammenhang aufgezählt: die erheblich gesunkenen Mitgliederzahlen in den Parteien, deren gleichzeitige Überalterung sowie der Verlust von Stammwählern und – vor allem – die Zunahme der Zahl der Nichtwähler.
Zahl der Mitglieder aller deutschen Parteien und Anteil der Parteimitglieder an den Wahlberechtigten in Deutschland.
Quelle: Datenreport 2011, Hg. Statistisches Bundesamt/Wissenschaftszentrum Berlin, Berlin/Wiesbaden 2011, S. 376 (Basis: Oskar Niedermayer, Parteimitglieder in Deutschland: Version 2011, Arbeitshefte a. d. Otto-Stammer-Zentrum, Nr. 18, Berlin 2011). (© Destatis )
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Zahl der Mitglieder aller deutschen Parteien und Anteil der Parteimitglieder an den Wahlberechtigten in Deutschland.
Quelle: Datenreport 2011, Hg. Statistisches Bundesamt/Wissenschaftszentrum Berlin, Berlin/Wiesbaden 2011, S. 376 (Basis: Oskar Niedermayer, Parteimitglieder in Deutschland: Version 2011, Arbeitshefte a. d. Otto-Stammer-Zentrum, Nr. 18, Berlin 2011). (© Destatis )
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Vom Mitgliederschwund sind vor allem die großen Parteien SPD und CDU betroffen. Die SPD verlor seit ihrem Hoch von über eine Million Mitglieder Mitte der 1970er-Jahre bis Ende 2006 fast die Hälfte, die CDU rund ein Viertel seit ihrem Höchststand von nahezu 780.000 Mitgliedern Ende der 80er-Jahre. Beide Parteien sind heute mit je annähernd einer halben Million Mitgliedern etwa gleich stark, mit einem leichten Übergewicht der CDU. Weitgehend konstant geblieben ist die CSU in Bayern. Zur Überalterung: Bei der SPD war in den 1970er-Jahren gut jedes dritte Mitglied jünger als 35 Jahre, 2006 sind es weniger als ein Zehntel. Während es bei der CDU nur geringfügig besser aussieht, liegen die Anteile der jüngeren Jahrgänge bei den Grünen und bei der FDP höher.
Nimmt man die Geschichte der Bundesrepublik in den Blick und sieht nur die Zahlen, entdramatisieren sich diese Zahlenverhältnisse ein wenig: Die SPD ist von ihrer Organisationsstärke her wieder in den frühen 1960ern angekommen, während die CDU bis Ende der 80er-Jahre kontinuierlich wuchs und erst seit 1990/91 Mitglieder verlor, was auch mit dem Spezialfall "deutsche Wiedervereinigung" bzw. den damit verbundenen Problemen zu tun haben dürfte. Und für die SPD ist nicht nur das Schwinden der Reformeuphorie ab Mitte der 1970er-Jahre in Rechnung zu stellen, sondern auch die Gründung der Grünen und – vor allem – die neue, von der Schröder-Regierung eingeleitete Politik im Rahmen der sogenannten Agenda 2010, die auf die sogenannte "Neue Mitte" bzw. die "modernen Leistungsträger" setzte.
Mit dieser programmatischen Weichenstellung hängt ein weiteres Phänomen zusammen, das ebenfalls als Ausdruck von "Politikverdrossenheit" genannt wird: der Verlust von Stammwählern. Er ist allerdings nicht nur für die SPD charakteristisch. Die Parteisoziologen bezeichnen diesen Prozess als Erosion der alten langfristigen Parteibindungen, wonach Wahlentscheidungen früher relativ unabhängig von den jeweils aktuellen Wahlen getroffen worden sind, wobei diese Entscheidungen nicht nur auf die jeweilige Parteizugehörigkeit zurückgingen, sondern gleichzeitig in hohem Maße mit der jeweiligen Schichtzugehörigkeit verknüpft waren. Seit dem Zweiten Weltkrieg – und in den letzten Jahrzehnten erheblich beschleunigt – hat ein sozio-kultureller, auch die Wahlentscheidungen beeinflussender Ausdifferenzierungsprozess stattgefunden, und zwar parallel zu den sich gleichzeitig vollziehenden sozialstrukturellen Veränderungen. So haben große Teile der nachgewachsenen Generationen der alten Arbeiterschaft einen deutlichen, seinerseits ausdifferenzierenden Qualifizierungsprozess durchlaufen, wobei nicht wenige nunmehr außerhalb von Industrie und Handwerk beschäftigt sind, insbesondere im wachsenden Dienstleistungsbereich. Hier haben sie weit überwiegend "moderne", an Eigenverantwortung, Leistung und Konsum orientierte Verhaltensmuster übernommen, verknüpft mit durchaus unterschiedlichen politischen Orientierungen. Gleichwohl hat sich bei einem großen Teil das Selbstverständnis erhalten, zur Großgruppe der Arbeitnehmer bzw. ökomisch-sozial Abhängigen zu gehören.
Gleichzeitig hat in den Gruppen, die traditionell den Mittelschichten zugerechnet werden, ein entsprechender Prozess die vormals übergreifend konservativen politischen Orientierungen zurücktreten lassen zugunsten technokratischer oder emanzipatorischer Orientierungen, sodass auch hier innerhalb ökonomisch-sozial weitgehend homogener Gruppen politisch unterschiedliche Fraktionen existieren – am deutlichsten ausgebildet bei den akademischen Berufen, aus denen überwiegend die Träger der Reformbewegung Ende der 1960er-, Anfang der 70er-Jahre kamen. Die vergleichsweise klaren Dichotomien und Abgrenzungen der alten Klassen und Schichten haben sich also gelockert und politisch ausdifferenziert. Keineswegs sind damit alle in der "Mitte" der Gesellschaft gelandet, gleichsam jenseits aller strukturellen Abhängigkeiten und Gegensätze.
Dieser Verlust korrespondiert mit der Zunahme der Zahl der sogenannten Wechselwähler und der sogenannten Unentschiedenen (jener Gruppe also, die zum Leidwesen der Wahlprognostiker bis kurz vor der Wahl noch keine Wahlentscheidung getroffen hat).
Erstens dürfte hier eine Rolle spielen, dass sich vor allem die großen Parteien in ihren politischen Profilen stark angenähert haben. Zweitens, dass sich in der Bevölkerung offenbar der Eindruck verfestigt hat, dass sich die Parteien schwer dabei tun, einen erträglichen Ausgleich zu finden zwischen dem "Wirtschaftsstandort Deutschland" (mit Forderungen nach Deregulierung bei Arbeitszeit, Tarifverträgen usw.) auf der einen Seite und den sozialen Garantien und Imperativen des Sozialstaates auf der anderen Seite, und zwar im Verein mit der gleichzeitigen Wahrnehmung, dass die Interessen der Wirtschaft einschließlich der Banken eine deutliche Bevorzugung erfahren. Drittens der Eindruck, Politik stehe primär unter der Dominanz und dem Druck globalisierter Ökonomie und erschöpfe sich mehr und mehr in Krisenmanagement. Damit scheint – viertens – verbunden zu sein, dass genuin politische Projekte a priori zu nachrangigen Veranstaltungen mit finanziell außerordentlich begrenzten Möglichkeiten herabsinken. Fünftens, dass eine nationalstaatlich bestimmte Politik durch die europäische Einigung bzw. übernationale Institutionen zusätzlich begrenzt wird. Und schließlich sechstens, dass die gestiegene Komplexität ökonomischer und politischer Prozesse etliche Politiker zu überfordern scheint und einige von ihnen auch deshalb "blind" und "taub" wirken gegenüber den Problemen ihrer Wähler vor Ort.
Die Zunahme der Nichtwählerschaft
Bei den Bundestags- und Landtagswahlen, denen in der Wahlforschung auch das Hauptinteresse gilt, wird die nachlassende Wahlbeteiligung keineswegs einhellig als Problem wahrgenommen. Ein Teil spricht von einer Krisenerscheinung, die tendenziell zu einer Gefährdung der parlamentarischen Demokratie führe und der unter anderem durch eine Öffnung des Wahlsystems in Richtung mehr Beteiligungsmöglichkeiten entgegen gewirkt werden müsse (etwa durch die Einführung von Plebisziten
Über beide Einschätzungen ließe sich trefflich streiten. Gegen die – zu affirmativ erscheinende – Normalisierungsthese ist vor allem einzuwenden, dass – erstens – "Normalisierung" als "Norm" irgend einen Durchschnittswert benutzt, der auf der Grundlage der gegebenen Verhältnisse gewonnen wurde. Nicht nur Abweichungen nach unten, sondern auch nach oben in Richtung von mehr Beteiligung wären demnach anormal, zum Beispiel die gegenüber Großbritannien höhere Wahlbeteiligung. Das schließt einen zweiten Punkt ein: Die Normalisierungsthese impliziert eine ahistorische Betrachtungsweise. So haben Deutschland und (beispielsweise) Großbritannien hinsichtlich Demokratie bzw. demokratischer Wahlen eine ganz unterschiedliche Geschichte, und daraus folgen tendenziell auch unterschiedliche programmatische Vorstellungen und Beteiligungsformen – zunächst einmal völlig unabhängig von der Frage, mit welchen Motiven die höhere Wahlbeteiligung verknüpft ist.
Auf der anderen Seite ist die sogenannten Krisenthese im Blick auf die nachlassende Wahlbeteiligung nicht frei von Überzeichnungen. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass ihre Vertreter die Schwierigkeit unterschätzen, aus der (zweifellos größer gewordenen) Gruppe der Nichtwähler jene herauszufiltern, die der Krisenthese tatsächlich entsprechen. Einige Forscher, die sich besonders mit den Nichtwählern beschäftigt haben, sprechen von drei identifizierbaren Gruppen unter diesen: Die größte Gruppe bilden die sogenannten konjunkturellen Nichtwähler. Sie lässt sich nur mit erheblichen Einschränkungen der Krisenthese zuordnen, weil hier die Wahlteilnahme bzw. Nichtteilnahme stark abhängt von der eingeschätzten Bedeutung der jeweiligen Wahlebene und dem situativ bestimmten politischen Geschehen (zum Beispiel der persönlichen Betroffenheit durch die Rentenreform) oder von persönlichen Abwägungsumständen (etwa dem Wetter oder einem Ausflug am Wahltag). Hierzu gehören auch jene Wahlenthalter, die mit den momentanen politischen Verhältnissen zufrieden sind und es deshalb für unnötig halten, zur Wahl zu gehen. Bei einer zweiten, kleineren Gruppe ist die Entscheidung zur Wahlabstinenz hingegen klar politisch motiviert im Sinne eines bewussten Protests. Und eine dritte, fast gleich große Gruppe setzt sich aus zwei Untergruppen zusammen: Die einen gehen nicht zur Wahl, weil sie das nie tun (da sie politisch völlig uninteressiert sind oder politische Betätigung aus religiösen Gründen ablehnen); die anderen geben technische oder organisatorische Gründe für ihre (partielle) Wahlabstinenz an (Umzug, keine Briefwahlunterlagen usw.). Der weitaus größere Teil der Nichtwähler versäumt also die Wahl offenbar nicht aus Gründen des politischen Protests – eingedenk dessen, dass auch die Gruppe der Protestler wahrscheinlich relativ größer geworden ist. Im Übrigen wäre es mehr als problematisch, diese Gruppe umstandslos zu den "Politikverdrossenen" zu zählen, eben weil hier Enthaltung bewusst als politische Entscheidung vollzogen wird, also von einer Abwendung von der Politik keine Rede sein kann.
Eine Wahlanalyse der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen, die sich auf die Bundestagswahl 2002 bezieht, gibt einen interessanten Hinweis auf den Ursachenkomplex der zugenommenen Wahlabstinenz, den man jenseits der Normalisierungs- und Krisenthese verorten kann. 2002 lag der Anteil der Nichtwähler bei knapp 21 Prozent. Fast ein Viertel davon ging aus ganz persönlichen, aus organisatorischen und technischen Gründen nicht zur Wahl. Knapp ein Drittel der Nichtwähler wollte durch die Wahlabstinenz politischen Protest ausdrücken, und fast die Hälfte (!) aller Nichtwähler wurde unter dem Begriff "Geringe Involvierung" subsumiert.
Es fällt auf, dass solche Feststellungen in den Wahlanalysen nur am Rande vorkommen – vielleicht deshalb, weil hier ein Problem sichtbar wird, das sich den herkömmlichen Interpretationsschemata mehr oder weniger entzieht. Kategorien wie Links/Rechts oder "Protest" und "Apathie" oder "staatsbürgerliche Pflicht" im Zusammenhang mit Wahlentscheidungen greifen hier offenbar nur unzureichend oder überhaupt nicht.
Was gemeint ist, wird schnell in Diskussionen mit Wirtschaftsvertretern oder -redakteuren deutlich, von denen häufig Politik im Grunde als etwas Störendes wahrgenommen zu werden scheint. Der Tenor dieser Verlautbarungen ist oft, dass eigentlich alles besser laufen würde, wenn die Politik sich "raushalten" und alles Wesentliche den rational wirkenden Kräften des Marktes überlassen würde, der persönliche Entfaltung und Wohlstand am ehesten garantieren könne: Weshalb also sollte man überhaupt zu irgendwelchen Wahlen gehen? Schließlich haben wir ja auch keine Wahlpflicht und leben – Gott sei Dank – in keiner Diktatur!
In einer Fernsehdiskussion in den späten 1990er-Jahren fragte der bekannte, aller linken Neigungen unverdächtige Journalist Johannes Gross ob solcher Beiträge halb verwundert, halb protestierend in die Runde, wer denn dann noch für das Gemeinwohl stehe und was denn mit denen geschehe, die keine Lobby hätten bzw. aus dem Wirtschaftsprozess herausfielen?
Nicht zufällig sind in der FDP als besonders "wirtschaftsnaher" Partei verwandte Töne zu hören, die, weil sie aus der Politik selbst kommen, ein wenig paradox anmuten. So berichtete die "Hannoversche Allgemeine" 2010 von einer "launigen Rede", die der damalige Bundesgesundheitsminister (und gegenwärtige FDP-Vorsitzende und Wirtschaftsminister) Philip Rösler in Bayern gehalten und in der er gesagt hatte: "In den ersten 11 Monaten hat die Regierung nichts getan. Das waren die Monate gewesen, die die Wirtschaft gebraucht hat, um sich zu erholen."
V.
Schlussendlich ist nochmals auf die Arbeit einer sozialwissenschaftlichen Forschergruppe der Leibniz Universität Hannover zurückzukommen. Sie besitzt gegenüber den meisten anderen empirischen Ansätzen aus dem Bereich der politischen Sozialstrukturanalyse methodisch zwei Vorzüge. Zum einen verbindet sie quantitative mit qualitativen Zugriffen (sie stützt sich unter anderem auf ausführliche Interviews), und zum anderen erfasst sie – in der Tradition Pierre Bourdieus – neben den üblichen Sozialdaten (Beruf, Einkommen usw.) politisch-kulturelle Gesellungsformen und Wertorientierungen der Probanden. In diesem Sinne wurde auch das Verhältnis zur Parteipolitik und die Formen des politischen Engagement bzw. der politischen Distanz in einer aufwendigen Studie untersucht und Anfang der 1990er-Jahre veröffentlicht.
1. Enttäuschungen gegenüber der etablierten Politik, insbesondere den Parteien, sind verbreitet. Sie finden sich vor allem in zwei "Lagern". Deren differierende politische Grundorientierungen schließen ein, dass die Enttäuschungen völlig unterschiedliche Ausprägungsformen haben und mit verschiedenen Konsequenzen verbunden sind – ein wesentlicher Aspekt, der in vielen anderen Untersuchungen vernachlässigt wird. Besonders deutlich zeigt sich das bei den einzelnen "Politiktypen", bei denen es sich um eine Ausdifferenzierung innerhalb der politischen "Lager" handelt. So wird im Lager der "Reformorientierten" kritisch oder enttäuscht/distanziert mit den Parteien umgegangen, aber durchweg positiv gegenüber dem Bereich "unkonventionelle Politikformen" reagiert, häufig auch im Sinne von aktiv-mitmachend. Völlig anders im "Lager der Ressentiments": Hier ist die Enttäuschung über die Parteien mit fatalistischen oder aggressiven Reaktionen gegenüber der Politik verbunden, bei einem Typ dieses "Lagers" verknüpft mit starker Sympathie für unkonventionelle Politik. Nimmt man bei diesem Typ die übrigen politisch-kulturellen Orientierungen hinzu, insbesondere das Verhältnis zu Ausländern, wird deutlich, dass sich die Bevorzugung unkonventioneller Politik mit rechten bis rechtsradikalen Aktivitäten verbindet.
2. Das dritte neben diesen beiden "Lagern", das "Lager der Status-Quo-Orientierungen", repräsentiert konservative Prägungen. Auffällig ist hier, dass nur in diesem "Lager", das übrigens nahezu alle Berufsgruppen umfasst, Vertrauen in die Parteipolitik deutlich vorherrschend bzw. von Enttäuschungen kaum die Rede ist.
3. In der Studie wird auch eine Quantifizierung der Ergebnisse vorgenommen. Das "Lager der Reformorientierten" wird auf gut 40 Prozent beziffert, das "Lager der Status-Quo-Orientierten" auf gut 30, das der "Ressentiments" auf über 25 Prozent. Dabei zeigt sich, dass die von den Parteien und den Politikern Enttäuschten (die "Politikverdrossenen", wie man im Sinne der herkömmlichen Interpretationsmuster sagen könnte) tatsächlich mehr als 50 Prozent ausmachen. So stimmte weit über die Hälfte aller Probanden den folgenden beiden Statements zu: "In der Politik geschieht selten etwas, was dem kleinen Mann nützt", und: "Es ist egal, welche Partei man wählt, ändern wird sich doch nichts." Damit bestätigt diese Studie die meisten Untersuchungsergebnisse zur "Politikverdrossenheit" – freilich verbunden mit differenzierten inhaltlichen Bestimmungen und Schlussfolgerungen.
4. "Politikverdrossenheit" im Sinne einer Abwendung von Politik als Reaktion auf Enttäuschung ist nach dieser Untersuchung nur für einen Politiktyp aus dem "Lager der Ressentiments" charakteristisch. Er wird hier der "Enttäuscht Apathische" genannt und auf einen Anteil von gut 13 Prozent beziffert. Eine ähnliche Größenordnung repräsentiert der zum gleichen "Lager" gehörende "Enttäuscht Aggressive"-Typus.
Als Fazit ist festzuhalten: Der nach wie vor überaus populäre Begriff "Politikverdrossenheit" enthält ein wahres Moment, indem er ein (offenbar gewachsenes) Unbehagen gegenüber bestimmten Entwicklungen in Politik und Gesellschaft ausdrückt. Indessen ist seine heuristische Kraft außerordentlich begrenzt. Insofern kann man sich getrost Kai Arzheimer anschließen, der penibel die wissenschaftliche Literatur der 1980er- und 90er-Jahre durchgesehen hat und zu dem Schluss kommt, dass "sowohl aus analytischer wie aus empirischer Sicht ... nichts dafür spricht, am Verdrossenheitsbegriff festzuhalten."
Als zusätzlicher Beleg dafür kann ein Typus der politisch "Verdrossenen" gelten, der erst in jüngster Zeit als "Wutbürger" von sich reden machte – eine Attributierung, die prompt zum "Wort des Jahres" 2010 ausgerufen wurde. Das Wort verweist nicht nur auf eine mögliche emotionale Voraussetzung für politisches Handeln, vor allem bezeichnet es einen aktiven Protesttypus, der in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen hervortritt, oft tonangebend. Das Akteursspektrum reicht von lokalen Auseinandersetzungen um Großprojekte (wie etwa "Stuttgart 21") über bundesweite Aktionen zum Beispiel gegen die Castortransporte bis hin zur länderübergreifenden "Occupy!"-Bewegung, die auf die Finanzkrise bzw. die "Macht der Banken" reagiert. Bei vielen Aktionen dieser Art findet man auf den Plakaten die "wütende" Feststellung: "Jetzt reicht's!"
Was hier stattfindet, hat wenig oder gar nichts mit einer Abwendung vom Politischen zu tun. Angst um die Zukunft, nicht nur um die eigene, scheint ein zentrales Motiv zu sein, begleitet eben von Enttäuschungen und Wut gegenüber denen, die für die Malaise verantwortlich gemacht werden. Aber drückt sich hier schon eine Hinwendung zum Politischen aus? Durchaus wohlwollende Beobachter der Szenerie bezweifeln das. So meint der Politologe Claus Leggewie in seinem eindringlichen Plädoyer für den "Aufbruch in eine neue Demokratie"
Programmatisch mag das richtig sein. Aktuell könnte es vielleicht eher darauf ankommen, unentschiedene Situationen auszuhalten, damit klarer wird, was es mit jener 'Wut' auf sich hat, das heißt, mögliche Lernchancen nicht durch vorschnelle Institutionalisierungen einzuschränken. Natürlich wäre das ein schwieriges Unterfangen, weil es weder verlässlich planbar ist noch einfach dekretiert werden kann. Dementsprechend gehört Ambiguitätstoleranz nach wie vor nicht zum Ausweis politischer Kompetenz – vermutlich zum Nachteil von Politisierungsprozessen, die an demokratischen Imperativen orientiert sind und auf Selbstverständigung und Nachhaltigkeit setzen.