Suche nach Orientierungspunkten
Die deutsche Zeitgeschichtsforschung sucht nach Orientierungspunkten für die Zeit "nach den Katastrophen" des 20. Jahrhunderts.
Vorbehalte gegen ein solches Unterfangen beziehen sich – erstens – auf die spezifische Quellenlage; zweitens wird ein Mangel an Distanz vermutet, der das Urteilsvermögen des Historikers eintrübe und so eine Analyse "sine ira et studio" erschwere; drittens wird die Unabgeschlossenheit vieler Entwicklungsprozesse unterstrichen, die eine historiografische Deutung und Beurteilung verhindere. Diese Vorbehalte münden in der Auffassung, derlei gegenwartsnahe Forschungen seien "gar nicht mehr als Zeitgeschichte im Engeren zu fassen".
1. Vorbehalte gegenüber einer gegenwartsnahen Zeitgeschichtsforschung
1.1 Außerhalb des Geheimarchivs: Empirische Herausforderungen
Neue Horizonte und offene Möglichkeitsräume für HistorikerInnen – East Side Gallery, Kasra Alavi "Flucht" (Mitte). (© Joachim F. Thurn / Bundesregierung, B 145 Bild-F088804-0025)
Neue Horizonte und offene Möglichkeitsräume für HistorikerInnen – East Side Gallery, Kasra Alavi "Flucht" (Mitte). (© Joachim F. Thurn / Bundesregierung, B 145 Bild-F088804-0025)
Die spezifische und häufig diskutierte empirische Grundlage der jüngsten Zeitgeschichte bringt fünf Herausforderungen mit sich: Ins Auge sticht – erstens – der eklatante Mangel an staatlich-archivalischen Quellen, welcher der Archivgesetzgebung geschuldet ist. Demgegenüber droht – zweitens – eine regelrechte Überflutung durch bereits veröffentlichte Dokumente, vor allem in Gestalt von medialen Erzeugnissen in audiovisueller und digitaler Form, Material nicht-staatlicher Provenienz oder Zeitzeugenaussagen. Drittens sind beträchtliche Unterschiede bei der Überlieferung und Erschließung solcher Quellengattungen, etwa in Fernseh- oder Rundfunkarchiven, eine beständige Herausforderung. Viertens stellt die angedeutete Quellenvielfalt interpretative Anforderungen, denen die Zeitgeschichte nur bedingt mit ihrem klassisch-philologischen Instrumentarium der Quellenkritik beikommen kann. Fünftens fordert die empirisch fassbare "Verwissenschaftlichung des Sozialen"
Doch nicht nur Vielfalt, Verfügbarkeit und Interpretation der Quellen, sondern auch die Fragen, die an sie gestellt werden, haben sich mit der Entwicklung neuer Forschungsansätze, methodischer Zugänge und digitalisierter Arbeitstechniken gewandelt. So haben "klassische" archivalische Quellen aus dem politischen Arkanum in jenem Maße an Bedeutung eingebüßt, wie auch die politische Geschichte der "Großen Kabinette" nicht mehr den Kristallisationskern historischer Forschungen bildet. So man den Vorschlag annimmt, Zeitgeschichte als "Problemgeschichte der Gegenwart"
1.2 Sogwirkungen der Gegenwart:
Biografische Nähe und Geschichtspolitik
Bereits Hans Rothfels musste sich in den 1950er-Jahren an grundlegenden disziplinären Herausforderungen abarbeiten, um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der erst wenige Jahre zuvor beendeten NS-Diktatur gegen allerlei Vorbehalte zu rechtfertigen; das Problem der zeitlich-biografischen Nähe zum historischen Untersuchungsfeld ist also mitnichten neu, stellt sich aber seit dem Ende des Kalten Krieges mit verstärkter Intensivität. Zwar hat diese Nähe durchaus Vorteile, bringt sie doch eine Fülle von Detailkenntnissen mit sich; andererseits erschwert gerade das implizite (Vor-)Wissen wissenschaftliche Verfremdungs- und Abstraktionsbemühungen, die für das Aufspüren neuer Perspektiven bedeutsam sind. Dieses Spannungsverhältnis bleibt daher auch für die jüngste Zeitgeschichtsforschung aktuell. Denn im Kontext vergangenheitsnaher Debattenlandschaften und im Rhythmus medial verstärkter Gedenkstafetten, Podiumsdiskussionen und Publikationswellen werden oftmals die Primärerfahrung der Zeitzeugen, geschichtspolitische Erwägungen und wissenschaftliche Analyse bis zur Unkenntlichkeit miteinander vermengt; "Erlebnishorizont des Zeitzeugen" und "Erklärungshorizont des Zeithistorikers" verschmelzen miteinander.
Hierbei wäre die immense Sogwirkung staatlicher Geschichtspolitiken auf die Zeitgeschichtswissenschaft kritisch zu reflektieren, wenn letztere sich ihrerseits nicht zum bereitwilligen wie funktionalen Mythenspender (zurück) entwickeln will. Lutz Niethammer hält deshalb fest, dass sich die "Wertbildung in einer Gesellschaft" mit ihrer ausdifferenzierten Medienlandschaft und deren pluralen Deutungsangeboten nicht mehr "durch den traditionellen Transfer von Normalität und Teleologie unter Beihilfe historischer Geschichtenerzähler" vollziehen könne; viel eher gelte es, eine offene "Auseinandersetzung zwischen vielen Geschichten"
1.3 Narrativimporte:
Deutungen unabgeschlossener Vergangenheiten
Zeithistorische Orientierungssuche für die Zeit "nach den Katastrophen" des 20. Jahrhunderts, East Side Gallery. (© Joachim F. Thurn / Bundesregierung, B 145 Bild-F088803-0010)
Zeithistorische Orientierungssuche für die Zeit "nach den Katastrophen" des 20. Jahrhunderts, East Side Gallery. (© Joachim F. Thurn / Bundesregierung, B 145 Bild-F088803-0010)
Aus der Unabgeschlossenheit jüngster Vergangenheiten heraus resultiert ein weiteres drängendes Problem: Mangels ausreichender zeithistorischer Forschungen und bedingt durch die breite sozialwissenschaftliche Quellen- und Literaturlage droht die Gefahr einer unreflektierten Übernahme von Narrativen und Deutungsmustern aus den gegenwartsorientierten Nachbardisziplinen: So werden bestehende Themenhierarchien, Perspektiven, Semantiken und Deutungen aus den zeitgenössischen Sozial-, Wirtschafts- und Kulturwissenschaften als tragende Säulen in die historischen Erzählungen eingearbeitet. Eingedenk dieser Tendenz zur voreiligen Adaption zeitgenössischer Narrative erscheint die Frage berechtigt, welchen Eigenwert zeithistoriografische Annäherungen anzubieten haben.
2. Zeithistoriografische Sichtweisen auf die jüngste Vergangenheit
In Anbetracht erinnerungskultureller Konjunkturen und nationalstaatlicher Fixierungen spielt das Jahr 1989/90 eine zentrale Rolle in der jüngsten Zeitgeschichtsforschung Deutschlands und wird als übergreifender Ordnungs- und Fluchtpunkt anerkannt. So prägen drei Sichtweisen den Umgang der deutschen Historikerschaft mit der gegenwartsnahen Vergangenheit: Erstens setzt 1989/90 einen zäsuralen Endpunkt, der den HistorikerInnen von "Bonner Republik" bzw. DDR als eine Art heuristische Brandmauer dient. Jenseits hiervon wüten die Feuer der Revolution und die zeithistoriografische Aufmerksamkeit konzentriert sich – zweitens – auf die Monate von der Friedlichen Revolution bis zur Wiedervereinigung, die als eigengesetzliche revolutionäre Zwischenphase erscheint. Schließlich wird die jüngste Vergangenheit mittlerweile verstärkt auch von ihrem Ausgangspunkt 1989/90 her betrachtet, der nun zur Geburtsstunde der "Berliner Republik" avanciert und eine "normalisierte" nationalhistorische Sichtachse freilegt.
2.1 Der Umbruch 1989/90 als zeithistoriografischer Schlussstein
In Anbetracht der beträchtlichen empirischen, biografischen wie geschichtspolitischen Hürden erscheint es zunächst plausibel, die Geschichtsschreibung vor dem Beginn einer "vom Heute nur zeitlich, aber nicht epochal abgetrennte[n] (...) 'Gegenwartsgeschichte'"
2.2 Die Schatten der Friedlichen Revolution
Darüber hinaus wurde in den vergangenen Jahren eine Fülle von Monografien und Sammelbänden zur Erforschung des Umbruchs 1989/90 publiziert. Schwerpunkte bilden dabei Ursachen, Verlauf und unmittelbare Konsequenzen der gesellschaftlichen Proteste und ihrer politisch-institutionellen Fortführung durch die Ministerialbürokratie, ferner die internationalen diplomatischen Aushandlungen sowie insgesamt die Bedeutung verschiedener Akteure des Umbruchs auf regionaler wie nationaler Ebene. Es überwiegt eine ereignis-, institutionen- und personenorientierte Politikgeschichte, die in ihren Befunden durch sozialhistorische Betrachtungen ergänzt wird und auf den wiedervereinten deutschen Nationalstaat zentriert bleibt. Die von Jürgen Osterhammel kritisierte "internalistische Orthodoxie"
Welche Vor-, Nach- und Nebengeschichten verbergen sich im Schatten der friedlichen Revolution 1989/90? – Lichtfest Leipzig 2010. (© Westend)
Welche Vor-, Nach- und Nebengeschichten verbergen sich im Schatten der friedlichen Revolution 1989/90? – Lichtfest Leipzig 2010. (© Westend)
Schließlich hat der angesprochene Nexus zwischen politisch-medialer Aufmerksamkeit sowie gegenwartsnaher Historiografie beträchtliche Konsequenzen. Salopp formuliert: Je heller das Licht auf das ereignisreiche Geschehen der Friedlichen Revolution fallen soll, desto stärker verharren diejenigen Aspekte im Schatten der Aufmerksamkeit, die sich nicht direkt auf den Zusammenbruch der DDR und die Wiedervereinigung beziehen. Zeitlich konzentriert sich diese Umbruchs- bzw. Revolutionsforschung auf einen dicht gedrängten Ereigniskorridor vom Frühjahr/Sommer 1989 bis zum Oktober 1990; räumlich bleiben die untergehende DDR sowie die Kapitalen der Großmächte im Fokus. Letztlich ist Christoph Kleßmann zuzustimmen, wenn er festhält, dass sich "das Bild erheblich" wandle, wenn man den verbreiteten "Jubel über friedliche Revolution und Vereinigung" perspektivisch überwinde.
2.3 Importierte Wissenschaftlichkeit?
Die Anfänge der "Berliner Republik"
In aktuellen Überblicksdarstellungen zur Geschichte der "Berliner Republik" findet die jüngste Vergangenheit durchaus ihren Platz.
Demgegenüber knüpft ein anderer Teil der Historikerschaft – zweitens – an zeitgenössische, politisch linksstehende sowie postnational grundierte Gegenerzählungen an und beschreibt die jüngste Vergangenheit nach dem "Beitritt" eher als Verlust- oder Konfliktgeschichte; krisenhafte Entwicklungen in den neuen Bundesländern erscheinen als unmittelbare Folge einer einseitigen, fast kolonial ausgestalteten politischen, ökonomischen wie kulturellen Anpassung des "Ostens" und seiner Bevölkerung, der als "Nachbau West" durch bundesrepublikanische Transfereliten gesteuert wird.
Kommt die Zeitgeschichtsforschung nicht ohne das Paradigma der "nachholenden Modernisierung" aus? – Baustelle in der Altstadt von Rudolstadt 1993. (© Julia Fassbender / Bundesregierung, B 145 Bild-00106428)
Kommt die Zeitgeschichtsforschung nicht ohne das Paradigma der "nachholenden Modernisierung" aus? – Baustelle in der Altstadt von Rudolstadt 1993. (© Julia Fassbender / Bundesregierung, B 145 Bild-00106428)
Das Gros der Historikerschaft beschreitet schließlich einen dritten Weg jenseits dieser beiden zeitgenössisch-politisierten Deutungsmuster. Der bestehende Mangel an eigenen disziplinären Impulsen soll durch die Übernahme sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Deutungen und Semantiken aus der zeitgenössischen Transformationsforschung kompensiert werden, sozusagen als importierte Wissenschaftlichkeit. Im Zentrum stehen dabei einschlägige Motive wie die "nachholende Modernisierung" oder die "Vereinigungskrise", die Jürgen Kocka schon zeitgenössisch zur Diskussion stellte.
Trotz aller Differenzen teilen alle zeithistoriografischen Erzählmuster zur noch jungen Geschichte der "Berliner Republik" einige implizite Grundannahmen: Erstens dient ihnen der jeweilige Entwicklungsstand der nationalstaatlichen Reintegration Deutschlands als zentraler motivischer Fluchtpunkt; zweitens werden viele politische, ökonomische oder gesellschaftliche Entwicklungen, die in den 1990er-Jahren eine neue Intensität erreichten, als immanente Resultate einer "chaotischen" Krisenzeit interpretiert, obwohl ihre Ursachen und Vorgeschichten in der Zeit vor 1989 zu verorten sind (etwa die Asyldebatte oder Krisen des Sozialstaates); drittens eint alle Erzählstränge die unhinterfragte Grundannahme von weitgehender Kontinuität (West) bei einem radikalen (Um-)Bruch (Ost); viertens wählen sie eine distanzierte Vogelperspektive, um die Prozesse aus national-affirmativer, neokolonial-kritischer oder szientistisch-abstrakter Blickrichtung zu beschreiben, wobei die konkreten gesellschaftlichen Erfahrungen und Praktiken kaum eine Rolle spielen.
3. Erneuerungsvorschläge:
Historisierung langer Übergänge
3.1 Über die Grenzen des Bekannten hinaus
Durch räumlich wie zeitlich limitierte Perspektivsetzung ist Vieles aus dem Blick der ZeithistorikerInnen geraten: So bleiben gerade die west- und außereuropäischen Staaten und Gesellschaften noch zu häufig zeithistoriografische terrae incognitae, deren weitgehende Ausblendung mit impliziten Kontinuitätsvermutungen gerechtfertigt wird. Hier wäre die durchaus provokante Gegenfrage zu stellen, ob die "alte" Bundesrepublik bzw. das Westeuropa der 1980er-Jahre aus gegenwärtiger Perspektive in vielerlei Hinsicht nicht genauso fern und verwandelt erscheint wie die untergegangene sozialistische Staatenwelt. Eine "unbeabsichtigte Co-Transformation des 'alten' Europa" erscheint über die Maßen evident, wie Philipp Ther formulierte, der in seinem Plädoyer für eine transnationale Transformationsgeschichte eine perspektivische Überwindung der "ehemaligen Blockgrenzen" einfordert.
Jenseits dieser disziplinären Selbstbeschränkungen könnte sich ZeithistorikerInnen ein neuartiges Panorama raumübergreifender Dynamiken und Zusammenhänge eröffnen, das transnational und nicht nur komparatistisch durchmessen werden könnte. Weiterhin gehören gerade auch zäsurale Selbstverständlichkeiten auf den Prüfstand. Hier könnte eine differenzierende Problematisierung des Zäsurcharakters von 1989/90 weiterhelfen, die jüngst auch Martin Sabrow einforderte,
3.2 Jenseits der Extreme: methodische Synergien
Ausgerechnet in der jüngsten Zeitgeschichte finden zentrale Theoriedebatten der vergangenen Jahrzehnte kaum Resonanz. Dies mag damit zusammenhängen, dass es einleuchtend erscheint, sich bei der Erschließung naher Vergangenheiten zunächst den "klassischen" und scheinbar grundlegenden Fragen zu widmen, also jenen einer "harten" Politik- und Sozialgeschichte. Einem derart engen historiografischen Programm droht jedoch fachinterne Isolation und monothematische Hermetik. Schließlich haben sich in der deutschen Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten Forschungsansätze etabliert, die weniger den Anspruch erheben, vorherige Anstrengungen schlicht zu ersetzen, sondern ihnen weitere Perspektiven hinzuzufügen. Insbesondere die seit Mitte der 1990er-Jahre im deutschsprachigen Raum zum Durchbruch gelangte neue Kulturgeschichte könnte hier auf vielen Feldern befruchtend wirken.
Übertriebene Heilserwartungen an die Adresse der Kulturgeschichte erscheinen allerdings überzogen; viel produktiver erschiene es, die Themen der Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte in ein konstruktives Spannungsverhältnis zur kulturhistorischen Vielfalt an Themen, Analyseobjekten und Fragestellungen zu setzen. So könnten Mentalitäts-, Geschlechter-, Diskurs-, Medien-, Konsum-, Wissens-, Global- oder Umweltgeschichte sowie transnationale, postkoloniale und verflechtungsgeschichtliche Ansätze produktive Fragen auch für eine Geschichte der jüngsten Vergangenheit bereithalten. Eine Öffnung könnte nicht zuletzt dazu beitragen, die noch häufig zu beobachtenden gegenseitigen Abschließungs- und Abgrenzungstendenzen zwischen Politik- und SozialhistorikerInnen auf der einen sowie KulturhistorikerInnen auf der anderen Seite pragmatisch zu überwinden.
Produktive Inspirationen hierfür könnte nicht zuletzt auch die stärkere Rezeption zeithistorischer Arbeiten außerhalb Deutschlands bereithalten
3.3 Konturen einer Varianz- und Kontextgeschichte von Übergängen
Brückenschläge, Missverständnisse, Abgrenzungen? – Begegnungen zwischen Ost- und Westeuropa vor und nach dem Ende des Kalten Krieges. (© Dialog. Deutsch-polnisches Magazin)
Brückenschläge, Missverständnisse, Abgrenzungen? – Begegnungen zwischen Ost- und Westeuropa vor und nach dem Ende des Kalten Krieges. (© Dialog. Deutsch-polnisches Magazin)
Nimmt man die von Lutz Niethammer umschriebene Herausforderung an, die "Geschichte der Miterlebenden in den letzten drei Jahrzehnten historisch zu dimensionieren und erforschenswerte Fragestellungen für diese Geschichte auszuarbeiten"
3.4 Neue Themenfelder für die jüngste Zeitgeschichte
Wie könnte das Themenprofil einer solchen Übergangsgeschichte aussehen? Hierzu einige kursorische Überlegungen: Erstens könnte auf einer diskursgeschichtlich zu analysierenden Makroebene dem langfristigen Wandel von Raumprojektionen und Orientierungswelten in Europa nachgegangen werden, der sowohl regionale, nationale wie europäische Bezüge identifiziert als auch Grenzüberschreitungen berücksichtigt. Hier wäre dezidiert nach dem Wechselspiel zwischen der politischen Integration Europas sowie den parallelen Veränderungen in den Regionen West-, Mittel- und Osteuropas, nach gegenläufigen Entwicklungen wie Globalisierung und Renationalisierung, aber auch nach neuen Grenzziehungen zu einem "Außereuropa" sowie den angelagerten identitären Selbst- und Fremdzuschreibungen zu fragen.
Zweitens sollte der Wirtschafts- und Sozialgeschichte eine zentrale Rolle zukommen: Neben dem Wandel der Unternehmenslandschaften sowie der jeweiligen Arbeitswelten könnten hier insbesondere die umfassenden Umbauten und Neujustierungen im Verhältnis von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft berücksichtigt werden. Eine Wissens-, Praxis- und Erfahrungsgeschichte des Wirtschaftsumbaus erforderte eine ausgreifende Perspektive, die die Privatisierungsdebatten im Westeuropa der 1980er-Jahre zwingend integrieren müsste.
Weiterhin ließen sich – drittens – auf einer alltagshistorisch zu fassenden Mikroebene individuelle Erfahrungswelten und subjektive Aneignungen im Kontext soziokultureller wie sozioökonomischer Übergänge untersuchen – von geschlechtsspezifischen, generationellen, familiären oder religiösen Lebenswelten über Migrations-, Kommunikations- und Konsumhandeln bis hin zu Fragen nach Such- und Orientierungsprozessen, über die HistorikerInnen jenseits grober Sozialstatistik und griffiger soziologischer Formeln bislang wenig zu berichten wissen.
Viertens bildet die angesprochene konsequente Historisierung der zeitgenössischen Transformationsforschung auf einer Metaebene eine Herausforderung. Eine zentrale Rolle dürfte so begriffshistorischen Sondierungen zukommen, die sich mit dem semantischen Bedeutungswandel sowie der Neuetablierung von Leitbegriffen und Dichotomien befassen – etwa "Globalisierung", "Zivilgesellschaft", "Neoliberalismus", "Dritter Weg", "Flexibilisierung" oder "Vernetzung" –, aber auch mit geläufigen Begriffspaaren wie "Europa" und "Europäische Gemeinschaft/Union" oder neuen Dichotomisierungen – etwa des "Westens" und der "islamischen Welt". Zudem wäre es lohnenswert, mittlerweile sprichwörtliche und ihrem Kontext entrückte Epochenformeln wie das "Ende der Geschichte", den "Kampf der Kulturen" oder das "postideologische Zeitalter" als zeitgenössische Projektionsfolien zu kontextualisieren.
4. Ausblick
Die jüngste Zeitgeschichtsforschung steht einigen anspruchsvollen Herausforderungen gegenüber. Zwar hat die "Aufarbeitung der Aufarbeitung" inzwischen begonnen.
Die hier als Varianz- und Kontextgeschichte von Übergängen skizzierten Diskussionsanregungen könnten der jüngsten Zeitgeschichte Anschlussmöglichkeiten an die intensiv geführte Debatte um eine Geschichte "nach dem Boom" bieten. Zwar mag offen bleiben, ob das Ende des europäischen Kommunismus eine bloße "Begleiterscheinung" tiefgreifender, genuin "politökonomisch" zu fassender struktureller Wandlungsprozesse im Westen war.
Gerade in diesem langfristig zu fassenden Querschnittsfeld könnte die jüngste Zeitgeschichte wertvolle empirische Beiträge zu aktuellen Debatten liefern, wenn sie sich nur konsequent auf ihre disziplinären Vorzüge besinnt: ZeithistorikerInnen wären hier als "Experten für Heterogenität, Kontingenz, Partikularität und Ambivalenz"