Sammelrezension zu:
Eckhard Jesse: Systemwechsel in Deutschland 1918/1919–1933–1945/1949–1989/90, 2. Aufl., Köln u. a.: Böhlau 2011, 280 S., € 24,90, ISBN: 9783412205997.
Tilman Mayer (Hg.): Deutscher Herbst 1989 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung; 99), Berlin: Duncker & Humblot 2010, 169 S., € 84,–, ISBN: 9783428134991.
Eckhard Jesse, Thomas Schubert (Hg.): Zwischen Konfrontation und Konzession. Friedliche Revolution und deutsche Einheit in Sachsen (Forschungen zur DDR-Gesellschaft), Berlin: Ch. Links 2010, 388 S., € 34,90, ISBN: 9783861536088.
Christoph Wunnicke: Der Bezirk Neubrandenburg im Jahr 1989, Schwerin: LStU Mecklenburg-Vorpommern, 151 S., € 6,–, ISBN: 9783933255327.
Das 20-jährige Doppeljubiläum von friedlicher Revolution 1989 und deutsch-deutschen Vereinigung 1990 nahm die Forschung zum Anlass, um sich den Systemwechselprozessen in der DDR erneut intensiver zu widmen.
"Systemwechsel in Deutschland"
Das beeindruckendste Buch, das einen Rückblick auf die Ereignisse wirft, ist das des Chemnitzer Politikwissenschaftlers Eckard Jesse "Systemwechsel in Deutschland. 1918/1919–1933–1945/49–1989/90". Es beeindruckt vor allem deshalb, weil der Autor die Entwicklung der DDR von einer Diktatur zu einer Demokratie in einen vergleichenden Kontext mit anderen Systemwechseln der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert stellt.
Ein Systemwechsel versteht sich aus politikwissenschaftlicher Sicht dabei nicht als bloßer Regierungswechsel. Von einem Systemwechsel kann erst gesprochen werden, wenn sich die Grundstruktur einer politischen Ordnung grundlegend verändert hat. Jesse bezieht sich dabei ausdrücklich auf die Systemtypen der Diktatur und der Demokratie. In der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts sieht Jesse vier politische Systemwechsel: vom Wilhelminischen Kaiserreich zur Weimarer Republik, von der Weimarer Republik zum "Dritten Reich", vom "Dritten Reich" zur Bundesrepublik Deutschland bzw. zur DDR, von der DDR zur Bundesrepublik Deutschland.
Bei der Untersuchung dieser Systemwechsel steht bei Jesse vor allem die Frage im Vordergrund: "Was sind die zentralen Gründe für die Umbrüche – den Sturz des Alten wie den Sieg des Neuen?" (12) Ferner geht es ihm darum zu analysieren, welche Rahmenbedingungen jeweils für die Systemwechsel gegeben waren.
Jesse geht dabei chronologisch vor. Nachdem er eine Einführung in die Systemwechselforschung gegeben und die Transformationsphasen bzw. Kriterien eines Systemwechsels (Ende des alten Systems, Institutionalisierung und Konsolidierung) erläutert hat, beschreibt er in den folgenden vier Hauptkapiteln die Ereignisse 1918/19, 1933, 1945/49 und 1989/90. Er legt zunächst die Rahmenbedingungen und Ursachen dar, anschließend den Verlauf und die Phasen sowie die Ergebnisse und Folgen. Jesse beschreibt dabei die Ereignisse unterschiedlich umfangreich: Je dichter sie an die Gegenwart kommen, desto ausführlicher werden die Systemwechsel von ihm behandelt. Der Politikwissenschaftler bündelt in diesen Kapiteln bisherige Forschungsergebnisse und macht aus dem ersten Teil des Buches – auch wegen der guten und klaren Strukturierung – ein lohnendes Nachschlagewerk.
In den nächsten drei Hauptkapiteln vergleicht Jesse die Systemwechsel miteinander. Mehrere Möglichkeiten stehen ihm dabei zur Verfügung: der Diktatur-Diktatur-Vergleich, der Diktatur-Demokratie-Vergleich, der Demokratie-Demokratie-Vergleich. Jesse konzentriert sich dabei vor allem auf den Vergleich zwischen dem "Dritten Reich" und der DDR, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland sowie der Weimarer Republik und der Bundesrepublik, weil andere, mögliche Vergleiche für ihn weniger Relevanz besitzen.
Hier analysiert Jesse noch einmal die grundlegenden Strukturmerkmale beider Diktaturen und Demokratien. Bei seinem Vergleich zwischen "Drittem Reich" und DDR kommt er unter anderem zu dem Schluss: "Beide Diktaturen beruhten auf einer Monopolisierung der Willensbildung, setzten eine Ideologie der Rasse bzw. der Klasse mit Absolutheitsanspruch durch; strebten eine Mobilisierung der Massen an, der allerdings Grenzen gesetzt waren. Die Entwicklung im Dritten Reich und in der DDR verlief gegenläufig. Radikalisierte sich das eine System mit zunehmender Bestandsdauer, so ließ bei dem anderen der Grad des Totalitarismus sukzessive nach. [...] Die NS-Diktatur – in den Annalen der Geschichte mit der Judenvernichtung verewigt – stürzte die Welt in einen Krieg mit Millionen von Toten. Untaten dieser Dimension weist die in das kommunistische Machtsystem integrierte DDR als 'abgeleitete' Diktatur nicht ansatzweise auf." (176) Jesse lehnt jedoch in Bezug auf die DDR die Bezeichnung "zweite deutsche Diktatur" ab, da die DDR eben keine genuin "'deutsche' Diktatur" gewesen sei. (178)
In dem anschließenden Kapitel konfrontiert Jesse den Leser mit einem Vergleich zwischen der Bundesrepublik Deutschland vor der deutschen Einheit und 20 Jahre danach, um diesmal nicht einen Systemwechsel, sondern die Veränderungen innerhalb des demokratischen Systems zu verdeutlichen. Im Vordergrund steht bei Jesse hier vor allem die Frage, ob das vereinigte Deutschland eine "neue" oder eine "erweiterte Republik" ist. Wie schon in Kapitel 6, in dem er unter anderem die Folgen des Systemwechsels beschreibt, werden hier erneut die politischen, wirtschaftlichen und mentalen Umbrüche in Ost und West aufgegriffen. Dabei mutet für den Autor paradox an, dass zwar kaum ein Bürger die Einheit rückgängig machen wolle, aber viel zu viel darüber debattiert werde, dass die innere Einheit nicht gelungen sei: "Nur wenige reden von den unterschiedlichen Mentalitäten der Hessen im Vergleich zu den Bayern, aber fast alle stellen unaufhörlich Differenzen zwischen den Ostdeutschen und den Westdeutschen heraus – bezogen auf die materielle und mentale Einheit." (146) An einer Reihe von Beispielen belegt Jesse anschließend, dass sich "die Schere zwischen Ost und West" nicht weiter geöffnet hat "als in den siebziger und achtziger Jahren" (146). Trotz der positiven Entwicklungsbefunde haben vor allem die Menschen in Ostdeutschland 20 Jahre nach der deutschen Einheit immer noch Identifikationsprobleme gegenüber dem neuen demokratischen System. Jesse findet die niedrige Zustimmungsquote zur Demokratie von 40 Prozent zwar ebenfalls bedenklich, glaubt aber dennoch, dass sich die Bundesrepublik konsolidiert hat und dies auf "hohem Niveau". (151) So vertritt er die These, dass es sich bei der heutigen Bundesrepublik nicht um eine "neue Republik" handele, sondern um eine "erweiterte Republik", die trotz zahlreicher Veränderungen die Kontinuität bewahrt habe: "Das wiedervereinigte Deutschland ist bei allen Wandlungen keine neue Republik. Es steht stark in der Tradition der Bundesrepublik vor dem Oktober 1990. Die institutionellen Rahmenbedingungen sind im Kern ebenso erhalten geblieben wie die meisten wirtschaftlich-sozialen. Das Fundament des politischen Systems ist nach der Vereinigung weitgehend gleichgeblieben. Kompetenzverlagerungen auf die europäische Ebene sind weniger vereinigungsbedingt. Wir haben im Wesentlichen eine erweiterte Republik." (193)
Im vorletzten Kapitel wendet Jesse die Kriterien der Systemwechselforschung auf die vier von ihm zuvor beschriebenen Systemwechsel an, um schlussendlich weitere Anregungen für die Forschung und die Auseinandersetzung mit den Diktaturen und Demokratien des 20. Jahrhunderts zu geben.
Eine solch vergleichend angelegte Studie zu den Systemwechseln im 20. Jahrhundert war längst fällig. Das sehr empfehlenswerte Buch bietet genügend Stoff zum Nachdenken und zur Diskussion. Bereits wenige Monate nach seinem Erscheinen ging das Buch in die zweite, überarbeitete Auflage, was das große Interesse an politischen Systemwechseln deutlich macht.
"Deutscher Herbst 1989"
Deutscher Herbst 1989 (© Duncker & Humblot)
Deutscher Herbst 1989 (© Duncker & Humblot)
Die Gesellschaft für Deutschlandforschung, die 1978 in Berlin gegründet wurde, veranstaltete 2009 eine Jahrestagung zu einem ihrer Kernthemen: der "deutschen Frage". Die Ergebnisse dieser Tagung erschienen 2010 unter dem Titel "Deutscher Herbst 1989". Retroperspektiv werden in elf Aufsätzen die Ursachen und Folgen der friedlichen Revolution in der DDR auf west- und ostdeutscher Seite beleuchtet.
Der erste Abschnitt behandelt die Frage, welche Rolle die politische Opposition in der DDR in den Jahren 1989 und 1990 gespielt hat und ob sie sich nun mit der "deutschen Frage" beschäftigt habe oder nicht. Letzteres ist nach wie vor in der Forschung umstritten. Andreas H. Apelt bezieht jedoch eindeutig Position. Anhand verschiedener Dokumente aus dem Oppositionsmilieu der 80er-Jahre legt er deren Auseinandersetzung mit der Teilung des Landes dar. Ein Bekenntnis zu Deutschland als einheitlicher Nation enthielten nicht nur die Briefe von Robert Havemann und Rainer Eppelmann 1981 und 1982, sondern auch verschiedene Samisdat-Zeitschriften. Apelt weist alle jene Kritiker zurecht, die der DDR-Opposition pauschalisierend ein eigenes deutschlandpolitisches Bild absprechen. In der Phase der revolutionären Ereignisse im Herbst 1989 bescheinigt Apelt der DDR-Opposition eher einen zurückhaltenden deutschlandpolitischen Kurs und attestiert ihr einen "Schritt zurück gegenüber manch früheren Äußerungen". (22) Die Ursachen dafür sind laut Apelt vielfältig: Zum einen seien sich die Oppositionellen den Realitäten und damit der politischen Möglichkeiten bewusst gewesen, zum anderen habe Unsicherheit dahingehend bestanden, inwieweit das sowjetische Militär in die Ereignisse eingreifen werde. Darüber hinaus habe die DDR-Opposition in der Mehrheit nicht auf die Abschaffung der DDR gezielt, sondern auf deren Reformierung "jenseits des westlichen Musters". (22) Als sich die politischen Ereignisse jedoch überschlugen und spätestens ab Dezember 1989 die DDR am Scheideweg zwischen der Eigenständigkeit und einer deutsch-deutschen Vereinigung stand, sei die Opposition in der DDR nicht in der Lage gewesen, die demonstrierende Bevölkerung politisch von ihrem Konzept eines "dritten Weges" zu überzeugen. Im Gegenteil: Die inneroppositionellen Auseinandersetzungen um den "richtigen Weg" spalteten die großen Oppositionsgruppen, sodass am Ende die "2. Generation der Revolutionäre" die Geschicke in die Hand nahm: "Sie bringt eine Reihe von Vorschlägen und Forderungen nach radikalen, geradezu revolutionären Veränderungen ein und gießt den sozialethischen und antikapitalistischen Ansatz vieler kirchlich beeinflusster Gründer in politische Forderungen, die denen breiter Bevölkerungsschichten entspricht. Dazu gehört der Wunsch nach der deutschen Wiedervereinigung." (27) Der Demokratische Aufbruch (DA) war eine der ersten Gruppen, die sich an die Spitze der Vereinigungsbewegung stellten und dafür – als Teil der konservativen "Allianz für Deutschland" – bei den Wahlen am 18. März 1990 vom Volk honoriert wurde. Währenddessen katapultierte sich das Neue Forum in die Bedeutungslosigkeit, weil diese einst bedeutendste Bürgerbewegung "den Entwicklungen und Überzeugungen der Bürger" nicht gerecht werden konnte (28).
Apelt versucht in seinem Aufsatz immer wieder, für ein differenziertes Urteil bezüglich eines deutschlandpolitisches Konzeptes der DDR-Opposition zu werben. Fakt aber ist: In der Mehrheit hatte sie keines. Dies stellt besonders Eckhard Jesse in seinem anschließenden Aufsatz "Haben die Bürgerrechtler gesiegt?" heraus. Sein Fazit: "Nach dem Fall der Mauer trat ein schneller und fundamentaler Wandel ein. Die Bürgerrechtsgruppen wussten sich nur einig in dem, was sie nicht wollten (eine kommunistische Diktatur), aber nicht einig in dem, was sie wollten: Was die oppositionellen Kräfte mehrheitlich wollten – eine andere, bessere DDR –, erreichten sie nicht. Was sie erreichten – die Beseitigung der DDR –, wollten sie nicht. Der von ihnen direkt oder indirekt propagierte 'dritte Weg' erwies sich als ein Holzweg, nicht als Königsweg für einen Neuaufbau." (34)
Lutz Haarmann wendet in seinem Aufsatz "Die Gesamtdeutschen" den Blick nach Westen und untersucht, wie man sich dort unter freiheitlichen Bedingungen mit der durch den Grundlagenvertrag festgeschriebenen Teilung auseinandersetzte. Dabei fokussiert er besonders auf die Forschung und sieht dort "westdeutsche Dissidenten" – wie sie sich selbst bezeichnen –, die sich dem wissenschaftlichen Zeitgeist widersetzten und die deutsche Frage weiterhin in den Mittelpunkt ihrer Arbeit rückten. Vor allem am Beispiel der Gründung der Gesellschaft für Deutschlandforschung und deren weiterer Entwicklung beschreibt Haarmann, wie diese behindert, beargwöhnt und kritisiert wurde, weil sie die deutsche Teilung nicht anerkennen wollte. Der Autor kritisiert das seinerzeit in der Forschung dominierende "systemimmanente Herangehen an die DDR, das die diktatorischen Züge der SED-Herrschaft ausblendete" (42), und er zollt all jenen "westdeutschen Dissidenten" Respekt, die an das "Nationalbewusstsein" erinnert haben. (70)
Der zweite Abschnitt des Buches widmet sich dem Handeln politischer Institutionen in der Bundesrepublik in der Phase der revolutionären Ereignisse (beginnend mit den Flüchtlingswellen) hin zum Systemwechsel. Karl-Rudolf Korte analysiert die Entscheidungsprozesse der Bundesregierung und zeigt auf, wie diese "einen konzeptionellen Wandel in der Deutschlandpolitik" vollzog: von einer behutsamen, pragmatischen Linie gegenüber der DDR, die nicht auf deren Destabilisierung abzielte, über das Drängen auf politische Veränderungen hin zum deutsch-deutschen Einigungsvertrag. Bei Korte wird deutlich, wie die Bundesregierung aus der Rolle des Zuschauers zum Akteur der Prozesse wurde. Interessant ist hier vor allem, noch einmal nachzulesen, wie gestärkt der damals politisch angeschlagene Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) aus den Ereignissen hervorging: "Kohls extrem vorsichtiger Kurs änderte sich sukzessive in dem Maße, in dem er innerparteilich seine Macht wieder gestärkt hatte und als Wahlkämpfer integrierend mit dem Deutschlandthema wirken konnte. Auf dem Tiefpunkt seines persönlichen Ansehens und angesichts innerparteilicher Putschpläne erlebte er das Entscheidungsjahr aus der Defensive heraus. Das zögerliche Regierungshandeln mit den zahlreichen Beruhigungsformeln gegenüber den Ausreisewilligen hing auch mit dieser innerparteilichen Schwächeperiode des Parteivorsitzenden Kohl zusammen. Erst als er die notwendigen parteipolitischen Entscheidungen in seinem Sinne vorbereitet hatte, startet er in die deutschlandpolitische Perspektive". (93)
Claus J. Duisberg legt in seinem Aufsatz "Politische Probleme im Herbst 1989" den Fokus auf die Deutschlandpolitik der USA, Frankreichs, Großbritanniens und der Sowjetunion und zeigt auf, welche Schwierigkeiten und Bedenken es seitens der einstigen Besatzungsmächte gegenüber dem deutschen Vereinigungsprozess gab.
Im dritten Abschnitt analysieren Manfred Wilke, Michael Richter und Daniel Friedrich Sturm die parteipolitischen Prozesse in der SED, der CDU (Ost) und der SDP/SPD im Zuge des Systemwechsels. Besonders lesenswert ist dabei der Aufsatz Richters, der am Beispiel der CDU aufzeigt, wie diese einstige Blockpartei mühsam versuchte, sich demokratisch zu orientieren und ihre jahrzehntelange Transmissionsfunktion für die SED abzulegen.
Im letzten Abschnitt des Buches werden Vergangenheit und Gegenwart verknüpft. Volker Kronenberg greift etwa "Patriotische Diskurse" um Verfassung und Nation auf, die im vereinten Deutschland ihren Platz gefunden hätten. Günter Nooke plädiert in Anlehnung an Martin Sabrow für eine stärkere Aufarbeitung der Alltagsgeschichte in der DDR-Diktatur, auch wenn er sich dessen bewusst ist, dass dieser Forschungsbereich "politisch heikel" ist: "Auf der einen Seite können (...) Forschungen über den als unpolitisch wahrgenommen Alltag des Einzelnen als Relativierung des (politischen) Unrechtssystems missinterpretiert werden. Daran kann dem redlichen Politologen und Historiker nicht gelegen sein. Auf der anderen Seite helfen politiktheoretisch richtige Analysen wenig oder sie schaden sogar, wenn der am Erfolg gemessene Politiker auf Stimmenfang unterwegs ist und an die Wahrnehmungen und Erinnerungen der potentiellen Wählerinnen und Wähler anknüpfen muss". (151) Nooke hat dazu in seinem Aufsatz "Zur Typologie menschlichen Verhaltens in politischen Systemen" eine Position entwickelt: Politiker wie Wissenschaftler müssten "sauber argumentieren" und in ihren Argumentationen klar trennen, ob es sich um die Analyse eines politischen Systems handele oder um die Beschreibung des Lebens des Einzelnen (148). Aber zieht man nicht gerade so den Vorwurf auf sich, das Unrecht in der DDR zu relativieren? Dass die DDR eine Diktatur mit totalitärem Anspruch war, in der das Recht täglich gebrochen wurde, darf auch durch die alltagsgeschichtliche Forschung nicht in Abrede gestellt werden. Außerdem wird bei einer solchen Trennung übersehen, dass es die "privaten Nischen" nur deshalb gab, weil die Diktatur keinerlei andere Möglichkeiten für individuelle Freiräume bot. Insofern können das politische System und das Alltagsleben nicht als getrennte Gebilde betrachtet werden.
Insgesamt fördert der Sammelband keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse zutage. Jedoch ist es das Verdienst der Gesellschaft für Deutschlandforschung, dass sie sich durch diese Publikation selbst wieder in das Licht der Öffentlichkeit gebracht hat – eine Gesellschaft, die seit ihrer Gründung dem wissenschaftlichen Zeitgeist trotzte, systemimmanenten Ansätzen zur Analyse der DDR-Diktatur entgegentrat und damit einen wichtigen deutschlandpolitischen Beitrag leistete.
"Zwischen Konfrontation und Konzession"
Zwischen Konfrontation und Konzession (© Christoph Links Verlag )
Zwischen Konfrontation und Konzession (© Christoph Links Verlag )
Der von Eckhard Jesse und Thomas Schubert herausgegebene Band "Zwischen Konfrontation und Konzession" nähert sich dem Systemwechsel biografisch. Der Band ist das Ergebnis einer Ringvorlesung, die die beiden Wissenschaftler an der Technischen Universität Chemnitz im Wintersemester 2009/2010 veranstaltet hatten. 16 Referenten unterschiedlicher politischer Couleur schildern ihr Wirken und ihre Erlebnisse in den Jahren 1989/90 ebenso wie ihre späteren Erfahrungen im vereinten Deutschland. Frank Richter, Brigitta Kögler, Erich Iltgen, Michael Lersow, Rudolf Albrecht, Hartwig Albiro, Thomas Küttler, Gunter Weißgerber, Bernd Albani und Christoph Magirius standen der DDR kritisch gegenüber. Klaus Bartl, Hans Modrow und Klaus Reichenbach waren Anhänger des Systems. Michael Richter, Marc-Dietrich Ohse und Günther Heydemann vertreten in diesem Band die Wissenschaft. Alle Protagonisten hatten eine persönliche Beziehung zu dem heutigen Bundesland Sachsen, einst Vorreiter der friedlichen Revolution. Zwischen Görlitz, Plauen und Leipzig bildete sich aus Sicht der Herausgeber die "'Speerspitze' der 'friedlichen Revolution'" und dies in dreifacher Hinsicht: Erstens hätten die Menschen in den drei Bezirken Karl-Marx-Stadt, Leipzig und Dresden die "aufrührerischen Bewegungen" angeführt. Zweitens sei in Sachsen besonders gut zu beobachten gewesen, wie die Revolution ausgehandelt wurde, "eine Revolution zwischen Konfrontation (des Staates wie der Bevölkerung) und Konzession (des Staates wie der Bevölkerung)." (8) Drittens hätten die Ereignisse in Sachsen maßgeblich hin zur deutschen Einheit geführt.
Die Protagonisten hatten in ihren Berichten sechs Schwerpunkte "abzuarbeiten": die eigene Haltung gegenüber der DDR vor 1989, die eigene Positionierung zum Systemwechsel, die eigenen positiven und negativen Erfahrungen mit der deutschen Vereinigung, die eigenen Wünsche für die Weiterentwicklung der Demokratie, die Beurteilung der Entwicklungen in Sachsen im Vergleich zu anderen Ländern.
Angesichts dessen, dass die Protagonisten unterschiedliche biografische Hintergründe haben, ist auch das Spektrum der dargestellten Positionen und Erinnerungen zu den Themenkomplexen breit. Selbst diejenigen, die der DDR-Diktatur kritisch gegenüberstanden, differieren in ihren Aussagen und Wahrnehmungen. So entsteht das facettenreiche Bild einer Region, die sich binnen einen Jahres aus den Fesseln der Diktatur befreite und den Weg der Demokratisierung beschritt, der zudem geprägt war von Konfrontationszenarien und Zugeständnissen. Nicht umsonst haben die Herausgeber den Titel "Zwischen Konfrontation und Konzession" gewählt, widerspiegelt sich doch gerade in dieser Spannung die Verschiedenartigkeit der Positionen und politischen Entwicklungen der 16 Männer und Frauen vor und während der revolutionären Ereignisse. Konfrontation und Konzession bildeten aus Sicht der Herausgeber ein "dialektisches Bedingungsgefüge" (354). Die Konzessionen beider Seiten verhinderten eine Eskalation der Konfrontation. Einem Erfolg der friedlichen Revolution standen sie jedoch nicht im Wege.
"Der Bezirk Neubrandenburg im Jahr 1989"
Der Bezirk Neubrandenburg 1989 (© LStU Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin)
Der Bezirk Neubrandenburg 1989 (© LStU Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin)
Während in Sachsen die Menschen atemberaubend aufbegehrten, verliefen in dem heutigen nördlichsten ostdeutschen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern die Revolutionsprozesse zögerlicher und gingen zeitlich später vonstatten. Am Beispiel eines ehemaligen Nordbezirkes untersucht Christoph Wunnicke in seinem Buch "Der Bezirk Neubrandenburg im Jahr 1989", wie dort die letzten Monate des Jahres 1989 verliefen. Er vertritt dabei die These, dass es in dem Bezirk an "'kritischen Geistern'" mangelte, es dort an "'revolutionärem Menschenpotenzial'" fehlte: "Der Bezirk Neubrandenburg hinkte eventuell auch deshalb im Herbst 1989 allgemeinen Entwicklungen in anderen Bezirken hinterher." (7f)
Im ersten Kapitel befasst Wunnicke sich mit den Oppositionsgruppen der 80er-Jahre im Bezirk Neubrandenburg, die sich unter dem Dach der Kirche als Friedens-, Menschenrechts-, Frauen- und Umweltgruppen formierten. Es war ein kleiner Kreis, der unter Beobachtung der Staatsmacht und des Staatssicherheitsdienstes stand, weil er versuchte, die bestehende Gestalt des Sozialismus in der DDR in Frage zu stellen. Wunnicke recherchierte, dass das MfS lediglich 17 Personen zu den "Zentren oppositioneller Aktivitäten" zählte. Es handelte sich dabei überwiegend um Amtsträger der Kirche in Neubrandenburg, Röbel und Waren sowie um Künstler aus Anklam und Neustrelitz. (13) Allgemein bekannt ist, dass zu diesem Kreis Menschen gehörten, die später mit Wegbereiter für die Gründung von Bürgerrechtsgruppen und demokratischen Parteien wurden. Insofern mag die Opposition in Neubrandenburg vor 1989 zwar marginalisiert gewesen sein, aber sie beheimatete eine Reihe sehr kritischer Köpfe. Namen wie Markus Meckel, Martin Gutzeit oder Gottfried Timm, die den Vipperower bzw. den Röbeler Friedenskreis initiiert hatten, gehörten später mit zu den Gründern der SDP (später SPD). Sie waren über die Landesgrenzen hinaus bekannt und mit dem "harten Kern" der Opposition in anderen Städten und Bezirken der DDR vernetzt.
In seinem zweiten Kapitel analysiert der Autor die Aktivitäten der staatlichen Organe gegen diese Gruppen. Aus Sicht des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) war das Reservoir der sogenannten "feindlichen-negativen" Kräfte im Juni 1989 "beherrschbar". (31) Anders als in Berlin, Leipzig oder Dresden sahen die MfS-Offiziere den Entwicklungen in Neubrandenburg demnach gelassen entgegen, auch wenn es erste Unmutsbekundungen aus der Bevölkerung gegen das System gab.
Wie Wunnicke in seinem dritten Kapitel darstellt, gab es auch in Neubrandenburg eine Reihe von Vorboten für die revolutionären Ereignisse im Herbst 1989. So weist er etwa nach, dass die Zahl der Nichtwähler im Bezirk Neubrandenburg im Jahr 1989 im Vergleich zu der vergangenen Kommunalwahl um das Zweieinhalbfache anstieg. Außerdem nahm die Zahl der Ausreiseantragsteller zu. So hatten in den ersten neun Monaten des Jahres 1.529 Menschen aus dem Bezirk einen Antrag auf Ausreise gestellt, 230 Bürger erzwangen ihre Ausreise durch Botschaftsbesetzungen. Wunnicke kann zudem belegen, dass die SED-Bezirkszeitung "Freie Erde" am 10. Mai 1989 die von der SED gefälschten Wahlergebnisse publizierte – seinerzeit ein Politikum. (65) Allerdings schwenkte die "Freie Erde" schnell wieder auf den parteipolitischen Kurs ein. Als etwa die Flüchtlingsbewegung im Sommer 1989 einsetzte, waren es ihre Redakteure, die jene Ente produzierten, wonach mittels Mentholzigaretten Menschen aus der DDR entführt werden würden.
Zwei Monate nach ihrer Einschätzung, die politische Lage im Griff zu haben, mussten die MfS-Offiziere in Neubrandenburg eingestehen, "dass die Angst vor dem Staatssicherheitsdienst nicht mehr ausreicht, um öffentliche Unmutsäußerungen zu verhindern." (73) In den Städten des Bezirkes tauchten zunehmend "staatsfeindliche" Parolen und Aushänge auf, deren politische Forderungen sich zudem radikalisierten. So mobilisierte die blutige Niederschlagung der chinesischen Studentenproteste auf dem "Platz des Himmlischen Friedens" in Peking einen Teil der Bevölkerung. Am 28. September 1989 gründete sich in Röbel die erste Gruppe des Neuen Forums im Bezirk Neubrandenburg, im Oktober folgten Initiativgruppen zur Gründung der SDP, am 9. Oktober begannen in Neubrandenburg erste Friedensgebete. Während anderswo schon Zehntausende Menschen für ihre Rechte auf die Straße gingen, fand die erste Demonstration im Bezirk Neubrandenburg erst am 16. Oktober 1989 in Waren statt. An ihre nahmen 450 Menschen teil. Danach entwickelten sich die Massenproteste jedoch zu einem wichtigen Instrument der friedlichen Revolution. Am 4. und 5. Dezember wurden die MfS-Kreisdienststellen und die Bezirksverwaltung wie in anderen Städten der DDR durch Bürgerrechtler besetzt. Wunnicke beschreibt in seinem vierten Kapitel diese Vorgänge und die Reaktionen der Staatsmacht darauf, die immer mehr Zugeständnisse machte und sich für Dialoge und Runde Tische öffnete. Darüber hinaus beleuchtet er, wie der SED-Bezirksleitung, den Blockparteien und den Medien "die Zügel entglitten" (99) und sie selbst Wandlungsprozessen unterworfen wurden.
In seinem letzten Kapitel richtet Wunnicke den Fokus noch einmal auf das MfS, dessen Bezirksverwaltung in Neubrandenburg und deren Kreisdienststellen. Diese konnten bis Anfang Dezember 1989 noch unbehelligt arbeiten und sogar den Plan schmieden, "im Rathaus kompromittierendes Material über Oppositionelle aufzulegen". (130) Am 7. Dezember 1989 verlangte der Zentrale Runde Tisch die Auflösung der Staatssicherheit, eine Woche später folgte der Ministerrat der DDR dieser Forderung.
Die Studie von Wunnicke zeigt, dass sich regional Protestgeschichten ganz eigener Art zugetragen haben. Kaum betrachtet wurden leider die Protestinhalte der demonstrierenden Bevölkerung. Was forderten die Neubrandenburger? Wie entwickelten sich die Rufe von "Wir sind das Volk!" zu "Wir sind ein Volk!"? – Das sind Fragen, die zweifellos auch interessiert hätten. Der Studie hätten schließlich auch Vergleiche zu anderen Regionen gut getan, um eine der wesentlichen Thesen Christoph Wunnickes zu untermauern, wonach der Bezirk Neubrandenburg nicht "im Zentrum der friedlichen Revolution des Jahres 1989" stand. (139)