Im Jahr 1996 begannen wir, der DDR-Jurist Hans Christange aus Cottbus (Jahrgang 1934) und der Lehrer Klaus Stenzel aus Darmstadt und später Speyer (Jahrgang 1960), einen Briefwechsel. Dieser entwickelte sich zu einem leidenschaftlich geführten, kontroversen Ost-West-Dialog über nunmehr 23 Jahre. Er ist von konträren Sichtweisen auf die beiden deutschen Staaten sowie der äußerst unterschiedlichen Beurteilung der gesellschaftlichen Entwicklung seit 1989/1990 geprägt.
Angefangen hatte alles mit einem Bericht zu den Erlebnissen der Abiturientinnen und Abiturienten der Bert-Brecht-Schule in Darmstadt während ihrer Projektfahrt nach Magdeburg und den dortigen Austausch mit Gleichaltrigen, den ihr Lehrer Klaus Stenzel im April 1996 im Neuen Deutschland (ND) veröffentlichte. Die Lektüre des Berichts beschäftigte Hans Christange so sehr, dass er einen Antwortbrief an Klaus Stenzel schrieb. Beide Texte werden hier in Auszügen wiedergegeben. Einen weiteren Eindruck über die Ost-West-Auseinandersetzung vermitteln zwei Briefe aus dem Jahr 2008 sowie zwei E-Mails von 2016. Wir haben uns in all den Jahren in unserem Briefwechsel nichts geschenkt, aber wir sind dabei immer respektvoll miteinander umgegangen.
6./7. April 1996: Bericht von Klaus Stenzel zur Projektfahrt im ND
Fünf Jahre nach der Wiedervereinigung fuhr ich mit zehn Abiturienten der Bert-Brecht-Schule Darmstadt nach Magdeburg (…). Angeregt wurde die Fahrt durch einen Briefwechsel, den ich mit der Magdeburger Staatskanzlei führte. Ministerpräsident Höppner hatte uns zu einem Besuch nach Sachsen-Anhalt eingeladen. So fuhren wir Ende Januar 1996.
Auf den Straßen kaum noch Trabis
Eine Schülerin schreibt in ihrem Bericht: „Als sich unsere Gruppe um 7.30 Uhr traf, wusste keiner so genau, was auf ihn in den nächsten Tagen zukommen würde. Die Gesichter wirkten müde, aber auch gespannt. Schon im Zug machten wir uns eigene Vorstellungen, wie es dort im Osten wohl sein werde, wie sich die Partnerklasse uns gegenüber verhalten werde, ob eher freundschaftlich, oder eher abneigend. Wir hofften, dass die Ossis nicht ganz so voreingenommen gegenüber den Wessis sein würden, wie wir es aus zahlreichen Berichten in den Medien erfahren hatten.
Um 13:27 Uhr kamen wir in Magdeburg an. Es war eisig kalt. Die Straßenbahn, mit der wir fuhren, musste ihrem Aussehen nach ein Überbleibsel aus DDR-Zeiten gewesen sein. Ansonsten gab es nicht mehr viel von dem zu sehen, was mich an die ehemalige DDR erinnert hätte. Auf den Straßen fuhren die gleichen Autos wie bei uns auch (…). Ab und zu entdeckte man mal einen Wartburg oder Trabant, jedoch schien das Auto der DDR eine Rarität in seiner Heimat geworden zu sein.“ Sie ergänzt: „Schon während der Führung durch die Verhörsäle der Stasi, die mit allen Mitteln versucht hatte, ihre Opfer zum Sprechen zu bringen, bemerkte ich den Unterschied zwischen der Partnerklasse und uns. Die Reaktionen waren derart überraschend. Keiner von ihnen hat irgendeine persönliche Wertung über das Gesehene oder Gehörte in der Gedenkstätte abgegeben. Es schien nichts Neues für sie zu sein (…). Sie spielten die Stasi dermaßen herunter, so dass man sich fragt, warum dann der ganze Wirbel in den Medien?
Meinen Informationen nach musste die Stasi ein riesiger Machtapparat gewesen sein, der den Menschen überhaupt keine Privatsphäre erlaubte. Ich kann nicht verstehen – und ich glaube, keiner, der nicht in so einem System aufgewachsen ist, kann verstehen –, wie man sich als Mensch dort richtig frei und glücklich gefühlt haben kann (…). Es war genau das, was wir die ganze Zeit eigentlich gewollt hatten: Mit der Partnergruppe ins Gespräch zu kommen und ihre Meinung zum Thema Wiedervereinigung und den damit verbundenen Problemen zu hören. Uns interessierte auch, wie sie die Zeit vor der Einheit sahen.
Die Antworten auf unsere Fragen hauten uns fast um. Jemand behauptete doch tatsächlich, die DDR sei doch praktisch von der BRD annektiert worden. Viele fanden es schade, dass es keine Ostprodukte mehr zu kaufen gab. Andere trauerten ihrer Pionierzeit nach. Sie sind nach wie vor stolz darauf, ein Mitglied des Kollektivs gewesen zu sein. Denn in der DDR drehte sich alles ums Kollektiv, dort gab es noch eine echte Gemeinschaft. Alles, was man tat, tat man für das Volk. Aber im Westen denkt man nicht an die Gemeinschaft, sondern nur an das eigene Wohl. Im Westen herrscht doch die Ellenbogengesellschaft, denn jeder versucht mit allen Tricks, das Beste für sich herauszuschlagen, ohne Rücksicht auf Verluste. Da werden Freunde zu Feinden! In der DDR war ein solches Verhalten undenkbar. Das Kollektiv zählte und nicht der einzelne.
Da frage ich mich nur, warum es dann so viele Stasiakten gibt, wenn denn jeder mit jedem Freund war!? Denn wem konnte man in der DDR trauen? Nicht einmal den eigenen Verwandten! Wo ist da also der Unterschied zur Ellenbogengesellschaft? (…) Im Verlauf der Diskussion schilderten einige ihre Angst vor der Zukunft, viele Eltern von ihnen hatten den Job verloren, weil ihre Firmen aufgelöst wurden. Dann erzählten sie, dass ihre Eltern gerade mal 80 Prozent von dem Gehalt unserer Eltern erhielten, obwohl die Lebenshaltungskosten, außer der Miete, so hoch wie im Westen sind. Sie schimpften auf die Politiker, die ihnen damals kurz vor der Einheit noch das Gelbe vom Ei versprochen hatten, nichts wurde verwirklicht.“
Für mich als Politiklehrer waren die Tage in Magdeburg sehr aufschlussreich. Ich muss zugeben, dass ich diese Mauer in den Köpfen der Jugendlichen nicht erwartet hätte, doch sagt mir die Erfahrung auch, dass wir in Ost und West am Ball bleiben müssen, um die Differenzen abzubauen.
30. April 1996: Erster Brief von Hans Christange an Klaus Stenzel
Sehr geehrter Herr Stenzel, sehr geehrte Abiturientinnen und Abiturienten des Grundkurses Gemeinschaftskunde,
Ihren vor den Osterfeiertagen im ND abgedruckten Bericht über eine Projektfahrt nach Magdeburg habe ich mit größtem Interesse gelesen und er bewegt mich seither sehr. Den Umstand der Publizierung Ihrer Eindrücke im ND fasse ich dabei als eine Art Garantie für Ihre gute Absicht nach unvoreingenommener Dialogbereitschaft auf.(...) Es sind gerade die Befindlichkeiten der Menschen, die gegenseitig respektiert werden müssen, will man erfolgreich miteinander kommunizieren (…). Deutlich sind für mich Ihre Befindlichkeiten im Bericht zu spüren. So ist es mein Anliegen zu versuchen, diese Befindlichkeiten von uns Ostdeutschen deutlich zu machen, um Besinnung zu erreichen. Die Schablonen der Medien im Umgang mit uns „Ossis“ taugen wohl nichts für eine Verständigung oder gar für eine menschliche Annäherung. Wenn es um unsere Vergangenheit geht, sind die Schablonen nicht wesentlich anders als die des Kalten Krieges und es schmerzt, wenn man sie erlebt, glauben wir doch diese Zeiten hinter uns zu haben (…). Ich will Ihnen daher aus meiner Sicht meine Befindlichkeiten darlegen und bitte Sie sie ernst zu nehmen, wenn Sie denn objektiv sein wollen.
1. Ihre Episode mit der Straßenbahn als „Überbleibsel aus DDR-Zeiten“ (…). Ich kenne zwar nicht die Straßenbahnen in Magdeburg, wohl aber die von Cottbus, die teilweise auch sehr unmodern waren. Aber diese unmodernen Straßenbahnen hatten eines weiter gemeinsam: Man konnte mit ihnen für 0,15 bzw. 0,30 Mark der DDR durch die ganze Stadt fahren. Verständlich, dass die Menschen diese Nahverkehrsmittel sehr gerne und viel benutzten. Heute kostet eine Fahrt in der modernen Bahn, die man sich aber nicht aussuchen kann, 1,80 DM. Das ist ein Preis, der mich abhält sie heutzutage zu benutzen, also laufe ich lieber. Ihre Feststellung zur Straßenbahn spricht daher eine Seite unserer sozialen Sicherheit in der DDR und zwar negativ an, die insgesamt für uns immer mehr Langzeitwirkung entfaltet. Ihre Bewertung bewirkt aber, sicher ungewollt, dass Sie diese Lebenserfahrung völlig unterschätzen. Glauben Sie, der gegenwärtige Abbau des Sozialstaates im Gefüge der Bundesrepublik hat bei unseren Menschen nicht nur drastische Folgen, sondern auch bei denen, die 1990 CDU wählten, emotionale Ernüchterung gebracht.
2. Ihre Episode über die Bewertung der Trabis.(…). Ich selbst habe vier Trabanten gefahren und bezeichne diejenigen als Schwindler, die den westdeutschen Bürgern einreden wollen, sie hätten 20 Jahre auf ihren Trabi warten müssen. Derjenige, der einen fahren wollte, hat ihn auch gefahren. Allerdings gibt es eine andere Seite, die nicht mehr an die DDR erinnert. Das sind die platt gemachten Industriestandorte, die verschwundenen Arbeitsplätze. Das ist auch die fehlende Sicherheit vor Kriminalität und nicht nur auf den Straßen. Das ist die furchtbare Perspektivlosigkeit gerade der Kinder und Jugendlichen. Das gibt für sie keinen Grund für Freude und glücklich sein.
Nun aber zu dem eigentlichen Anliegen Ihres Besuches in Magdeburg (…). Sie wundern sich über die Zurückhaltung der Magdeburger in der Diskussion. Werden aber Emotionen und Erfahrungen geäußert, zerreden die Schüler sie und drücken aus, sie nicht akzeptieren zu können. Doch sicher, weil sie ihrer Vorstellungswelt nicht entsprechen. Wie anders kann sonst der Ausdruck verstanden werden, die Meinungen oder Antworten hätten sie „umgehauen“. Ich habe aus keinem Satz des Artikels entnehmen können, dass Sie auch nur einmal bereit gewesen wären, einen Standpunkt der Magdeburger zu akzeptieren. Sie erwarten aber, dass Ihre Vorstellungen akzeptiert werden sollen, die Sie über unsere Verhältnisse in der DDR nicht aus eigener Erfahrung machen konnten, sondern vor allem durch die Medien vermittelt bekamen. Das kann so nie etwas Vernünftiges werden.
Ein Beispiel dafür ist die „Stasi“ (…). Warum sollten die Magdeburger Schüler nicht ein besseres Gespür haben als außenstehende „Wessis“, wie Sie sich ja selbst, bitte ohne Vorwurf von mir, sehen. Ich war nicht bei der Stasi, muss aber sagen, ich hatte nie Furcht vor ihr. Es ist auch nicht übertrieben, wenn ich sage, dass ich in der DDR tatsächlich glücklich war. In jedem Fall glücklicher als heutzutage, wo ich so viel Elend in unserem Lande sehe, was es zu DDR-Zeiten nicht gegeben hat (…). Die Haltung der Magdeburger Abiturienten kann ich aus meiner Lebenserfahrung nur bestätigen und bin daher von deren Reaktionen nicht überrascht. Ein Erfolg der Exkursion wäre es schon, wenn das Abbauen von Vorurteilen so zu verstehen ist, dass Sie sich nicht ständig von negativen Vorstellungen über die DDR-Wirklichkeit vereinnahmen ließen. Mit freundlichen Grüßen Hans Christange
24. Mai 2008: Brief von Hans Christange
Lieber Klaus Stenzel, nun noch einige Bemerkungen zu dem interessanten Brief vom 21.05.08. Auf Ihre Frage nach meiner Meinung zu unseren Militärparaden zum 1. Mai will ich nur sagen, sie erfüllten mich mit Stolz, sah und sehe ich die NVA (Nationale Volksarmee, die Red.) doch immer als wichtigen Schutz für die Sicherheit der DDR an. Daran ändert auch nicht der Umstand etwas, dass ich natürlich froh gewesen bin, dass sie 1989 in den Kasernen blieb. Eine Entscheidung des Staatsrates, die heute von unseren Gegnern nach wie vor in ihrer Tragweite bewusst ignoriert wird, wenn es um die Beurteilung der DDR-Politik geht. Entgegen Ihrer Darstellung habe ich diese Paraden nicht als Drohung, sondern allenfalls als Warnung an die konterrevolutionären Imperialisten (ohne Anführungszeichen) betrachtet. Da diese Paraden die Macht der Arbeiterklasse zum Ausdruck brachten, kam übrigens auch nie der Gedanke auf (auch heute nicht), es könnte einen Widerspruch zum 1. Mai als Kampftag der Werktätigen geben. Dass das in der kapitalistischen BRD ganz anders zu beurteilen ist, liegt auf der Hand.
Was den Begriff „Anschluss“ der DDR an die BRD anbetrifft, so ist der Dissens zwischen uns offenkundig. Leise höre ich aus Ihrem Brief heraus, Ihnen wäre vielleicht die Grundlosung der DDR-Bürger bei den Demonstrationen im Herbst 89 „Wir sind das Volk“ auch angenehmer gewesen (wie mir ebenfalls) als die tatsächlich oktroyierte Losung „Wir sind ein Volk“. Es wird zwischen uns heute wohl auch keinen Dissens geben, dass diese populistische Losung im Wesentlichen Bluff und Betrug war und ist. Der Armutsbericht macht das sehr deutlich!!
Und Ihre Kritik an der sozialen Schieflage, die übrigens für unseren Briefverkehr durch Sie auch genauer thematisiert werden sollte, bekräftigt meine Vorstellung dazu. Und wenn Sie für diesen Anschluss gar die Neubildung der Länder in der DDR anführen, so wird deutlich, dass Sie einer falschen Logik folgen. Nicht die Länder haben sich (wurden) angeschlossen, sondern die DDR als bis dato selbstständiger Staat. Sie nennen nur den „Druck“ aus dem Osten. Aber die Gier der Konzerne und der Wirtschaft insgesamt nach unserem Volkseigentum, unseren Absatzmärkten und unseren Arbeitskräften scheint für Sie völlig neben der Sache zu liegen. Und eben da irren Sie sich mit Ihrer Gesamtbewertung der damaligen Lage.
Der Absatz zur militärischen Verteidigung der DDR einerseits und der fehlenden Situation in der BRD, sich verteidigen zu müssen, andererseits, ist doch sehr beredt. Ich stimme Ihrer Meinung voll zu, waren es doch stets die „besten Freunde“ der BRD und sie allerdings eingeschlossen, die die DDR in die jeweilige Situation brachte. Nie umgedreht! (…)
Mit herzlichen Grüßen aus Cottbus verbleibe ich wie immer Ihr Hans Christange
30. Mai 2008: Antwort von Klaus Stenzel
Lieber Herr Christange, es ist hier viel zu heiß!!! Dennoch möchte ich Ihnen heute zwischen Abiturvorbereitungen und Feierabend kurz zu einigen Themen erwidern wollen. Mit der Aussage „waren es doch stets die ‚besten Freunde‘ der BRD und sie allerdings eingeschlossen, die die DDR in die jeweilige Situation brachte. Nie umgekehrt!“ landen Sie einen echten Christange, wie er leibt und lebt!
Der Westen ist schuld, wer auch sonst! Dem Westen die Verantwortung des Scheiterns des real existierenden Sozialismus anzulasten, erscheint mir gelinde gesagt als ein politischer Irrweg, kannte ich Sie nicht schon gut genug, fügte ich noch das Adjektiv „infantil“ hinzu. Streng nach dem Motto: An meinen Fehlern sind immer die anderen schuld. Ich will nicht verhehlen, dass der Westen ein Interesse an der Schwächung des Stalinismus hatte, ja haben musste, weil das Volk in diesem System nichts zu sagen hatte.
Aber der Westen hat nie im Kreml angerufen, um militärische Interventionen gegen die jeweiligen Volksbewegungen zu verlangen. Diese Vorstellung ist doch einfach nur absurd. Moskau, Berlin, Prag, Budapest hätten auf ihre Völker hören sollen, und nichts anderes. Ich frage mich in diesem Zusammenhang immer wieder, welchen Stellenwert die Menschen in diesen Ländern hatten, wenn immer wieder gegen ihre Meinungen und Forderungen zugunsten eines sehr nebulösen, angeblich höheren Zieles vorgegangen wurde.
Herr Christange, ich liege nicht neben der Sache, was den Druck aus dem Osten 1989 anbelangt. Die Aktionen der westdeutschen Wirtschaft wurden doch zu diesem Zeitpunkt von den meisten DDR-Bürgern begrüßt. Solche Aussagen, wie „Kommt die DM nicht zu uns, gehen wir zu ihr“ aus dem Winter 1989/90, sind doch Zeugnis genug für ein Streben nach mehr Konsum und Wohlstand. Ich betone an dieser Stelle ausdrücklich, dass ich die Politik der Treuhand und das Wildostgehabe mancher westdeutscher Unternehmer verurteile.
Die Marktwirtschaft jedoch war und ist immer noch von der breiten Mehrheit der Ostdeutschen gewünscht. Im Übrigen weiß ich nicht so recht, Ihre oft in der ersten Person Plural gehaltene Diktion – hier zum Beispiel „unserem Volkseigentum“ – einzuschätzen. Sie meinen dies ehrlich und überzeugt. Ist diese Position jedoch mehrheitsfähig? Natürlich schafft der Kapitalismus eine soziale Schieflage, ich schrieb schon darüber. Die Tendenz ist leider die, dass es immer mehr Arme und weniger Reiche gibt, nicht nur im Osten, sondern auch im Westen, deswegen muss ein gesetzlicher Mindestlohn her, muss eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes her, muss eine spürbare Unterstützung von Familien mit Kindern her, muss ein dem der Menschenwürde entsprechendes Renteneinkommen her, und es muss – dieser Vorschlag meiner Partei (die SPD, die Red.) ist mir sehr sympathisch – eine Verringerung der Sozialabgaben her. Das sind die notwendigen Programme und bitte keine Versprechungen, die jährlich 155 Milliarden Euro kosten, von denen niemand weiß, woher sie kommen können. Dazu aber später mehr.
Zum „Fall“ Gysi und Stasi lassen Sie mich noch eine Anmerkung loswerden: Keineswegs ist dies eine Kampagne gegen die Linke, hat doch Manfred Stolpe ähnliches erlebt. Es wäre zu schön, um wahr zu sein, hätte es diese Stasi nie gegeben, so wäre uns auch diese Diskussion erspart geblieben. Die Existenz der Stasi hat allein die DDR zu verantworten. Herr Christange, der Westen hatte mit deren Einrichtung und Praktiken rein gar nichts zu tun. Zu Gysi zurückkehrend, lehne ich mich wieder einmal ganz entspannt zurück, wenn ich höre, dass er die Gerichte einschalten und die Vorwürfe überprüfen lassen will. Beim entspannten Zurücklehnen rufe ich Herrn Gysi sodann zu: Willkommen im Rechtsstaat BRD!!! Somit hat sich die Wiedervereinigung auch für ehemalige SED-Mitglieder gelohnt. Und jetzt beginnt es zu regnen, endlich!
Ich muss leider insistierend feststellen, dass Sie bezüglich Ihrer Anschlusstheorie irren. Das alte Grundgesetz zitierend untermauert meine Meinung, denn da hieß es in Art. 23 GG: „Dieses Gesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden und Württemberg-Hohenzollern (…). In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.“ Hier ging es nicht um den Beitritt eines souveränen Staates, sondern um den Beitritt souveräner Länder. Lieber Herr Christange, es ist doch wieder mehr geworden, trotzdem reicht es für heute. Morgen steht für Johannes das alles entscheidende Punktspiel gegen den Abstieg seiner Mannschaft VFR Speyer an. Da muss ich natürlich mit, hat er sich doch in seinem ersten Vereinsjahr recht gut entwickelt, vielleicht kommen nun doch die väterlichen Gene zum Tragen…!
Viele Grüße aus Speyer nach Cottbus sendet Ihnen Ihr Klaus Stenzel
31. Mai 2016: E-Mail von Hans Christange
Lieber Klaus,
hoffentlich hat euch das Unwetter nicht geschadet. Nun geht das Leben wieder seinen gewohnten Gang. Die Jugendweihe (von Christanges angeheirateter Enkeltochter, die Red.) ist sehr angenehm verlaufen und auch die Familienfeier hat gefallen (…). Ich verehre Margot Honecker nach wie vor, gerade weil sie sich treu geblieben war. Und nur das hohe Alter, wie das meiner Erna (Christanges erste Frau, die Red.) bei ihrem Tode, machte mir das Abschiednehmen leichter (…). Nun hat die taz ihren Artikel überschrieben: „Niemand war so verhasst“. Das lässt mich sehr kalt. Denn die DDR-Bürger, die sich hinter eine solche Aussage stellen, können niemals meine Freunde sein(…). Unter dem Beitrag zu Margot Honecker ist das Bild der Ministerin von der Leyen abgedruckt (…). Unserer Volksbildung und speziell ihrer Ministerin wird vor allem die Einführung der vormilitärischen Erziehung bei uns vorgeworfen. Fakt ist aber: Von der DDR ging nie ein Krieg aus – die von der Leyen lässt aber nicht nur einen Krieg führen. Sie ist für sehr viel persönliches Unglück junger Deutscher persönlich verantwortlich, die traumatisiert aus den Kriegseinsätzen kommen. Margot Honecker hat saubere Hände, die die von der Leyen trotz, oder wegen ihrer Hände nicht haben kann. Lieber Klaus, ich schrieb, wie es in meinem Herzen empfinde.
Mit herzlichen Grüßen aus dem vom Wetterunheil verschonten Cottbus Hans
25. Juni 2016: Antwort-Mail von Klaus Stenzel
Lieber Hans, (…) Einer Politikerin wie Margot Honecker zu hofieren, die zum Beispiel durch die Einführung des sogenannten Wehrkundeunterrichts Kinder und Jugendliche zu militarisieren beabsichtigte, ist meiner Ansicht nicht nachzuvollziehen. Bei uns im Westen hingegen wurden Kinder und Jugendliche zu Kritikfähigkeit und nicht zum Krieg spielen erzogen! In guter Erinnerung denke ich hierbei an die vielfältigen Aktionen der Friedensbewegung in den achtziger Jahren und gleichzeitig an meine Teilnahme an diesen. Waffen und Panzer gehören nicht in die Schule beziehungsweise in die Hände von Kindern und Jugendlichen!! Zum Vergleich zwischen M. Honecker und Frau von der Leyen fällt mir nur ein Fragezeichen ein, da ich nach wie vor der Meinung bin, dass die Bundesrepublik keinen Angriffskrieg führt. Und die Äußerung M. Honeckers, dass die Opfer der Berliner Mauer selbst schuld seien, erachte ich immer noch als zynisch (…).
Lieber Hans, ich grüße vielmals aus Speyer nach Cottbus Klaus
Fazit nach 23 Jahren
Unser Briefwechsel zeigt, dass wir unsere Geschichte persönlicher Annäherung zwar als ungewöhnlich, jedoch als optimistisch ansehen. Nach dem ersten persönlichen Treffen im September 2010 entwickelte sich die Möglichkeit, gemeinsame Lesungen durchzuführen. Diese liefen ebenso kontrovers in Ost- und Westdeutschland ab. Sie gaben uns aber die Sicherheit, den Weg des Austausches von gegensätzlichen Standpunkten als einen Weg anzusehen, der, ähnlich der Denkweise von Egon Bahr, zu einem Wandel durch Annäherung führen kann. In den nunmehr 23 Jahren regelmäßigen Briefwechsels wurde auch deutlich, dass es Schnittmengen zwischen uns gibt, was die Zukunft unseres Landes angeht: Dieses reiche Land muss sozialer werden und es muss den (neo)faschistischen Tendenzen mit aller Kraft etwas entgegengesetzt werden, um unsere freiheitliche demokratische Grundordnung zu bewahren. Wir leben nun seit gut 30 Jahren in einem Land und brauchen nötiger denn je ein gesamtdeutsches und respektvolles Gespräch. Bleiben werden nicht nur die zwei Bücher des Briefwechsels unter dem Titel „Ost-West Denkstrukturen“, bleiben werden auch die gewachsenen persönlichen Beziehungen gegenseitiger Achtung, die es weiterhin zu pflegen gilt.