„Rechte Gewalt im Osten stärker als im Westen“, „Mehr fremdenfeindliche Attacken in den neuen Bundesländern als in den alten“, „Flüchtlingsunterkünfte im Osten öfter von Attacken betroffen“ – Schlagzeilen dieser Art sind seit 1990 fester Bestandteil der Berichterstattung zum Thema rechter Gewaltkriminalität. Tatsächlich werden in den ostdeutschen Bundesländern im Durchschnitt mehr rechte Gewaltdelikte pro 100.000 Einwohner begangen als im Westen. Zugleich liegt die Quote der Gewaltkriminalität insgesamt dort niedriger als in den alten Bundesländern. Wie lässt sich das erklären?
Brisantes Thema
Das Thema ist mehrfach brisant: Gewaltdelikte stellen den schwerwiegenden Teil der politischen Kriminalität dar. Anders als die allgemeine oder nichtpolitische Kriminalität betrifft sie neben den unmittelbaren Opfern die Ordnung des Gemeinwesens in besonderer Weise. Der Ost-West-Vergleich enthält zudem innerdeutschen Sprengstoff. Dauerhafte Unterschiede im Ausmaß der rechten Gewalt zwischen den neuen und den alten Bundesländern können eine idealisierte Vorstellung von deutscher Einheit diskreditieren. Als Vorwurf gefasst, wird die höhere Quote rechter Gewalt in den neuen Bundesländern zu einem Element der „Ossifizierung“, also des Abwertungsdiskurses, der im Westen geführt wird.
Im Folgenden wird gezeigt, auf welcher Datenbasis die rechte Gewaltkriminalität beobachtet wird und welche Erklärungsansätze dafür von den Sozialwissenschaften erarbeitet wurden. Im Zentrum stehen die Jahre zwischen 2001 und 2013. Dies hängt mit der Verfügbarkeit von Daten zusammen, die im Rahmen einheitlicher Definitionssysteme erfasst werden. Zudem liegen für diesen Zeitraum Forschungsergebnisse zu rechten Gewalttätern vor. Schließlich gibt es Anhaltspunkte, dass mit dem Jahr 2014, dem Aufkommen der Pegida-Bewegung und der Krise der Flüchtlingspolitik, neue Entwicklungen einsetzen: Das Bundeskriminalamt (BKA) spricht von emotionalisierten Einzeltätern – bei zwei Dritteln der Tatverdächtigen scheinen keine „rechten Bezüge“ zu bestehen und es fehlen Anhaltspunkte für organisationsgesteuerte Straftaten.
Was sagt die polizeiliche Statistik?
Der statistische Befund als solcher ist zunächst einmal eindeutig. Laut Bundeskriminalamt waren die fünf neuen Länder hinsichtlich der Häufigkeitszahlen rechter Gewalt zwischen 2001 und 2013 immer unter den sieben Bundesländern mit den höchsten Werten.
Die absoluten Fallzahlen sind in den bevölkerungsreichen Bundesländern meistens am höchsten. Aufschlussreicher sind demgegenüber die sogenannten „Häufigkeitszahlen“, die die absoluten Fallzahlen rechnerisch ins Verhältnis zu der Bevölkerungszahl des jeweiligen Bundeslandes setzen und die Zahl der Fälle pro 100.000 Einwohner angeben. Erst mit dieser standardisierten Bezugsgröße lassen sich überhaupt Vergleiche durchführen. Dennoch sind statistische Darstellungen keine Realitätsspiegel. Es handelt sich vielmehr um eigenständige Repräsentationen von Wirklichkeit, die nach spezifischen Prinzipien konstruiert werden. Diese Konstruktionsprinzipien muss man kennen, um den Aussagewert der Statistik beurteilen zu können.
Im polizeilichen Sprachgebrauch bezeichnet „Gewaltkriminalität PMK – rechts“, hier synonym verwendet mit „rechter Gewalt“, die Gesamtheit der hier einzuordnenden Straftaten. Dem liegt ein Katalog von 42 Straftatbeständen aus dem Strafgesetzbuch (StGB) und dem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) zugrunde.
Die Fallzahlen zu den unter verschiedenen Gesichtspunkten konstituierten Teilmengen dürfen nicht addiert werden, da jeder Fall mehrfach kategorisiert werden kann. Ein „fremdenfeindlicher“ Gewaltfall fällt sowohl unter die Kategorie „Hasskriminalität" wie möglicherweise auch unter die Kategorie „extremistisch“.
Das Niveau von Gewaltkriminalität im Vergleich
Kriminologisch könnte man versucht sein, die stärkere Belastung der ostdeutschen Bundesländer mit rechter Gewalt über ein generell höheres Aufkommen von Gewaltkriminalität zu erklären. In der polizeilichen Zählweise ist die politisch motivierte Gewaltkriminalität eine Teilmenge der allgemeinen Gewaltkriminalität, wie sie in der „Polizeilichen Kriminalstatistik“ (PKS) erfasst wird.
Die konkreten Daten der PKS stützen diese Hypothese aber nicht: Die Häufigkeitszahl für Fälle von Gewaltkriminalität liegt in den neuen Bundesländern seit dem Beginn einer systematischen Erhebung 1993 unter den Werten für die westlichen Bundesländer. Zwischen 1993 und 1999 war der Abstand gering, seitdem besteht eine stabile Differenz. Dem Konstanzer Inventar zur Kriminalitätsentwicklung zufolge wurden 2010 in den alten Bundesländern durchschnittlich 255 und in den neuen Bundesländern 200 Fälle von Gewaltkriminalität pro 100.000 Einwohner polizeilich registriert.
Korrelation von rechter Gewalt und sozioökonomischen Indikatoren
Verschiedene Ansätze, auf der Ebene von großen Sozialräumen zwischen dem Auftreten rechter Gewalt und sozioökonomischen Indikatoren Korrelationen zu identifizieren, haben bislang nicht zur Bestimmung von klaren Mustern geführt. Soweit solche Korrelationen untersucht worden sind, fallen sie uneinheitlich aus: Die Vergleichsstudien zu politischer Gewalt in Nordrhein-Westfalen und Sachsen haben die Zusammenhänge zwischen rechter Gewalt und verschiedenen sozial-ökonomischen Faktoren auf Landkreis-Ebene getestet. Einbezogen wurden acht Größen: der Arbeiteranteil an den Beschäftigten, der Anteil der Beschäftigten unter 35 Jahren, der Anteil der Schulabgänger mit Abitur, die Arbeitslosenquote, Jugendarbeitslosigkeit und Allgemeinkriminalität, die Männer/Frauen-Ratio in der Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen, der Anteil gering qualifizierter Beschäftigter und der Anteil der Schulabbrecher.
Das Ergebnis für Sachsen lautet: „Die regionale Varianz politisch motivierter rechter Gewalt in Sachsen ist mit Aggregatdaten nicht zu erklären.“ In Nordrhein-Westfalen tragen hingegen fünf Variablen in einem kombinierten Erklärungsmodell in gewissem Umfang zur Analyse bei. Dabei hat die Arbeitslosenquote zusammen mit dem Arbeitsplatzangebot für Geringqualifizierte den stärksten Einfluss.
Bestimmen Einstellungen das Verhalten?
Vor dem Hintergrund der regelmäßigen Erhebungen zu rechtsextremen Einstellungen oder zu der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF)“ wird manchmal angenommen, rechte Gewalt sei als lineare Folge von rechten Einstellungen zu erklären. Dieses einfache Handlungsmodell ist jedoch unzutreffend. Der Leipziger „Mitte-Studie“ zufolge war in den neuen Bundesländern in den Erhebungsjahren 2002, 2004 und 2006 der Anteil von Befragten mit einem „geschlossenen rechtsextremen Weltbild“ niedriger als im Westen. Für die Erhebungsjahre 2008, 2010 und 2012 verhielt es sich genau umgekehrt. Eine parallele Tendenz-Veränderung bei den Häufigkeitszahlen rechter Gewalt lässt sich allerdings nicht beobachten.
Die Vorstellungen, rechte Gewaltakte ließen sich als direkte Verwirklichung eines entsprechenden geistigen Entwurfs („Gedankengut“) von Personen mit extrem rechten oder auch nur fremdenfeindlichen Einstellungen erklären, führen nicht zum Ziel: Wenn das Verhalten direkt aus den Einstellungen oder Orientierungen folgen sollte, müsste die Zahl der entsprechenden Delikte um Dimensionen höher sein.
Dies lässt sich auch an den geschlechtsspezifischen Aspekten verdeutlichen. Die GMF-Untersuchungen der Jahre 2002 bis 2009 zeigen, dass Frauen im Hinblick auf Fremdenfeindlichkeit und Rassismus im Durchschnitt fremdenfeindlicher eingestellt sind als Männer.
Rechte Gewalttäter in Ost und West
Jüngere Studien zu rechter Gewalt fokussieren auf den sozioökonomischen Status, die kriminellen Karrieren und die Gruppenkontexte der unmittelbaren Urheber.
Täterstudien liefern einen unverzichtbaren Beitrag zur Erklärung von rechter Gewalt, sie konzentrieren sich allerdings nur auf eine Seite des kriminologischen Dreiecks. Neben den Tätern wären auch die Tatsituationen und die jeweilige Sozialkontrolle zu untersuchen, um die unmittelbare Tatgenese rechter Gewalttaten als ein soziales Geschehen zu rekonstruieren, an dem neben den Tätern auch andere Einflussgrößen beteiligt sind.
Mehrdimensionale Erklärung
Gewalttätige Mikromilieus gibt es auch in den westlichen Bundesländern. Der höhere Anteil an rechter Gewalt ist deshalb über spezifische Bedingungen der Wirkmächtigkeit solcher Milieus in den neuen Ländern zu erklären.
„Eine Nation, zwei politische Kulturen“ – so lassen sich die historisch ansetzenden und die aktuellen Befunde zusammenfassen.
Zweitens existieren Normalitätserwartungen, die stärker als im Westen auf eine ethnisch-kulturelle homogene Bevölkerung ausgerichtet sind. Auch dafür sind langwirkende historische Prägekräfte ursächlich: Der Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung der DDR war äußerst gering, gegenüber den ausländischen Vertragsarbeitnehmern herrschte eine stark segregierende und exkludierende Politik und auch nach 1990 ist der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in den neuen Ländern deutlich geringer als im Westen. Die höheren Homogenitätserwartungen gehen einher mit Erwartungen einer stärkeren Inländerprivilegierung als im Westen. Dies dokumentiert sich kontinuierlich aktuell in einer höheren Zustimmung bei Umfragen zu einer Bevorzugung von Deutschen am Arbeitsmarkt, die gerade auch die Abschiebung von Ausländern in Zeiten von Arbeitsmarktkrisen einschließt.
Die relative Schwäche der Zivilgesellschaft und traditionelle nationale Gesellschaftsbilder gehören zu dem geschichtlichen Erbe der ostdeutschen Länder. Die Annahme, dass dieses Erbe seit 1990 immer kraftloser werde, geht allerdings von einem physikalischen Wirkungsmodell aus und unterschätzt die Interdependenz zwischen Ost und West: Es ist, drittens, nicht ausreichend, lediglich historisch entstandene Unterschiede zwischen den neuen und den alten Ländern zu konstatieren. Einbezogen werden müssen die Erfahrungen der Integration der neuen Länder in das bestehende politische, ökonomische und kulturelle System der Bundesrepublik. Sie sind zutiefst ambivalent und vereinen einerseits die Anerkennung erhöhter Chancen der individuellen Selbstentfaltung und andererseits die Erfahrung einer kollektiven Entwertung und einer kulturellen Asymmetrie zwischen Ost und West.
Die Kombination von unrealistischen Erwartungen an das westliche Politik- und Wirtschaftssystem und der stillschweigenden Hoffnung auf die Kontinuität von Sicherheitsgarantien eines fürsorglichen Staates sowie auf die Fortexistenz einer homogenen Sozialkultur haben zu vielfältigen Enttäuschungen und Entwertungserfahrungen geführt: 2014 fühlten sich 47 Prozent der Ostdeutschen und 73 Prozent der Westdeutschen in der Bundesrepublik „politisch zu Hause“.
Kontinuitätsmerkmale
In dieser Perspektive eines Spannungs- und Konfliktverhältnisses zwischen Ost und West lässt sich die rechte Gewalt als Protestverhalten aktiver Mikromilieus verstehen. Angriffe auf Minderheiten und staatliche Repräsentanten sind auch Akte der Selbstbehauptung eigener Traditionsbestände und Ausdruck der Unzufriedenheit mit Art und Ergebnissen der bisherigen Integration des Ostens.
Die nach wie vor andauernde Frustration und Unzufriedenheit bei einem Teil der Bevölkerung in den neuen Ländern und die tradierten Mentalitäten und Verhaltenspraktiken stellen den zentralen Unterschied zu den alten Bundesländern dar. Die gewaltaktiven Mikromilieus in den ostdeutschen Ländern können vor diesem Hintergrund mit einer passiven Ermöglichung, einer Zustimmung oder aktiven Unterstützung von größeren Teilen der Bevölkerung als im Westen rechnen. Damit wird ihre Selbstlegitimation erhöht.
Für die lokalen Gewaltmilieus in den neuen Ländern sind überdies spezifische Kontinuitätsmerkmale charakteristisch. Ihr Ursprung geht auf die 1980er Jahre zurück. Gewalt war „für die rechten Protestgruppen in der DDR die wichtigste politische Äußerungsform gewesen, weil ihnen legale Betätigungsmöglichkeiten im Unterschied zur bundesdeutschen Situation völlig fehlten“.
Zudem wurden rechtsextreme Gruppen und Organisationen nach 1989 aus den alten Bundesländern finanziell und personell intensiv unterstützt.
Ausblick
Das höhere Ausmaß rechter Gewalt in den neuen Ländern geht auf spezifische historische Ursachen zurück, die im aktuellen Protestverhalten militanter Minderheiten aktualisiert werden. Unterschiedliche politische Kulturen in Ost und West und die Unzufriedenheit mit Verlauf und Ergebnis der Integration der neuen Länder wirken hier zusammen.
Die Thematisierung der Zahlen rechter Gewaltfälle bietet stets die Möglichkeit, für ein politisches Ost-Bashing genutzt zu werden; ungewollt wird damit die Asymmetrie zwischen den alten und den neuen Bundesländern verstärkt. Es könnte deshalb aus politischen Gründen sinnvoll sein, diese Vergleichsperspektive für etliche Zeit brach liegen zu lassen und andere Einheiten zu vergleichen: urbane Räume und ländliche Räume oder norddeutsche Regionen und süddeutsche Regionen. Für die aktuelle praktische Auseinandersetzung mit den Mikromilieus rechter Gewalt können ohnehin aus historischen Erklärungen nur wenige praktische Folgerungen gezogen werden. Für die unmittelbare Arbeit mit Cliquen hat der Sozialforscher Kurt Möller gezeigt, dass rechtsextremen Deutungen und Praktiken primär durch alternative Erfahrungen der Kontrollierbarkeit der eigenen Lebensvollzüge und der Integration in sozial anerkannte Kommunikations- und Kooperationszusammenhänge der Boden entzogen werden kann.
Zitierweise: Michael Kohlstruck, Rechte Gewalt in Ost und West. Wie lassen sich die höheren Zahlen in den neuen Bundesländern erklären? In: Deutschland Archiv, 18.6.2018, Link: www.bpb.de/270811