Politische Haft in der DDR
Der Charakter eines Staates zeigt sich in besonderer Weise daran, wie dieser mit seinen vermeintlich politischen Gegnerinnen und Gegnern umgeht. „Politische Straftaten“ gibt es in allen modernen Staatsformen. Insbesondere Straftatbestände wie Spionage, Agententätigkeit, Terrorismus und Korruption fordern auch in Rechtsstaaten die klare Abgrenzung zwischen Politik und Justiz immer wieder heraus und sind gleichzeitig prädestiniert für eine politische Instrumentalisierung unter der Wahrung des Scheins von Rechtsstaatlichkeit.
Die Geschichte der Inhaftierung von Ausreisewilligen in der DDR legt ein besonders deutliches Zeugnis darüber ab, zu welchen inhumanen Konsequenzen eine solche politische Instrumentalisierung des Rechtssystems führen kann. Während die Hafterlebnisse männlicher politischer Häftlinge nach dem Niedergang der DDR mit der Etablierung einer Gedenkstätte des berüchtigten „Gelben Elends“ in Bautzen in der Öffentlichkeit eine recht hohe Präsenz genießen, ist das – nicht minder schreckliche – ehemalige zentrale Frauengefängnis der DDR „Hoheneck“ in Stollberg in der Nähe von Chemnitz weit weniger bekannt. Nach dem Mauerbau waren hier vor allem Frauen inhaftiert, die mit mehr oder minder großem Nachdruck versuchten, in die Bundesrepublik zu emigrieren. Ihre Lebensgeschichten geben in besonderer Weise Auskunft über die spezifischen Interdependenzen eines restriktiven Grenzregimes, einer überwachten öffentlichen Kommunikation, dem radikalen Scheitern sozialistischer Erziehungsansprüche und eines politisch instrumentalisierten Unrechtsapparats. Es ist dabei notwendig, die politische Inhaftierung der Frauen nicht als singuläres Ereignis zu betrachten, sondern in einen lebensgeschichtlichen Kontext zu stellen.
Eine Inhaftierung war in jedem Fall ein dramatischer Bruch der bisherigen Biografie. Es ist dabei wichtig, diese individuellen Hafterfahrungen von einer Außenperspektive ernst zu nehmen, anzuerkennen und zugleich im Rahmen der jeweiligen Lebensgeschichte zu verstehen. Die folgenden Überlegungen stammen aus einer biografieanalytischen Studie,
Gemeinsame Inhaftierungserfahrungen
Viele ehemals aus politischen Gründen inhaftierte Frauen sind auch heute nicht in der Lage, über ihre Haftzeit zu sprechen, da die psychische Belastung nach wie vor zu groß ist. Die mittlerweile vielfach nachgewiesenen posttraumatischen Belastungen politisch Inhaftierter
Die Inhaftierung hatte zudem häufig schwerwiegende Folgen für die Familienangehörigen, insbesondere für die Kinder der Inhaftierten – insbesondere dann, wenn diese nicht bei Verwandten untergebracht, sondern in Kinderheime eingewiesen oder zur Adoption freigegeben wurden. Potenziell traumatisierend war es für die Kinder, wenn sie die Festnahme der Mutter oder gar beider Elternteile miterleben mussten. Die Inhaftierung erfolgte in der Regel unter dem Vorwand, man habe „Zur Klärung eines Sachverhaltes“ mitzukommen. Dieser Satz ist für die Frauen symptomatisch für die schmerzhaft geteilte Ohnmachtserfahrung der Inhaftierung. Diese wird beispielsweise in dem folgenden Interviewausschnitt sehr anschaulich beschrieben:
„Um halb acht ging die Klingel. Ich bin aufgestanden, zieh meinen Bademantel an, schaue durch den Spion […] und da sehe ich die besagten Leute vor der Tür stehen. Da denk ich: ‚Ach du Scheiße! Das ist Stasi‘. Die haben Sturm geklingelt! Dann habe ich die Türe aufgemacht. Da war natürlich auch gleich ein Fuß in der Schwelle, also ich konnte die Tür nicht mehr zuknallen, da hätte ich denen die Füße gebrochen. ‚Sind Sie Frau Bürger‘?
„Die Angeklagten hatten in der Deutschen Demokratischen Republik alle Möglichkeiten, Berufe entsprechend ihrer Fähigkeiten zu erlernen und auszuüben. Arbeitsplatz und soziale Sicherheit waren ihnen und ihren Kindern garantiert. Sie waren jedoch nicht bereit, ihre Rechte auf Mitgestaltung wahrzunehmen, betrachteten Aufforderungen hierzu als Zumutungen und Bevormundung und beanspruchten persönliche Freiheiten unter völliger Ignoranz gesellschaftlicher Notwendigkeiten.“
„Im Zug saßen immer ganz eng vier Leute in so einem kleinen Kabuff. Wir durften auch nicht raus, mussten da drin sitzen bleiben. Wenn wir mal auf die Toilette mussten, mussten wir klopfen. Dann kann immer jemand mit. Ansonsten waren wir in einem Zug – ich glaub der war von draußen gar nicht zu erkennen – dass es so ein Transport ist. Von innen waren natürlich Gitter […], aber von außen war nichts zu sehen. Bis nach Chemnitz sind wir gefahren worden. [...] Da standen sie alle schon wieder mit den Hunden und mit den Gewehren.“ Die Ankunft in Hoheneck ist geprägt durch den ersten Kontakt mit dem Gefängnisalltag im sogenannten Zugang, wie eine andere ehemalige Hoheneckerin berichtet:
„Und dann hat man mich in den Zugang gebracht, das dauerte zwei Wochen. Das war eine riesengroße Sammelzelle. Ich schätze mindestens dreißig Personen. Dort war meine Aufgabe dann, mich dort erstmal in den Alltag einzufügen und meinen Namen auf irgendwelche Bänder zu sticken, die dann in die Kleidung genäht wurden, damit beim Wäschetausch die Wäsche mich also wiederfindet. Nach den zwei Wochen bin ich dann man sagte ‚aufs Kommando‘ gebracht worden. Also richtig in die Tiefen des Gefängnisses hinein.“ Im „Zugang“ erhielten die Frauen Häftlingskleidung und gerieten in den ersten intensiveren Kontakt mit anderen Gefangenen, darunter auch Schwerstverbrecherinnen. Die Unterscheidung von politischen und kriminellen Inhaftierten ist für alle Frauen ein bedeutendes Merkmal der Haftbeschreibung. Gleiches gilt für die obligatorische Haftarbeit, die bei den meisten Frauen darin bestand, Strumpfhosen oder Bettwäsche in Schichtarbeit zu nähen. Von allen Frauen wird Hoheneck als unhygienischer, kalter und überfüllter Ort beschrieben. Das enge Zusammenleben, der rüde Umgangston, Schikanen durch das Wachpersonal und das extrem schlechte Essen stellten die Frauen auf harte Belastungsproben. Zusätzliches Potenzial für Schikanen bestand dann, wenn sie Kinder hatten, um deren Wohlergehen sie fürchten mussten. Fast alle Frauen vermieden es in der Erzählung über Hoheneck, detaillierter über das Schicksal ihrer Kinder zu sprechen, was ein deutlicher Ausdruck der bis heute andauernden Vulnerabilität bezüglich dieser Thematik ist.
Abwechslung und Lichtblicke im inhumanen Strafvollzug boten die wenigen und stark reglementierten „Sprecher“, in denen ein rudimentärer Kontakt zu Angehörigen gehalten werden konnte. Auch Paketsendungen waren im kargen Gefängnisalltag wichtig, in denen Angehörige Waren des täglichen Gebrauchs und auch Genussmittel wie Süßigkeiten und Zigaretten senden konnten. Ansonsten lieferte einzig der gefängnisinterne Kiosk die Möglichkeit, sich mit zusätzlichen, aber häufig minderwertigen Waren zu versorgen. Zentral im Hafterleben blieben bei allen befragten Frauen jedoch stets die sogenannten Transporte, in denen freigekaufte politische Häftlinge abgeholt und über Karl-Marx-Stadt in den Westen abgeschoben wurden. Frau Sommer berichtet beispielsweise:
„Wir konnten immer aus dem Fenster schauen. Auf so ein Gebäude, die sogenannten Effekten. Immer wenn da nachts gearbeitet wurde, wenn da Licht brannte, das waren dann immer Kriminelle, die dort gearbeitet haben. Da wurden nämlich die Pakete gepackt für die, die auf Transport gingen. Und immer wenn dort gearbeitet wurde, wussten wir, am nächsten Tag ist Transport. […] Ich dachte, ja, irgendwann muss ich dran sein. Aber es ging auf Weihnachten zu. […] Irgendwie hat mir etwas gesagt, ich komm noch weg. Aber man will, so bin ich jedenfalls eingestellt, sich selber nicht wehtun. Wenn man sich so drauf versteift.“ Die Hoffnung, selbst durch einen Transport von der Qual der Inhaftierung befreit zu werden, war daher allgegenwärtig. Die genaue Dauer der weiteren Haftzeit war für die Frauen kaum zu antizipieren. Zudem mussten sie auch ständig befürchten, zurück in die DDR entlassen oder ohne die eigenen Kinder in den Westen abgeschoben zu werden.
Die unterschiedliche Bedeutung von Hoheneck in den Biografien
Neben diesem dominanten Narrativ über die Haft in Hoheneck, welches in nahezu allen Interviews seinen Eingang findet, zeigen sich auch deutliche Differenzen der jeweils subjektiven Bedeutung der Haftzeit. Diese scheint im besonderen Maße davon geprägt zu sein, in welcher spezifischen biografischen Konstellation die Inhaftierung geschah. Selbstverständlich hingen die Hafterlebnisse auch davon ab, zu welcher Zeit, wie lange und mit welchen zusätzlichen Repressionen die Inhaftierung verbunden war. Dennoch zeigen sich klare Verarbeitungs- und Leidensmuster, die sich aus den biografischen Konstellationen heraus erklären lassen. Dabei hat sich zunächst einmal als bedeutsam erwiesen, wie die Frauen ihre Flucht- und Ausreisehandlung verstanden. Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass sich hier mindestens drei unterschiedliche Arten unterscheiden lassen.
Politische Haft als totalitäre Verfolgung
So gab es zum einen Frauen, deren individuelle Zukunftswünsche explizit mit einer Auswanderung in die Bundesrepublik verbunden waren. Hier war der Wunsch, auszureisen, in der Regel ein langfristig gewachsener Handlungsplan, der mit einer inneren Abkehr vom Leben in der DDR verbunden war. In den biografischen Erzählungen finden sich bereits in der Kindheit und Jugendzeit deutliche Zerwürfnisse und Auseinandersetzungen mit den spezifischen politischen Ritualen, Massenorganisationen oder dem Staatsbürgerkundeunterricht. Diese aktive Auseinandersetzung schärfte bei diesen Frauen ein oppositionelles Bewusstsein. Häufig war dies mit einem westlich orientierten Freundeskreis verbunden, der spezifische Affinitäten zur westdeutschen Lebensweise erzeugte. So berichtet auch Frau Sommer darüber, dass ihre Eltern zwar in der DDR einen enormen sozialen Aufstieg erlebten, sie aber dafür kein Interesse entwickeln konnte:
„Ich hab eine ganz andere Richtung eingenommen. […] Das war ja die Zeit, die sechziger Jahre, wo es anfing, dann kamen die Beatles und die Rolling Stones! Das waren so meine Interessen.“ Die Auseinandersetzung mit der Lebensweise in der DDR führte auch zu einer kritischen Reflexion der Lebensweise der eigenen Eltern und zu entsprechenden Adoleszenzkrisen. In den biografischen Erzählungen wird die DDR eindeutig als Diktatur dargestellt, die das eigene Aufwachsen direkt oder indirekt geprägt und gestört hat. Auch dies kann an einem kurzen Ausschnitt aus dem Interview verdeutlicht werden:
„Meine Eltern haben mir gegeben, was ich brauchte. Was weiß ich, Roller und solche kleinen Kinderwünsche. Obwohl meine Eltern sich da auch Entbehrungen auferlegt haben. Und dafür waren auch meine Eltern verantwortlich. Aber Schule und nachher der weitere Weg, wenn der Staat in mein Leben mit eingegriffen hat, dann konnte es eben nicht so schön werden.“ Damit entwickelte sich mehr oder minder kontinuierlich der Wunsch, in den Westen zu ziehen, dem diese Frauen mit zum Teil riskanten Fluchtversuchen nachgingen, oder dadurch, dass sie beharrlich Ausreiseanträge stellten. Ihre Inhaftierung sahen diese Frauen als Ausdruck einer totalitären Diktatur, die ihre politischen Gegner und Gegnerinnen beseitigte. In den Erzählungen wird die Haft oft mit den Deportationen der Verfolgten im Nationalsozialismus verglichen. Sie berichten immer wieder, in diesem Fall abermals Frau Sommer, eindrücklich darüber, wie sie während der Haft das Gefühl hatten, in einem KZ gelandet zu sein.
„Wieder dieser Bezug: also dieser gedankliche Bezug, als man so dachte: KZ! KZ! KZ! […] Es war finster, als wir ankamen. Man sieht nur diesen Stacheldraht überall und diese hohen Mauern und dann noch ein Feld. Dann wieder Stacheldraht – wo man denkt, da ist bestimmt elektrischer Strom drin und dann die Hunde, die dazwischen laufen und überall bellt es und das hört sich so schlimm an. Da kommen solche Gefühle dann in einem hoch.“ Die Angst davor, nicht nur inhaftiert zu sein, sondern möglicherweise auch ermordet werden zu können, war bei diesen Frauen in Teilen sehr real. Gleichzeitig traf sie die Haft in der Regel nicht ganz unerwartet. Häufig gab es bereits Kenntnisse über die politische Justiz, und dass man freigekauft werden konnte. Die Haftzeit war für diese Frauen eine Leidenszeit, die sie überstehen mussten, um ihr Ziel erreichen zu können: in den Westen zu kommen.
Wandlungen der Selbst-Identität durch die Inhaftierung
Unter den Interviewten gibt es jedoch auch eine Reihe von Frauen mit gänzlich anderen Lebensgeschichten. In ihren Erzählungen wird deutlich, dass diese weitaus weniger Reibungen und Konflikte in der DDR erlebten. Diese Frauen betonen die Normalität des Alltagslebens in der DDR, mit all den guten und schlechten Seiten. Als bedrohliche Diktatur nahmen sie die DDR jedoch zunächst einmal nicht wahr.
„Und ich war froh, im Osten zu sein, weil die haben uns ja immer gesagt: Ja, im Westen, das sind alles Verbrecher und so und viele auf den Straßen. Wir waren richtig froh, dass es das bei uns nicht gibt. Es wurde uns ja alles so eingebläut, also als wir noch Kinder waren. Wir waren richtig froh, dass wir in der DDR lebten und dass es hier sowas nicht gibt und dass die DDR aufpasst, dass hier kein Krieg mehr kommt und so, nicht?“ Diese Frauen waren zunächst einmal gut in die DDR-Gesellschaft integriert und folgten in weiten Teilen der gesellschaftlich institutionalisierten Normalbiografie in der DDR. Sie berichten, wie sie ihren Beruf erlernten, vom Wohnungsmangel, von den Problemen des Arbeitsalltags und den entsprechend Strategien, um damit umzugehen. Im frühen Erwachsenenalter wurde für diese Frauen in der Regel die Familiengründung relevant. Die Lebensweise der Eltern hinterfragten sie – im Gegensatz zum oppositionellen Milieu – weniger kritisch. Das Bild, welches diese Frauen vom Westen hatten, war eher nebulös. Typischerweise betonen sie in den Anfangserzählungen des Interviews, dass sie eigentlich nicht in den Westen wollten.
In all diesen Fällen war die Ausreiseentscheidung eine Reaktion auf eine biografische Lebenskrise, die unterschiedliche Formen annehmen konnte, jedoch in allen Fällen die Normalität der Biografie erschütterte. Häufig waren in diesen Fällen die jeweiligen Partner und Ehemänner die Initiatoren, deren Wunsch, in den Westen zu gehen, immer stärker wurde. Diesen Wünschen schlossen sich die Frauen an, sofern es weitere Krisen gab, die diese Frauen in der DDR erlebten, und die sie durch die Ausreise hofften, verarbeiten zu können. So berichtete eine Frau beispielsweise von massiven Eheproblemen, die auch mit den äußerst schlechten Wohnbedingungen in der DDR zusammenhingen. Ihr Mann wollte unbedingt ausreisen und setzte sie massiv unter Druck:
„Und er sagte dann immer: Du willst ja hier leben. Also, es war dann schon eine wirklich, eine schlimme Zeit. Ich bin manchmal zur Firma und habe gedacht, ich kann das Wort Ausreise schon nicht mehr hören. Und dann hab ich gesagt, eines Tages, okay ich mach mit.“ Diese Frauen machten auch auf Nachfrage sehr deutlich, dass sie ohne die Fremdinitiative nicht den Versuch der Flucht oder Ausreise unternommen hätten. Die Inhaftierung kam für sie entsprechend überraschend und unvorhergesehen. Häufig war diese für die Frauen der erste Kontakt mit ernsthaften Sanktionen des Staates. Ihr Selbstbild entsprach in keiner Weise dem einer politischen Staatsfeindin oder einer oppositionellen Akteurin. Symptomatisch dafür ist die Reaktion von Frau Bürger nach ihrer Inhaftierung, als sie in die Zelle gesperrt wurde:
„In der Zelle saßen zwei Frauen, die haben mich ganz groß angeschaut. Ich wurde reingeschoben, die Tür ging zu. Klappe ging auf, mein Abendbrot kam rein. Da haben die gesagt: ‚Das ist dein Essen‘. Da habe ich gesagt: ‚Ich esse hier nicht‘. Sag ich: ‚Ich geh gleich wieder. Das ist hier alles ein Missverständnis‘. Die gucken mich da groß an: ‚Willst de nach‘n Westen?‘ – ‚Ja, ich hab nen Ausreisantrag‘. ‚Ja dann bleibst du hier, dann ist das kein Missverständnis‘. Sag ich: ‚Das geht nicht, ich habe ein Kind‘ ‚Ja‘ sagt sie: ‚Wir haben auch Kinder. Du bleibst hier‘. Und da habe ich erst das alles so ein bisschen realisiert. […] Da hab ich geheult. Da ist für mich eine Welt zusammengebrochen.“ Diese Frauen berichten über ihre Zeit in Hoheneck deutlich anders als die oben genannten: Es fehlt die Assoziation mit einem KZ, stattdessen betonen sie, wie sehr die Haft zu einer Erschütterung des Selbst und der Weltsicht führte. Die Bekanntschaft mit Kindsmörderinnen und anderen Schwerverbrecherinnen bedeute für diese Frauen eine tiefe Krisis-Erfahrung:
„In der DDR gab es ja offiziell zu dem Zeitpunkt damals keine Kriminalität. Es wurde nie in den Medien etwas berichtet. Es stand nie etwas in den Zeitungen. Bei uns war die heile Welt, nur im Westen war alles schlecht.“ Bei diesen Frauen steht – im Vergleich zu den inhumanen Inhaftierungspraxen – deutlich stärker im Fokus der Erzählung, wie man sich den Haftalltag erträglich machte. Sie berichten ausführlich über die Solidarität unter den politisch Inhaftierten und wie sie es lernten, Freiräume zu nutzen. Aus altem Brot und gegorenen Früchten stellten sie beispielsweise Alkohol her, bastelten sich aus Servietten Tischdecken und Spielkarten und feierten illegal Feste. Dies bedeutete nicht, dass damit der Schrecken des Ortes Hoheneck gemindert wurde. Die Inhaftierung ist in den Biografien jedoch deutlich damit verbunden, dass sich ein neues Selbst- und Weltbild etablierte. Entsprechend beschreiben die Frauen Hoheneck als „Lebensschule“, in der man „stärker geworden“ und persönlich gewachsen sei. Erst in der Haft wurden diese Frauen zu politischen Opponenten des Systems.
Haft als biografisches Moratorium
Eine dritte Bedeutung erlangte die Haftzeit bei Frauen, deren biografische Situation bereits vor der Inhaftierung in mancher Hinsicht prekär war, sodass eine autonome Lebensführung massiv gestört war. Dies konnte durch politische Verfolgung und aufgrund von Schikanen – sogenannter Zersetzungsmaßnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) – gegenüber den Frauen oder nahen Familienangehörigen ausgelöst sein, aber auch durch andere Faktoren, wie einem Leben in einer gewalttätigen Beziehung oder psychische Belastungen. Bei diesen Frauen geschah die Inhaftierung zu einer Zeit, in der sie bereits einem massiven Leidensdruck ausgesetzt waren. Hier veränderte sich in der Haft weder die Selbst-Identität der Frauen, noch verstanden sie sich als Opponenten eines totalitären Regimes. Vielmehr sind die Beschreibungen der Haftzeit in diesen Fällen davon gekennzeichnet, dass die Inhaftierung den Leidensprozess verschlimmerte, aber zugleich ein Moratorium bot. Dies führte beispielsweise zu einem vollständigen Rückzug in Passivität und Gleichgültigkeit:
„Ich glaube, da drin haben sich meine ganzen Gefühle verkrümelt. Ich hab das einfach so hingenommen, wie es war. Mensch, rutscht mir doch den Buckel runter. […] So sah es wahrscheinlich in mir aus. Lass die doch machen.“ Andererseits finden sich in der Retrospektive auch in diesen Fällen erstaunlich positive Erlebnisse in Hoheneck, die den Zusammenhalt unter den Inhaftierten und die Routine des Haftalltags positiv herausstellen. Für die Frauen war die Haftzeit auch ein Rückzugsraum aus einer Leidenszeit außerhalb der Haft und ermöglichte es, zu sich selbst zu finden. Dies waren sicherlich seltene Fälle, die nur in den spezifischen biografischen Konstellationen vorkamen. In unserer Studie war dies jedoch kein Einzelfall. So berichtet die aufgrund eines Fluchtversuches verhaftete Frau Schmied:
„Das Komische bei mir war eigentlich auch immer, dass – als ich dann raus war – die Zeit vor dem Knast bei mir eigentlich weg war. Mein Leben fing erst in Hoheneck an. Und wenn ich hier irgendwie gefragt wurde, […] ich habe dann nur von Hoheneck erzählt. Was wir da gemacht haben.“ Auch die regelmäßigen Ehemaligen-Treffen sind für diese Frau positiv besetzt: „Und Hoheneck – es klingt komisch – aber ich fahre gerne dort hin.“ In einer Phase nach ihrer Haft, in der sie erneut eine tiefe Krise durchlief, wurde Hoheneck sogar zu einem erwünschten Rückzugsort:
„Da hatte ich manchmal Sehnsucht nach Hoheneck zurück. Weil dort hattest du alles, was du brauchtest. Musstest dir um nichts den Kopf zerbrechen. Da brauchte man nur funktionieren.“
Hoheneck – Binnenperspektiven
Die Beschäftigung mit den Lebensgeschichten politisch inhaftierter Frauen macht deutlich, dass die Haft nicht nur systemkritische Opponenten traf, sondern auch zahlreiche Frauen, die sich als unpolitisch bezeichneten. Ausreise- und Fluchtentscheidungen gab es zwar auch, aber keinesfalls nur dann, wenn es eine tiefe Ablehnung gegenüber der DDR gab. Stattdessen zeigte sich, dass es vielfache andere Gründe geben konnte, warum das Korsett der politisch durchdrungenen sozialistischen Lebensweise für Frauen zu eng werden konnte und man sich ein besseres Leben in der Bundesrepublik erhoffte. Es wäre daher überzogen, politisch inhaftierte Frauen a priori als Systemopponenten zu bezeichnen. Gleichermaßen muss festgestellt werden, dass sie alle gegen das inhumane Grenzregime der DDR aufbegehrten, indem sie das Ausreiseverbot nicht akzeptierten und Ausreiseanträge stellten und/oder Fluchtversuche unternahmen. Ausreise und Flucht waren biografisch riskant und die Entscheidung dafür eine Form des Widerstands gegen das System. Die Praxis der politischen Inhaftierung zeigt, wie das Grenzregime der DDR, das mit einer Propagierung sozialistischer Lebensweise gekoppelt war, in die Biografien der Bürgerinnen und Bürger hineinragte und welche perfiden Konsequenzen es hatte, wenn die Erwartungen an die sozialistischen „Normalbiografien“ nicht mehr mit den Lebensrealitäten vereinbar waren. Dafür zahlten die in unserer Studie interviewten Frauen einen hohen Preis. Die politische Haft ist Teil ihrer Biografie. Sie hat für die Lebensgeschichten – neben der geteilten Erfahrung von Unrecht und Schikane und in Abhängigkeit von den biografischen Vorerfahrungen – sehr unterschiedliche Bedeutungen.
Zitierweise: Frank Beier, Politisch inhaftierte Frauen in der DDR: Binnenperspektiven auf das Frauenzuchthaus Hoheneck, in: Deutschland Archiv, 12.06.2018, Link: www.bpb.de/270085