Im „kurzen“ 20. Jahrhundert wurde die deutsche Geschichte vom Ringen dreier politischer Ordnungen geprägt: Nationalsozialismus, Sozialismus und freiheitliche Demokratie. Jedes dieser Systeme schuf sein eigenes Berlin. Und mehr oder weniger zufällig inszenierte auch jedes sein eigenes Berliner Geburtstagsfest. Das erste Mal 1937, mit der 700-Jahr-Feier der nationalsozialistischen Reichshauptstadt, und dann, 50 Jahre später, eine zweifach begangene 750-Jahr-Feier in der Hauptstadt der DDR und in West-Berlin.
Beim ersten Fest war es das nationalsozialistische Bedürfnis nach Selbstinszenierung, im zweiten Fall die Systemkonkurrenz, die dafür sorgten, dass diese Jubiläen natürlich mehr als nur fröhliche Volksfeste mit Berliner Bären und geschmückten Straßen wurden. Stets begriffen die jeweiligen Stadtverwaltungen die Feiern als höchst politisch, und das auch zu Recht. Gerade im scheinbar unpolitischen Gewand einer Geburtstagsfeier ließen sich politische Werte, Freund-Feind-Bilder, Gemeinschaftserfahrungen und die eigene Verortung in der Geschichte vermitteln. Die Berlin-Inszenierungen konnten kaum unterschiedlicher ausfallen als in diesen drei politischen Systemen – und das machte etwaige Ähnlichkeiten immer wieder so brisant.
Dabei war der eigentliche Feieranlass in Wahrheit etwas wackelig. Berlin war im Mittelalter eine Doppelstadt: Berlin-Cölln. Weder Gründungsurkunde noch Stiftungsdatum ist überliefert. Auf das Jahr 1237 ist die urkundliche Ersterwähnung datiert – und zwar von Cölln, Berlins Schwesterstadt.
Erste Diskussionen über ein mögliches Stadtjubiläum wurden in den 1920er Jahren geführt. Damals gingen Archivare von „1230 oder 1231“ als Gründungsjahr Berlins aus. Aber der republikanische Oberbürgermeister der krisengeschüttelten Hauptstadt lehnte 1929 die Idee einer 700-Jahr-Feier ab. Ein festes Gründungsdatum sei nicht überliefert und darüber hinaus fand er „die gegenwärtigen Zeitverhältnisse für die Abhaltung prunkvoller Feste doch wohl nicht geeignet“. Und „politische Gründe kämen für eine derartige Feier ebenfalls nicht in Frage“.
Das sah acht Jahre später ganz anders aus. Der nationalsozialistische Kommunalpolitiker Julius Lippert festigte Ende 1936 endlich seine lang ersehnte Herrschaft über die Stadtverwaltung, die er seit 1933 gesäubert hatte. Als neuer „Stadtpräsident und Oberbürgermeister“ hatte Lippert viele politische Gründe für ein prunkvolles Fest, mit dem er sich und sein neues Amt inszenieren konnte. So reaktivierte Lippert die alte Idee einer 700-Jahr-Feier und legte sie für den Sommer 1937 fest, mit dem Hinweis auf die Ersterwähnung Cöllns. Damit begründeten die Berliner Nazis eine bis heute währende Tradition: Folgerichtig wurde 1987 das nächste Mal gefeiert, und, etwas bescheidener, 2012 wieder.
NS-Reichshauptstadt 1937
Die 700-Jahr-Feier war eine lokale Veranstaltung.
Nur das Festspiel war ein Musterbeispiel nationalsozialistischer Massenchoreografie. Hier wurde die Stadtgeschichte szenisch umgesetzt, mit Trompetenfanfaren, Glockengeläuten und Scheinwerfern im dunklen Olympiastadion. „Das Festspiel ist ein Spiel des Volkes für das Volk, Zehntausende spielen für Hunderttausende“, verkündete das Programmheft.
Unterdessen zeigten die NSDAP-Parteigrößen wenig Interesse an dem lokalen Event. Hitler blieb dem Jubiläum fern, und der populäre Berliner Gauleiter Joseph Goebbels nahm als Ehrengast nur einen Tag daran teil. Er hielt eine Festrede zur „Kampfzeit“ seit 1926, und bilanzierte: „Es ist uns gelungen, in knapp zehn Jahren aus dieser nach Moskau einst rötesten Stadt der Welt wieder eine wahrhaft deutsche Stadt zu machen.“
So ließ sich der Berliner Stadtpräsident feiern. Lippert ordnete seine Stadt ostentativ in das Dritte Reich ein. „Ich bin überzeugt“, verkündete er, „daß alle Berliner Volksgenossen heute stolz auf ihre Heimatstadt sind und mich […] darin unterstützen werden, eine Volksgemeinschaft zu schaffen, die in vorderster Reihe in dem Kampf um Deutschlands Größe steht.“
Ost-Berlin 1987
Ein halbes Jahrhundert später war Berlin eine geteilte Stadt. Und 1987 war ein Ende der Teilung noch nicht absehbar – rückblickend vielleicht schon, zeitgenössisch aber nicht. So standen sich beide Stadthälften zur 750-Jahr-Feier in voller Ausprägung als Repräsentanten miteinander konkurrierender Gesellschaftssysteme gegenüber.
Erich Honecker beim Staatsakt im Palast der Republik zum 750-jährigen Jubiläum Berlins, 1987 (© Bundesarchiv, Bild 183-1987-1023-035, Foto: Rainer Mittelstädt)
Erich Honecker beim Staatsakt im Palast der Republik zum 750-jährigen Jubiläum Berlins, 1987 (© Bundesarchiv, Bild 183-1987-1023-035, Foto: Rainer Mittelstädt)
Im Osten kam das anstehende Jubiläum schon früh auf die Agenda und wurde sofort als Staatsereignis eingestuft. DDR-Kulturchef Kurt Hager erklärte bereits 1981, die Feier könne erstens „einen wesentlichen Beitrag bei der Festigung des sozialistischen Heimat- und Nationalbewusstseins der Bürger der DDR leisten“, zweitens „das internationale Ansehen Berlins als sozialistische Metropole stärken“ und schließlich „imperialistische Konzeptionen von einer ‚Gesamtberliner Geschichte‘ bzw. vom ‚Offenhalten der deutschen Frage‘ wirksam zerschlagen helfen“.
Als es 1987 dann soweit war, befand sich die DDR längst in eine Phase offener und in erster Linie wirtschaftlicher Stagnation. Aber die 750-Jahr-Feier hatte dennoch gewaltige Dimensionen angenommen, zusätzlich angetrieben von der Feierkonkurrenz zu West-Berlin. Das spiegelte sich besonders im Wohnungsbau und in der Pflege des historischen Stadtbildes wider. Am Platz der Akademie (heute: Gendarmenmarkt), der lange eine imposante Ruinenlandschaft gewesen war, waren das Schauspielhaus, der Französische Dom und der Deutsche Dom wiederaufgebaut worden. Ebenso überraschend war der historisierende Neubau des Nikolaiviertels, Berlins Geburtsstätte. Diese stattete Ost-Berlin mit einer historischen Kulisse aus, die im Realsozialismus durchaus spektakulär war. Sie unterstrich zudem, dass die Wurzeln der Stadt diesseits der Mauer lagen und nicht drüben, in West-Berlin.
Das Festprogramm dauerte das ganze Jahr, es gab internationale Konferenzen, Jahrmärkte, Bücher, Ausstellungen, gute Versorgung, Konzerte und Volksfeste. Der Geburtstag selbst wurde mit einem Staatsakt im Palast der Republik gefeiert. Hier malte Honecker schöne Wunschbilder über die Mauerstadt, als er spürte „wie kraftvoll der Puls des Lebens in unserem Lande schlägt. Berlin, die Stadt des Friedens, erwies sich als weltoffener Ort der Begegnung, des Dialogs und der Zusammenarbeit, als Anziehungspunkt für namhafte Künstler und Ensembles der internationalen Kultur.“
Festumzug in Ost-Berlin am 4. Juli 1987 mit mehr als 40.000 Mitwirkenden (© Bundesarchiv, Bild 183-1987-0704-023, Foto: Steffen Ritter)
Festumzug in Ost-Berlin am 4. Juli 1987 mit mehr als 40.000 Mitwirkenden (© Bundesarchiv, Bild 183-1987-0704-023, Foto: Steffen Ritter)
Unbestrittener Höhepunkt war der große historische Festzug, der am 4. Juli 1987 bei strahlendem Sonnenschein durch die Hauptstadt rollte. Im Vergleich zu 1937 war die Strecke zwar kurz, die Zahl der Mitwirkenden mit 40.000 Menschen dafür aber fast zehn Mal so hoch. Der Zug umfasste 291 Bildfolgen und dauerte volle fünf Stunden. Es kostete die kriselnde DDR erhebliche Energien, um dieses Wagnis „störungsfrei“ über die Bühne zu bekommen.
Der Festzug sparte die sensiblen Kapitel der Ost-Berliner Geschichte nicht aus. Das galt beispielsweise für die ‚Befreiung‘ 1945 durch die Rote Armee, die viele ältere Berliner mit schrecklichen Erfahrungen verbanden. Sogar die Berliner Mauer kam im Festzug vor. Ein Thema der Nachkriegsgeschichte fehlte in Ost-Berlin jedoch völlig, und das war West-Berlin. Weder in Geschichtsdarstellungen noch im Fest wurde auf die Entwicklung im Westteil eingegangen – die Berliner Geschichte verengte sich ab 1949, dem Gründungsjahr der DDR, demonstrativ auf die östliche Stadthälfte.
Doch die mühsam aufrechterhaltene Fassade zeigte (vor allem im Rückblick) bereits viele Risse. Gorbatschow kam nach Berlin und wurde besonders laut bejubelt, während die offiziellen Beziehungen mit der SED-Führung bereits sehr abkühlten. Kurt Hager degradierte die Perestroika zum „Tapetenwechsel“. Demonstranten zeigten bei den offiziellen Kundgebungen zum 1. Mai in jenem Jahr zahlreiche Gorbatschow-Bilder.
Auch bei manchen Festveranstaltungen wurde die Opposition sichtbar. Zu Pfingsten kam es bei West-Berliner Rockkonzerten an der Mauer zu Unruhen in Ost-Berlin. Ende Juni fand in Berlin ein kritischer „Kirchentag von unten“ statt, wo über Glasnost und Perestrojka debattiert wurde. Zudem setzte die alternative Szene der Staatspropaganda eigene Berlin-Bilder entgegen. So initiierten Harald Hauswald und Lutz Rathenow in der Umweltbibliothek erstmals ihre Fotoausstellung „Ostberlin – die andere Seite einer Stadt“. Ihr Projekt war auch gegen das Jubiläum gerichtet und dokumentierte Aussteiger, Alltag und Jugendkulturen der Hauptstadt. Es wurde über die DDR hinaus bekannt, unter anderem durch die westdeutsche Zeitschrift GEO, die 1986 mit einer Sonderausgabe zu den Szenen in West- und Ost-Berlin herauskam.
So war der hohe Rang, der dem Fest staatlicherseits zuerkannt wurde, auch eine Belastung. Es blieb wenig Raum für die Betonung einer eigenständigen Berliner Identität. Zudem stieg überall im Land der Ärger auf die Hauptstadt, die so offensichtlich bevorzugt wurde. Über Berlin zu lästern, wurde 1987 in der Region fast zu einer patriotischen Bürgerpflicht. Es gab Sprüche und Witze ohne Ende: „Für Berlin das Beste, für die Republik die Reste“; „Kann man ohne Ekel bis 1000 zählen? Nein, man muss an den 750 vorbei.“; „Das Versorgungsproblem im Sozialismus ist gelöst: Wir schaffen alles nach Berlin, und dort holt sich jeder ab, was er braucht.“ Bauarbeiter aus der gesamten Republik wurden nach Berlin beordert, um die Hauptstadt auszuputzen, während zuhause die Innenstädte weiter zerfielen. So kam es, dass in Berlin Zementlaster aus Thüringen mit Losungen wie „1026 Jahre Halle“ fuhren. Autoaufkleber wie „781 Jahre Dresden“ und „821 Jahre Leipzig“ wurden vom Staat heuchlerisch zu Zeichen sozialistischer Heimatliebe umgedeutet. Nicht selten endete der Berlin-Hass in Vandalismus: Mehrfach wurden im Umland Berliner Autos beschädigt oder mit Farbe beschmiert („Ärsche 750“), hungrig aufgegriffen von westlichen Medien.
So mischte sich die Berlinfeierei mit allerlei alltäglichen Themen des Spätsozialismus, und im Westen war das im Grunde nicht viel anders.
West-Berlin 1987
West-Berlin war Mitte der 1980er-Jahre einer der merkwürdigsten Orte Europas. Seit fast 40 Jahren hatte die halbe Metropole nun schon überlebt, eingemauert und doch frei, eine Enklave in feindlichem Land. Durch das Berlinabkommen 1971 hatte sich ihre exponierte geografische Lage zwar inzwischen stabilisiert. Doch das warf im Grunde die Frage auf, wozu West-Berlin eigentlich noch da war. Nationale Identität, Wiedervereinigungsgebot und Hauptstadtambitionen waren für weite Teile der jüngeren Generation Begriffe aus einer anderen Welt. Und der seit 1981 regierende Senat unter Richard von Weizsäcker (CDU) musste reihenweise soziale, politische, wirtschaftliche und stadtplanerische Krisen eindämmen.
So war der 750. Geburtstag für West-Berlin zunächst ein schwieriges Datum. Es gab wenig Anlass für stolze Selbstinszenierungen. Die Teilung lehnte man ab. Die Altstadt lag hinter der Mauer. Zudem wurden im Abgeordnetenhaus nachdrücklich Vergleiche angestellt: „Wir wollen nicht, dass eine Feier per Dekret stattfindet, etwa wie jene, die jetzt mit militärischem Pomp in Ost-Berlin vorbereitet wird.“
Gelände des ehemaligen Reichssicherheitshauptamtes, später Topographie des Terrors, hinten links der Martin-Gropius-Bau, um 1988 (© picture-alliance / akg-images)
Gelände des ehemaligen Reichssicherheitshauptamtes, später Topographie des Terrors, hinten links der Martin-Gropius-Bau, um 1988 (© picture-alliance / akg-images)
In den frühen 1980er-Jahren hatte West-Berlin ohnehin diese leere und vernachlässigte Mitte der alten Reichshauptstadt wiederentdeckt.
In diesem „zentralen Bereich“, im Gropius-Bau, fand auch die große Jubiläumsausstellung „Berlin, Berlin“ statt, wo West-Berlin seine stolze Metropolengeschichte inszenierte. Die Besucher sollten die dynamische Geschichte der Großstadt sinnlich erfahren. Beispielhaft dafür stand der große Lichthof, der unter dem Titel „Die schnellste Stadt der Welt“ die verlorene Metropolis der Weimarer Republik vor Augen führte. Dazu gehörten auch die Schattenseiten der Berliner Geschichte, die an diesem Ort sowieso präsent waren. Der Haupteingang des Martin-Gropius-Baus wurde von der Berliner Mauer versperrt. Nebenan lag das Brachgelände des ehemaligen Reichssicherheitshauptamtes, Hauptsitz der SS. Auf Betreiben von Bürgerinitiativen wurde die Geschichte dieses „Gestapo-Geländes“ 1987 erstmals in einer Begleitausstellung aufgearbeitet – der Ursprung der heutigen Topografie des Terrors.
Wie Gorbatschow im Osten, so kamen die westlichen Alliierten zum Geburtstag nach West-Berlin: François Mitterrand, Queen Elizabeth II. und schließlich der US-Präsident Ronald Reagan, der zu diesem Anlass eine berühmt gewordene Rede am Brandenburger Tor hielt. Berlinpolitisch hing für kurze Zeit ein großer Coup in der Luft, mit gegenseitigen Festeinladungen zwischen dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen und dem Staats- und Parteichef Erich Honecker – doch die Westalliierten blockierten einen solchen Ausbruch aus dem Labyrinth der Statusfragen.
Helmut Kohl und Eberhard Diepgen bei der Enthüllung einer Stiftungstafel auf dem zukünftigen Gelände des Deutschen Historischen Museums, 1987 (© Bundesregierung, B 145 Bild-00177409)
Helmut Kohl und Eberhard Diepgen bei der Enthüllung einer Stiftungstafel auf dem zukünftigen Gelände des Deutschen Historischen Museums, 1987 (© Bundesregierung, B 145 Bild-00177409)
Mit solchen Bauprojekten, Ausstellungen und Staatsbesuchen hatte West-Berlin seine Jubiläumsfeier fast beisammen. Für die zentralen Festveranstaltungen allerdings musste das von Ulrich Eckhardt geleitete Organisationsbüro B750 noch Konzepte entwickeln. Die nationalsozialistische 700-Jahr-Feier hatte eine Reihe traditioneller Festformen diskreditiert. Dies galt an erster Stelle für den Festzug. Bereits in den ersten Ideenskizzen wurde festgehalten, dass „alle Peinlichkeiten mit historisierenden Aufzügen und einer dazu nötigen Massenregie“ zu vermeiden wären.
West-Berlin verwandte viel Energie darauf, neue Festformen zu erfinden. Das gelang zuallererst mit dem „Wasserkorso“, einem Festzug auf dem Wasser, zu dem historische Schiffe aus ganz (West-)Europa eingeladen wurden. So konnte man den gefürchteten Gleichschritt vermeiden und sich zugleich als weltoffen präsentieren. „Kein Jubiläum ohne Festzug!“, erklärten die Veranstalter. „Doch diesmal muss nicht marschiert werden, denn der Umzug findet auf dem Wasser statt, auf den Kanälen, den Havelseen und natürlich auf der Spree, die unbeeindruckt von Grenzen die Stadt wie vor 750 Jahren in ihrem alten Bett durchfließt.“
Ein weiterer Höhepunkt des Jubiläumsfestes wurden die multimedialen Inszenierungen an der Siegessäule. Die „SternStunden“ präsentierten eine Theater- und Musik-Revue zur Geschichte Berlins. Auch das war als demokratische Variante des Stadtfestes gedacht. Statt des Olympiastadions wählte West-Berlin einen öffentlichen Park, den Tiergarten, und organisierte eine Show nicht auf der Basis von Massenchoreografien, sondern mit Einzelauftritten und technischen Projektionen. Rückblickend erklärte der Kultursenator emphatisch, die „SternStunden“ hätten „die 700-Jahr-Feier aufgehoben“. West-Berlin habe bewiesen, „dass auch eine offene, demokratische Gesellschaft den großen Raum kulturell in Besitz nehmen kann und ihn nicht immer der Erinnerung an gleichgeschaltete Kolonnen einer unseligen Vergangenheit überantworten muß“. Die Siegessäule sei in eine „Friedenssäule“ umgewandelt worden.
Dennoch gab es auch in West-Berlin viel Kritik und am Ende auch Gewalt. Im Laufe des Feierjahres wurde der nicht ablassende Strom an Festveranstaltungen, Reden, Empfänge und Ausstellungen von wachsendem Spott und Zynismus begleitet, zumal es in Kreuzberg am 1. Mai und im Juni schwere Krawalle gegeben hatte, die durchaus von den dauernden politischen Selbstdarstellungen beflügelt wurden. Parolen wie „750 Jahre – es reicht“ zierten Wände und Fassaden. Im Oktober nahmen Kritiker mit einer satirisch-karnevalistischen B750-Antiparade den Kurfürstendamm in Besitz.
So überwog im Herbst die Ernüchterung: Das Jubiläum war ein wenig zu groß geraten und hatte nicht, wie erhofft, zu klaren Fortschritten im innerstädtischen Verhältnis geführt. Oder doch...?
Verflechtungen
So sorgfältig die Jubiläumsfeiern auch geplant und vorbereitet waren, gab es 1987 doch viele unerwartete und spontane Ereignisse. Als besonders unberechenbar erwies sich der direkte Austausch zwischen Ost- und West-Berlin. Immer wieder kam es auf den verschiedensten Kommunikationswegen zu solchen Interaktionen. Beobachter sprachen diesbezüglich oft von „Klopfzeichen an der Mauer“. Natürlich ging die Initiative dazu häufiger von West-Berlin aus, das zum Geburtstag ja stets das Gemeinsame betonen wollte. Aber auch aus Ost-Berlin kamen Signale, vom Staat, etwa beim erwähnten Einladungspoker, wie auch von der Bevölkerung.
Ost-Berliner beim Konzert der Gruppe Genesis am 8. Juni 1987 (© picture alliance/AP Images, Foto: Elke Bruhn-Hoffman)
Ost-Berliner beim Konzert der Gruppe Genesis am 8. Juni 1987 (© picture alliance/AP Images, Foto: Elke Bruhn-Hoffman)
Paradigmatisch dafür stehen die bereits erwähnten Rockkonzerte am Reichstag samt „Mauerschlacht“ in Ost-Berlin. Konzerte an der Mauer hatte es öfter gegeben, und die West-Berliner Veranstalter sorgten ganz bewusst für die Beschallung von Ost-Berlin.
Das sprach sich herum und am nächsten Tag war die Ost-Berliner Fanschar auf über 2000 Menschen angewachsen. Der Sicherheitsapparat mischte nun Zivilbeamte unter die Fans, um die „Rädelsführer“ ausfindig zu machen und die Menge zu zügeln. So richtig gelang dies nicht. Beim Auftritt der Eurythmics kam es zu schweren Auseinandersetzungen. Die Rockfans riefen „Wir wollen Gorbatschow!“ und dann sogar „Die Mauer muss weg!“.
Am folgenden Montagabend fanden sich noch einmal deutlich mehr Menschen ein. Das Brandenburger Tor war jetzt allerdings im Osten so weiträumig abgesperrt, dass das Konzert der Gruppe Genesis hier kaum noch zu hören war. Nun eskalierte die Situation. Die Jugendlichen riefen „Bullen raus!“, „Die Mauer muss weg!“, aber auch „Kreuzberg ist überall!“ und „Kreuzberger Nächte sind lang“ – eine Anspielung auf die Situation im anderen Stadtteil, wo es im Mai, wie man sehr wohl wusste, schwere Krawalle gegeben hatte. Nun flogen Flaschen und Gummiknüppel, die Staatsorgane schritten mit brutaler Gewalt ein und nahmen etwa 120 Menschen fest. Eine solche Straßenschlacht zwischen Volkspolizei und Jugendlichen war in der DDR völlig ungewöhnlich. Die Westmedien berichteten ausführlich, nicht zuletzt, weil sich mehrere Westreporter, begierig auf diese Story, im Ost-Berliner Publikum befunden hatten und ebenfalls schikaniert worden waren. West-Berliner Fernsehen war fast live dabei und so bekam Deutschland zur 750-Jahr-Feier auch das hässliche Gesicht Ost-Berlins zu sehen.
Ronald Reagan während seiner Rede am Brandenburger Tor („Mr. Gorbachev, tear down this wall!") am 12. Juni 1987 (© Bundesregierung, B 145 Bild-00014321, Foto: Klaus Lehnartz)
Ronald Reagan während seiner Rede am Brandenburger Tor („Mr. Gorbachev, tear down this wall!") am 12. Juni 1987 (© Bundesregierung, B 145 Bild-00014321, Foto: Klaus Lehnartz)
Die Ost-Berliner „Mauerschlacht“ zum West-Berliner Rockkonzert war noch in aller Munde, als einige Tage später Ronald Reagan anreiste.
Reagans Besuch rief in West-Berlin neben Zustimmung auch viel Kritik hervor, denn der amerikanische Präsident galt als Kalter Krieger. So konnte es dazu kommen, dass Demonstranten beiderseits der Mauer die herrschende Ordnung mit „Gorbi, Gorbi“-Rufen herausforderten – auch wenn ihre Situation in Ost- und West-Berlin unterschiedlicher kaum sein konnte. Die Abfolge von Demonstration, Konfrontation und Eskalation entwickelte sich beim Anti-Reagan-Protest am 11. und 12. Juni in West-Berlin nach bekanntem Muster. Im Übrigen gab es auch hier den Echoeffekt: Demonstranten, die am 11. Juni stundenlang vor dem Kaufhaus des Westens eingekesselt waren, riefen in Richtung der Polizeikette: „Die Mauer muss weg!“. So verflochten sich gar die Protestkulturen über die Mauer hinweg.
Nach den aufgeblähten Programmen und scheinbar endlosen Berlin-Veranstaltungen gab es Ende 1987 im Grunde überall, in Ost- wie West, Übermüdung und Skepsis – man hatte die ewigen Selbstfeiern satt. Mit einigem Unbehagen blickte West-Berlin jetzt auf 1988, denn dann sollte die Insel zu allem Überfluss auch noch Europas Kulturhauptstadt werden (im Volksmund: „751-Jahr-Feier“). Versuchte die Inselstadt ihre Sinnkrise mit großen Festivals zu überdecken? So kommentierte es etwa das Berliner Volksblatt, und schaute Ende 1987 tapfer in die Zukunft: 1987 Jubiläum, 1988 Kulturhauptstadt, und „für 1989 wird noch ein Anlaß zu feiern gesucht.“
Zitierweise: Krijn Thijs, Klopfzeichen und Feierkonkurrenz. Das Stadtjubiläum von 1987 in Ost- und West-Berlin, in: Deutschland Archiv, 9.10.2017, Link: www.bpb.de/257400