Als "Wendekinder" werden die letzten noch teilweise in der DDR sozialisierten Geburtenjahrgänge bezeichnet (etwa 1973 bis 1984). Sie wuchsen seit 1990 unter dem Einfluss des wiedervereinigten Deutschlands auf und durften frühestens seit Mitte der 1990er Jahre wählen. Durch diese ambivalenten Einflüsse sind sie in ihren Einstellungen und ihrem Verhalten, mit Blick auf das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten, ein interessantes Untersuchungsobjekt für Fragen der Vergangenheitsaufarbeitung, der Ausprägung von Verhaltensweisen und der Entwicklung von politischen Präferenzen. Dabei ist direkt festzustellen, dass die Gruppe in Teilen durch Selbst- aber auch Fremdzuschreibungen als Generation wahrgenommen wird.
Dieser Beitrag geht der Frage nach, inwieweit Wendekinder inzwischen schon als Abgeordnete, also Funktionselite, in den ostdeutschen Landesparlamenten zu finden sind und wie sich ihre Zahl bei den Wahlen seit der Wiedervereinigung entwickelt hat. Dabei werden einige Besonderheiten der Volksvertretungen in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen herausgestellt, und es wird auf das Konzept der Generation als Ordnungseinheit in der Wissenschaft eingegangen. Letztlich steht die Frage im Raum, inwieweit die Persönlichkeitsentwicklung der Wendekinder aus der doppelten Sozialisation heraus ein Mehrwert für Politik und Gesellschaft darstellen kann.
Mauerfall, Wahlen und Abgeordnetengenerationen
Mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 und dem „Beitritt der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes zu dessen Geltungsbereich“ wurde 1990 ein beispielloser Eliten-, Institutionen- und Ressourcentransfer angestoßen, der bis in die Gegenwart die Gemüter beiderseits der ehemaligen Grenze bewegt. Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, die am 1. Juli 1990 in Kraft trat, war hierbei wahrscheinlich die auffälligste Veränderung und unter anderem eine direkte Reaktion der Regierung Kohl auf die "Abstimmung mit den Füßen" durch die Ostdeutschen und deren Forderung: "Kommt die DM, bleiben wir, kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr!"
Für viele Einwohnerinnen und Einwohner der DDR war mit dem Prozess der Wiedervereinigung aber auch eine Migrationserfahrung verbunden: Ohne dass sie sich räumlich-geografisch bewegten, materialisierte sich um sie herum ein neuer Staat.
Seitdem ist über ein Vierteljahrhundert vergangen, und die ostdeutschen Landesparlamente haben inzwischen alle ihre sechste Legislaturperiode beendet. Von Anfang an waren dabei in der DDR sozialisierte Abgeordnete in der deutlichen Mehrheit. Etwas anders sieht es aus, wenn man die Regierungen betrachtet. Hier wurden, im Zuge des Elitentransfers, die administrative Seite, also Staatssekretäre, Abteilungs- und Referatsleiter sowie die Ministerriegen zu einem nennenswerten Teil durch Personal aus den westlichen Bundesländern gestellt.
Es stellt sich, vor dem Hintergrund von in der Bundesrepublik vorhandenen, unterschiedlichen regionalen politischen Kulturen, die Frage, inwieweit sich die ostdeutschen Landesparlamente eine spezifische Parlamentarierschaft erhalten haben, beziehungsweise welche Generation von in der DDR sozialisierten Personen gegenwärtig dominant vertreten ist. Für diese Untersuchung war die These forschungsleitend, dass gerade die sogenannten Wendekinder – etwa von Mitte der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre in der ehemaligen DDR Geborene – in diese Rolle hineindrängen, dabei durch ihre Biografie möglicherweise ein einmaliges Verhaltensweisen-Portfolio mitbringen und sich gleichzeitig ihre Eigenheiten wie regionale Spezifika erhalten.
Generationen der DDR und ihre Rolle im wiedervereinigten Deutschland
Die Einteilung von Bevölkerung nach Jahrgängen in bestimmte Generationen ist eine Vereinfachung der Wirklichkeit. Die Ordnungseinheit "Generation" wird bei der Betrachtung von Geschichte nicht nur in Deutschland häufig herangezogen, um Zäsuren unter anderem im 20. Jahrhundert zu analysieren.
Exemplarisch dafür sind die Generationen der ehemaligen DDR, von denen sich, je nach Zählung, vier bis fünf ausmachen lassen:
Aufbau-Generation (1925/30–1935/40)
funktionierende Generation (1935–1948)
integrierte Generation (1945/48–1959/61)
distanzierte/entgrenzte Generation (ca. 1960–1972/75)
Generation der Unberatenen/Wendekinder (1973/75–1984/85)
Unabhängig von der Bezeichnung ist die distanzierte beziehungsweise entgrenzte Generation diejenige, welche die Umwälzungen 1989 angeschoben hat.
Welche Rolle die Bevölkerung der DDR im wiedervereinigten Deutschland eingenommen hat, ist eine viel diskutierte Frage. Denn aus dem Enthusiasmus der Stasizentralenbesetzer, Bürgerbewegten und Demonstrierenden wäre eine sehr aktive Gestaltung des gemeinsamen Deutschlands ableitbar gewesen. Diese Dynamik wurde durch die Art und die Folgen des Einigungsprozesses jedoch ausgebremst, wenngleich dieser im Endergebnis als Erfolg zu bezeichnen ist. So zeigen die Berichte zum Stand der Einheit bei allen Defiziten auch das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten.
Diese Zeitenwende, mit ihren Brüchen aber auch Kontinuitäten, ist beispielhaft in den biografischen Angaben der Datenhandbücher der Landtage nachzuvollziehen, nicht nur für die Abgeordneten der SED-Nachfolgepartei, sondern für praktisch alle Parlamentarier: Parteikarriere und Landtagsmandate als opportune – vielleicht alternativlose – Neuausrichtung des eigenen Lebens.
Im Zuge des Endes der sechsten Legislaturperiode in den ostdeutschen Ländern, zwischen 2014 und 2016, wird ein altersbedingter Generationenwechsel wahrscheinlicher. Dabei kommt die als Wendekinder bezeichnete Generation sukzessive in Verantwortung, wird Teil der Funktionselite. Für die Landtage und die politische Kultur kann damit ein neues Kapitel im Umgang mit der Vergangenheit beginnen.
Die Wendekinder als letzte DDR-Generation
Die letzte DDR-Generation weist in der Forschung die Besonderheit auf, dass sie für die Geschichte der DDR und damit ebenfalls deren Erforschung keine Rolle mehr spielt. Für die Zeit um 1990 wird sie zumeist nicht im Einzelnen betrachtet. Doch hat gerade sie die Sozialisierung in zwei politischen Systemen vorzuweisen. Erst seit 2013 ist sie Objekt einer gezielten Erforschung ihrer Geschichte, Verhaltensweisen, dominanten Typen und Vergemeinschaftungsformen.
Das erste Ergebnis ist die Einsicht in ihre Diversität. Darüber hinaus zeichnet sich ein gesellschaftlicher Aktivitätsgrad ab, der sie von der Generation ihrer Eltern unterscheidet. Damit können sie eine triangulierende Position, eine Vermittlerrolle zwischen der „alten“ Bundesrepublik und den älteren Ostdeutschen einnehmen.
Konkret gilt es, für die Generation der Wendekinder zu prüfen:
Welche Rolle spielten die Eltern im alten System?
Wie hat sich die doppelte Sozialisation auf ihre Persönlichkeitsentwicklung ausgewirkt?
Was war die Motivation der heutigen Abgeordneten, sich politisch zu engagieren?
Wie verläuft ihre Arbeit in den Parlamenten und wie werden sie wahrgenommen?
Diese Fragen sind in einem qualitativen Forschungsdesign für eine kleine Fallgruppe bereits 2014 erhoben worden.
Diejenigen, die den Bruch sehr bewusst wahrnehmen, weil sie, durch die veränderte Rolle von – unter anderem – der Staatsbürgerkunde-Lehrerinnen und -Lehrern, darauf gestoßen werden und dann in der Auseinandersetzung mit den Eltern und einem Ereignis, welches die Richtung im politischen Spektrum befördert, eine Politisierung erleben. Auseinandersetzung mit den Eltern ist dabei nicht konfliktiv gemeint und läuft eher entlang der Line: "Kind, du kannst dich engagieren, den Weg über Parteien teilen wir nicht, aber Hauptsache du machst etwas." Die zweite Gruppe war zu jung, um den Systemwechsel reflexiv und selbstständig im Alltag zu erleben. Das heißt nicht, dass es keine Veränderungen gab. Vielmehr wurden diese eher hingenommen und über die Alltagsentscheidungen der Eltern erfahren. Hier ermöglichen die neue Offenheit – die jetzt vorhandenen demokratischen Beteiligungs- und Entscheidungsmöglichkeiten – eine Aktivität, die im alten System unterdrückt oder zumindest eingehegt worden wäre. Die Wende ist also als Katalysator für eine natürliche Politisierung zu interpretieren.
Insgesamt zeichnen sich zwei Haupteinflüsse für alle Abgeordneten ab: Erstens die eigene Familie und zweitens die durch diese gefilterten politischen Ereignisse. Letztere spielten bei den Älteren eine größere Rolle. Bei ihnen wird häufig die "alte" Systemerfahrung auch als Motivator für das eigene politische Engagement benannt.
Wendekinder in den ostdeutschen Landtagen: eine Bestandsaufnahme
Von 1990 bis zu den Landtagswahlen im Jahr 2014 (siehe Tabelle)