Im Mai 1960 eröffnete die Staatsanwaltschaft Hamburg ein Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Mitglieder des Bremer Sondergerichts. Dieses hatte zwischen 1940 und 1945 in 562 Verfahren gegen 918 Angeklagte verhandelt und 49 Todesurteile gefällt. Anklagepunkte waren unter anderem als "Heimtücke" bezeichnete "staatsfeindliche" Äußerungen, verbotenes Abhören von "Feindsendern", Schwarzschlachten und andere "Kriegswirtschaftsdelikte" sowie "unter Ausnutzung der Kriegsumstände" begangene Delikte. Auf den Vorwurf, das Recht vorsätzlich zuungunsten von Angeklagten gebeugt zu haben, entgegnete der frühere stellvertretende Vorsitzende des Gerichts, Dr. Emil Warneken, empört: "Das Sondergericht Bremen war überhaupt, wie auch in Hamburg – und zwar auch jetzt noch – bekannt sein muss, in jenen Jahren durch seine angeblich ‚auffallend milden’ Urteile in allen einschlägigen Kreisen bekannt." In keinem einzigen Fall, so Warneken, sei das Sondergericht nach 1945 wegen ungerechtfertigter Urteile gerügt worden.
Ein neuer Fokus auf die nationalsozialistische "Volksgemeinschaft"
Die Frage nach dem Beitrag der "einfachen Deutschen" zur Stabilität und Radikalisierung des nationalsozialistischen Regimes und ihrer individuellen Verantwortung für die NS-Verbrechen war lange Zeit ein Tabu – trotz der mühevollen Versuche von Juristen wie Fritz Bauer, Sozialwissenschaftlern wie Theodor Adorno sowie Margarete und Alexander Mitscherlich und Historikern wie Raul Hilberg, auf diesem Gebiet wichtige Aufklärungsarbeit zu leisten und immer wieder den Finger in die Wunde zu legen. Mit dem Ableben der Zeitzeugen, insbesondere der Täter und vielen Mitläufern des NS-Regimes, widerlegt seit etwa zwei Jahrzehnten eine neue Generation an Historikern, Soziologen und Psychologen die, bis in die 1980er Jahre hinein von der Apologie der Zeitgenossen geprägten, gängigen Meinungen und Thesen über den Alltag in der NS-Diktatur.
Die NS-Justiz zwischen Gleichschaltung und vorauseilendem Gehorsam
Wer dazu gehören durfte und wer nicht, bestimmten zwischen 1933 und 1945 in hohem Maße Juristen. Sie prägten dabei das öffentliche Bild der "Volksgemeinschaft", indem sie in Strafprozessen die Grenzen der Gemeinschaft immer wieder neu verhandelten. Gerichtsverfahren dienten nun nicht mehr der Wahrheitsfindung, sondern der Durchsetzung politischer Macht. 1935 wurde das Strafrecht zu einem wirksamen Instrument zur Ausschaltung politischer Gegner umgebaut. Mit dem Kriegsstrafrecht gerieten seit 1939 auch viele einstige ehrbare "Volksgenossen" selbst für Bagatelldelikte in die Mühlen der Justiz.
Viel Zwang musste die nationalsozialistische Regierung nicht ausüben, um die Justiz politisch auf Linie zu bringen: Zwischen der konservativen Einstellung vieler Juristen und der NS-Weltanschauung gab es erhebliche Schnittmengen. "Volksgemeinschaft" verhieß für sie vor allem die Rückkehr zu Recht und Ordnung nach einer in den 1920er Jahren als krisenhaft erlebten Zeit. Dass sich die Richter und Staatsanwälte seit 1933 bemühten, schon bei Bagatelldelikten abschreckende Prozesse zu führen, zeigt, wie ernst man den Kampf gegen als "Volksfeinde" stigmatisierte soziale Außenseiter nahm. Am Ende von zwölf Jahren nationalsozialistischer Diktatur standen zahlreiche Unrechtsurteile, insbesondere zehntausende politische Todesurteile.
Nach 1945 rechtfertigten sich die meisten Juristen, nur geltendes Recht angewandt und die Gesetze geachtet zu haben. Willkür und Terrorurteile schrieben sie dem Wirken von Polizei, Gestapo und SS zu, die die Justiz in vielen Bereichen entmachtet hätten. Zudem hätten staatliche Stellen sowie vorgelagerte Justizbehörden immer wieder harte Urteile gefordert. Vor allem aber habe der Krieg ein unnachgiebiges Vorgehen nötig gemacht. Diese Argumentation hatte Erfolg: Nach Kriegsende sind fast 90 Prozent aller vormals der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) oder ihrer Gliederungen angehörigen Richter und Staatsanwälte wieder in den Justizdienst zurückgekehrt. Die Bremer Justiz war dabei keine Ausnahme.
Die Entnazifizierung der Bremer Juristen
Mit der Besetzung Bremens durch amerikanische und britische Truppen am 27. April 1945
Auch wenn sich die Besatzungsmächte bemühten, nationalsozialistisches Gedankengut aus der Judikative zu verbannen, so gelang dies mitunter nur unzureichend. Am schwersten wog die Personalfrage. Wollten die Alliierten alle früheren NSDAP-Mitglieder aus ihren Ämtern entfernen, so hatte dies ernste Konsequenzen für den reibungslosen Ablauf der Strafverfolgung. Mit den wenigen Neuzulassungen von "unbelasteten" Juristen war das Problem des Personalmangels kaum zu lösen, weshalb man recht schnell an die Grenzen der Praktizierbarkeit einer kompletten Säuberung der Justiz stieß. Entlastung versprach nur eine maßvolle Wiedereinstellung der altgedienten Richter und Staatsanwälte mit Parteibuch – und genau diese sollte das Entnazifizierungsverfahren steuern. Ein Großteil der entlassenen Juristen konnte sich nun gute Hoffnungen auf eine baldige Wiedereinstellung machen.
Seit Sommer 1945 setzten sich der neue Bremer Landgerichtspräsident Diedrich Lahusen
Am 27. Juli 1945 reichte Lahusen seine Personalvorschläge bei der Militärregierung ein. Mögliche Kritik vorwegnehmend, argumentierte er: "Alle diese zur Wiedereinstellung vorgeschlagenen Herren sind seit Jahren, zum größten Teil seit Jahrzehnten in der bremischen Rechtspflege tätig gewesen. […] Von allen kann gesagt werden, dass sie ihr Amt stets durchaus unparteiisch, streng sachlich und objektiv verwaltet haben und sich in ihrer einwandfreien Berufsausübung niemals durch politische oder sonstige Instanzen in unzulässiger Weise haben beeinflussen lassen." Dass die Mehrheit von ihnen Mitglieder der NSDAP gewesen waren, schrieb Lahusen dem früheren Landgerichtspräsidenten zu, der sie zum Parteibeitritt gedrängt habe. "Die oben aufgeführten Persönlichkeiten", so war Lahusen überzeugt, "[bieten] jede Gewähr dafür […], dass sie bei Wiederzulassung ihr wichtiges Amt in der stets von ihnen betätigten hohen Berufsauffassung und mit dem gleichen allgemein anerkannten Erfolge führen werden wie bisher."
Tatsächlich war die Wiedereinstellung des "belasteten" Justizpersonals nur eine Frage der Zeit, mitunter kam es lediglich darauf an, welche Strategie die drei Westmächte in ihrer Besatzungszone mit der Entnazifizierung betrieben. Mit der sogenannten "Huckepack-Regel" – eine 1946 offiziell in der britischen Besatzungszone eingeführte 50-Prozent-Regelung, nach der jeder "unbelastete" Jurist einen "belasteten" zur Wiedereinstellung ins Amt empfehlen und den Kollegen gegebenenfalls kontrollieren konnte – kehrte etwa die Hälfte der ehemaligen NSDAP-Mitglieder wieder als Richter oder Staatsanwälte in den Justizdienst zurück.
Mit dem im Mai 1947 in Bremen in Kraft getretenen "Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus" ging die Entnazifizierung schließlich in die Verantwortung der bremischen Behörden, namentlich einer neu gebildeten "Abteilung für politische Befreiung" bei der amerikanischen Militärregierung, über.
Ausnahme von der Regel: Die Nichtwiederzulassung von Dr. Emil Warneken
Gerade unter den Juristen war die Ansicht weit verbreitet, dass ihr Berufsstand während der NS-Zeit unpolitisch gewesen sei und sie nun als "unverzichtbare Experten" zum Wiederaufbau benötigt würden. Ihnen kam dabei zugute, dass sich mit zunehmender zeitlicher Entfernung vom Kriegsende, durch die personelle und bürokratische Überlastung der Spruchkammern und mit dem wachsenden Unwillen innerhalb der Bevölkerung gegenüber einer Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit die Entnazifizierung mehr und mehr zu einem formellen Entlastungsverfahren ehemaliger Parteigenossen und Nationalsozialisten entwickelte. Der Verdrängung der Vergangenheit folgte die Reintegration der "kleinen" Parteigenossen und der "Mitläufer" in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft. Viele von ihnen machten auch nach 1945 weiter Karriere.
Doch es gab auch Ausnahmen: Im Juli 1946 entließ die amerikanische Militärregierung Richter Emil Warneken aus dem Amt mit der Begründung, dass ein stellvertretender Sondergerichtsvorsitzender nicht tragbar sei für den demokratischen Wiederaufbau der Justiz. Warneken war damit einer der wenigen Mitglieder des Bremer Sondergerichts, die nach 1945 nicht wieder zum Richterdienst zugelassen wurden. Zwar hatten sich Justizsenator Spitta und Landgerichtspräsident Lahusen wiederholt bei den Amerikanern um Warnekens Wiedereinsetzung bemüht. Doch diese ließen sich nicht überzeugen und argumentierten, dass Warneken von der NS-Ideologie überzeugt und damit eine Stütze des Regimes gewesen sei. Einer Wiedereinstellung könne daher nicht entsprochen werden.
Für Warneken war es bitter, sehen zu müssen, dass viele seiner ehemaligen Kollegen nach ihrer Entlassung wieder recht schnell zurück an die Arbeit gehen konnten. "Alle meine Kollegen", so schrieb er 1956, "mit alleiniger Ausnahme von uns Sonderrichtern […], waren im Lauf der Zeit wiedereingestellt worden […]. Ich habe das Gefühl der Verbitterung über die mir zu Teil gewordene offensichtlich ungerechte und diffamierende Behandlung lange nicht überwinden können."
Überleben des NS-Gedankenguts nach 1945
Warneken selbst war noch lange nach Kriegsende überzeugt von der Idee der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft": "Die Grundgedanken des Nationalsozialismus sind so absolut richtig", vertraute er im Spätsommer 1945 seinem Tagebuch an, "dass sie sich allen augenblicklichen Widerständen zum Trotz in der Zukunft durchsetzen werden – befreit von all dem, was ihrer Verwirklichung jetzt hindernd im Wege gestanden hat. Und sie werden nicht nur Deutschland beherrschen, sondern auch andere Länder, vielleicht die ganze Welt, werden diese Gedanken übernehmen müssen, eben weil sie richtig und die einzige Grundlage sind, auf der ein Volk wirklich in sozialem Frieden leben und fortkommen kann." Insbesondere seien es die sozialpolitischen Errungenschaften und gemeinschaftsstiftenden Maßnahmen des NS-Regimes gewesen, die für ihn (immer noch) die ideale Lösung sowohl für die damaligen als auch derzeitigen sozialen und politischen Probleme darstellten. Auch sah Warneken in Hitler – dessen Eroberungs- und Vernichtungspolitik zum Trotz – immer noch den Heilsbringer, der "das deutsche Volk […] festzuschweißen und zu einigen" verstanden habe.
Warneken hatte offenbar an den propagierten "Endsieg" geglaubt. Sonst hätte er seine Tätigkeit am Sondergericht nicht mit solch Akribie und hoher Leistung bis zum Schluss verfolgt und für sein Vaterland – getreu den alten preußischen Tugenden des Gehorsams und der Pflichterfüllung – das Letzte gegeben. Die Niederlage schrieb er dem Wirken "innerer Feinde" zu, die er als Richter mit voller moralischer Überzeugung bekämpft hätte, letztlich aber wohl nicht hart genug gegen "Gemeinschaftsfremde" und "Volksschädlinge" vorgegangen wäre. Allerdings gab er der Führungsetage der NSDAP eine gewisse Mitschuld am entgangenen Sieg. Sie hätte in ihrem Größenwahn unsinnige Befehle erteilt und eine wenig feinfühlige Taktik verfolgt.
In seinen (unveröffentlichten) Memoiren distanzierte sich der ehemalige Richter deutlich von Holocaust und Vernichtungskrieg. Diese waren in seinen Augen das alleinige Werk Hitlers. Das deutsche Volk, so schrieb er, habe von all dem nichts gewusst, sei von der NS-Regierung betrogen worden und müsse nun für die Verbrechen einer Minderheit ungerechtfertigt geradestehen.
Schluss
Die Entnazifizierung als Versuch der Alliierten, die deutsche Nachkriegsgesellschaft zur strafrechtlichen und moralischen Auseinandersetzung mit ihrer jüngsten Vergangenheit zu zwingen, ist zum größten Teil gescheitert. Das Gros der Entnazifizierten kehrte wieder in wichtige gesellschaftliche Positionen zurück und richtete sich in den neuen politischen Verhältnissen ein. Mit ihnen kam es zu einer Restauration langlebiger personeller Strukturen. Insbesondere, wenn es galt, den "alten Kameraden" zu neuen Ämtern zu verhelfen, trugen die Netzwerke von damals auch nach der angeblichen "Stunde Null". Zugleich hatte das Ideal der "Volksgemeinschaft" für viele Zeitgenossen nichts an seiner Verheißungskraft eingebüßt. Vor dem Hintergrund der totalen Niederlage wurden die Schattenseiten ausgeblendet und sich nur noch an die schönen Seiten des "Dritten Reichs" erinnert. Sie waren zugleich Symptom einer Abwehrhaltung gegen die alliierte Entnazifizierungspraxis und gegen die Scham angesichts des Ausmaßes der NS-Verbrechen. Der aus dieser Haltung heraus entstandene Mythos vom deutschen Volk als Opfer half als Entlastungsargument für all jene Dinge, die man vor 1945 mit gutem Gewissen befürwortet hatte, für viele Taten, die zum angeblichen Wohl der Gemeinschaft ausgeführt wurden. Die allermeisten waren daher weiterhin überzeugt, das Richtige getan zu haben – auch im moralischen Sinn. Kein einziger der Bremer Richter, Staats- oder Rechtsanwälte ist nach 1945 vor einem ordentlichen Gericht wegen ungerechtfertigt hoher Strafurteile während der NS-Zeit angeklagt und verurteilt worden. So wurde das Ermittlungsverfahren, das die Hamburger Staatsanwaltschaft 1960 gegen Warneken und seine Kollegen angestrengt hatte, nach wenigen Monaten wieder eingestellt – aus Mangel an Beweisen.
Zitierweise: Christine Schoenmakers, Die Rückkehr der "Ehemaligen": Personelle und ideologische Kontinuitäten in der Bremer Justiz nach 1945, in: Deutschland Archiv, 1.7.2016, Link: www.bpb.de/227352