Eine Zeitgeschichte ohne Zorn und Eifer?
Der Titel des Vortrags greift eine Frage auf, über die seit der unerwarteten Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten vor fünfundzwanzig Jahren ebenso intensiv wie kontrovers diskutiert worden ist. In diesen Debatten hat die Zeitgeschichte als wissenschaftliche Teildisziplin und als vielfältig von Politik und Gesellschaft in Anspruch genommene Deutungsinstanz in der Bundesrepublik einen bis dahin nicht vorstellbaren Aufschwung erfahren. Ihre besondere Nähe zur jüngsten Vergangenheit rückte sie während und nach dem Vereinigungsprozess in das Zentrum des öffentlichen Interesses. Und ihre Deutschlandexperten wurden in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte auch mit den parteipolitischen Kontroversen bei der Anatomie der SED-Diktatur konfrontiert.
In diesem Kontext hat sich die Zeitgeschichte auch als "Streitgeschichte" profiliert. Denn der klassische Ratschlag Tacitus’, Historiker müssten ihren Beruf "sine ira et studio" – also ohne Zorn und Eifer – ausüben, war in den aufgeregten Zeiten des angestrebten Zusammenwachsens der beiden deutschen Teilstaaten nur schwer zu verwirklichen, wenn man ihn als ein Plädoyer für Wertfreiheit ohne Wertbindung versteht.
Die DDR erforschen – abgeschlossen?
Während der letzten zweieinhalb Jahrzehnte erweiterte sich der Forschungshorizont der Zeitgeschichte. Das Fach öffnete sich für die Sozial- und Gesellschaftsgeschichte und erschloss sich neue Untersuchungsfelder jenseits seiner überkommenen klassischen Kerngebiete im Bereich der politikorientierten Themen. Auch diese Entwicklung des Faches ist zu bedenken, wenn man die herausgehobene Rolle der Zeitgeschichte bei der Interpretation der Vorgeschichte der deutschen Vereinigung beleuchtet.
Bis zum Mauerfall von 1989 befand sich die vergleichende historische Deutschlandforschung, die auch die DDR im Auge behielt, in der Bundesrepublik in einer universitären Randstellung. Eine Ausnahme war vor allem der an der Universität Mannheim angesiedelte und von Hermann Weber geleitete Arbeitsbereich zur DDR-Geschichte. Weber und seine Mitarbeiter analysierten von hier aus mit den Methoden der teilnehmenden Beobachtung die Entwicklungsetappen der DDR so kontinuierlich und so systematisch, wie es unter den gegebenen Umständen überhaupt möglich war.
Mit seinen zahlreichen Publikationen erwarb sich Weber nicht nur das Prädikat, der Doyen der DDR-Forschung zu sein. Er war auch derjenige Zeithistoriker, der früher als die meisten seiner Fachkollegen ein feines Gespür für den fragilen Zustand der DDR entwickelte. Bereits vier Jahre vor dem Kollaps der SED-Diktatur formulierte er die Prognose, das "Spannungsverhältnis von Stabilität und Instabilität", das von Anfang an die Entwicklung der DDR geprägt habe, werde auch weiterhin ihre Existenz charakterisieren.
Zehn Jahre nach der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten veröffentlichte Peter Graf Kielmansegg, der – wie Hermann Weber – auch als historisch profilierter Politikwissenschaftler an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Mannheimer Universität lehrte, eine Gesamtdarstellung der Geschichte des geteilten Deutschland. In ihr zog er folgendes Fazit: Seit dem plötzlichen Ende der DDR sei klar, dass wir es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts "mit zwei ganz verschiedenen Geschichten" in Deutschland zu tun hätten, "einer mit Zukunft und einer ohne Zukunft". An der Geschichte der DDR interessiere uns deshalb vor allem, „warum sie keine Zukunft hatte".
Mehr als bloßes Scheitern - Kontinuitäten
Aus der zeithistorischen Forschung ließen sich fortan folgende Fragen nicht mehr ausklammern: Welchen Platz hat die DDR während ihrer vierzigjährigen Existenz in der deutschen Geschichte eingenommen? An welche identitätsstiftenden Traditionen wollte und konnte sie anknüpfen? Welches sperrige historische Erbe musste sie dabei nolens volens auch bedenken? Warum wurde die DDR in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zur besseren deutschen Alternative, wie ihre Gründer es sich erhofft hatten? Weshalb konnte die DDR in der Systemkonkurrenz mit der Bundesrepublik deren vielfältigen Vorsprung an Modernität nicht aufholen oder diese gar überholen, wie die Parteistrategen der SED postuliert hatten?
Diese Fragen standen nach dem Kollaps der DDR zunächst nicht im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Es konzentrierte sich vor allem darauf, das Scheitern der Deutschen Demokratischen Republik als einen von Anfang an geradezu naturnotwendig abgelaufenen Zerfallsprozess nachzuzeichnen, obwohl die DDR ein Alter von vierzig Jahren erreicht hatte und damit fast so alt wie das 1871 in Versailles gegründete Kaiserreich geworden war. Dennoch fand das von Stefan Heym bereits im März 1990 formulierte Fazit, von der DDR werde bald nichts anderes übrig bleiben "als eine Fußnote in der Weltgeschichte“
Am schärfsten spitzte der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler sein Urteil über die DDR zu, als er in der Einleitung zum fünften und letzten Band seiner deutschen Gesellschaftsgeschichte 2008 postulierte: Er wolle das Intermezzo der ostdeutschen Satrapie, die "in letzter Instanz auf den russischen Bajonetten beruhte", nicht durch eine "ausführliche Analyse" aufwerten. Dies könne man "der florierenden DDR-Forschung" getrost überlassen. Sie solle "das Gelände eines untergegangenen, von seiner eigenen Bevölkerung aufgelösten Staatswesens mit all seinen Irrwegen" genauer erkunden.
Wenn man jedoch die zahlreichen und thematisch vielfältigen Untersuchungen in das Blickfeld rückt, die der DDR in den zweieinhalb Jahrzehnten seit ihrem Ende gewidmet worden sind, dann kann man nur konstatieren, dass die Zeithistoriker Wehlers ebenso voreingenommenen wie historiografisch in die Irre führenden Ratschlag nicht gefolgt sind. Heute muss man nämlich von einer beispiellosen Hochkonjunktur der DDR-Forschung und ihrer schrittweisen Erweiterung zur vergleichenden Deutschlandforschung sprechen.
Im Falle der DDR wurde diese Hochkonjunktur auch dadurch stark begünstigt, weil keine Archivsperren mehr den direkten Zugang in die bis dahin sorgsam abgeschirmten Arkanbereiche der untergegangenen Diktatur versperrten. Mittlerweile spiegelt sich der historiografische Boom der DDR-Forschung in fünfstelligen Publikationsstatistiken ebenso wider wie in den kontinuierlichen und viel beachteten Aktivitäten von auf die DDR-Geschichte zentrierten Forschungsinstituten. Zu ihnen, die in gewisser Weise alle das Erbe des von Hermann Weber vor vierzig Jahren an der Universität Mannheim aufgebauten Arbeitsbereiches zur DDR-Forschung angetreten haben, zählen das Institut für Zeitgeschichte in München, das Hannah-Arendt-Institut in Dresden, der Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin, die ebenfalls in Berlin angesiedelte Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur sowie – last but not least – das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Die zahlreichen Veröffentlichungen dieser Forschungszentren, ihre fachwissenschaftlichen Debatten und ihr Engagement auf dem Feld der Gedenk- und Erinnerungspolitik ließen die DDR „zu einer, wenn nicht der am dichtesten und gründlichsten erforschten Region der Weltgeschichte“ werden.
Bundesrepublikanische Geschichte im Fokus
Den Forschungsertrag zur Geschichte der Bundesrepublik, dem zweiten deutschen Teilstaat, der nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, wird man in einem Vergleich mit der DDR anders gewichten müssen. Hier ging es nicht um die Erkundung des Scheiterns einer Diktatur, sondern um Analyse eines demokratischen Erfolgsweges. Mit der Geburtshilfe der drei westlichen Siegermächte hatte sich der Weststaat für den Weg des politischen Pluralismus in einer sozial abgefederten privatwirtschaftlich organisierten Marktwirtschaft entschieden und nach seiner Gründung Schritt für Schritt zu einer offenen Gesellschaft entwickelt.
Deshalb wurde die Geschichte der Bundesrepublik von der Mehrheit der Zeithistoriker zumeist als eine demokratische Kontrastgeschichte konturiert, die sich von der Verbrechensgeschichte des Nationalsozialismus ebenso klar abgrenzen ließ wie von der Diktaturgeschichte der DDR. Zwar hat man in diesen Darstellungen politische Krisen oder wirtschaftliche Wachstumsprobleme nicht ausgeklammert, aber die gesellschaftliche Stabilität der Bonner Republik ließ sich grundsätzlich nicht anzweifeln. Die stärkste Kritik, die an ihr geübt wurde, galt der Art und Weise, wie sie in den ersten anderthalb Jahrzehnten nach ihrer Gründung mit dem Erbe des Nationalsozialismus umgegangen war und weshalb sie dessen in vielerlei Hinsicht fortwirkende politische und gesellschaftliche Ausstrahlung mit dem Begriff "Vergangenheitsbewältigung" zu entsorgen versucht hatte.
Doch die Kernbotschaft fast aller auf die Geschichte der Bundesrepublik zentrierten Meistererzählungen kann man auf folgenden gemeinsamen Nenner bringen: Die Bundesrepublik habe sich trotz der vielen Belastungen, die in ihrer Gründungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu bewältigen waren, zu einer "geglückten Demokratie" entwickelt. Sie habe die vierzig Jahre der Teilung Deutschlands gefestigt und selbstbewusst überstanden. Und deshalb könne sie, so das Fazit dieser affirmativen Deutungen, trotz der im republikanischen Alltag periodisch immer wieder einmal aufblühenden "Krisen- und Verdrossenheitsdebatten" auch nach der Wiedervereinigung weiterhin zuversichtlich in die Zukunft blicken.
Abgrenzung
Bis zur Zeitenwende von 1989/90 existierte in der bipolaren Welt der Ost-West-Konfrontation kaum das historiografische Bedürfnis, den gemeinsamen geschichtlichen Erfahrungsraum der beiden miteinander konkurrierenden deutschen Teilstaaten jenseits ihrer aktuellen und unüberbrückbaren politischen Systemunterschiede auszuloten. Die meisten ost- oder westdeutschen Zeithistoriker warfen nur selten einen Blick über den Eisernen Vorhang auf die deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte. Sie konzentrierten sich vor allem auf die Geschichte des eigenen Staates, also auf die autochthone Entwicklung der Bonner Republik oder der DDR. Dass diese von beiden Seiten praktizierte historiografische Abgrenzung voneinander und geschichtspolitische Blindheit füreinander ein Charakteristikum des Selbstverständnisses der meisten deutschen Zeithistoriker während der vierzig Jahre der staatlichen Doppelexistenz war, lässt sich mit vielen Beispielen belegen.
Diese zweistaatliche Selbstbezogenheit spiegelte sich auch in den unterschiedlich akzentuierten Darstellungen der nationalstaatlichen deutschen Vergangenheit vor 1945 wider. Denn sie wurde in den linientreuen marxistisch-leninistischen Interpretationen der DDR-Historiker anders bewertet als in den Publikationen ihrer westdeutschen Kollegen, die sich auf dem pluralistischen Forschungsmarkt der Bundesrepublik mit ihren Befunden behaupten mussten. In beiden deutschen Staaten orientierte sich die eigene historische Rückversicherung deshalb an Richtmarken, die nur selten oder gar nicht zur Deckung zu bringen waren. Zwischen der ideologischen Heilsgewissheit der kommunistischen Hausgeschichtsschreibung in der DDR und den miteinander konkurrierenden Deutungsvarianten der bundesrepublikanischen Historiker ließen sich kaum Brücken bauen.
(K)eine gemeinsame Geschichte der Arbeiterbewegung
Dies kann man exemplarisch an den unterschiedlichen Forschungspositionen von Historikern der Arbeiterbewegung in Ost und West beleuchten. Deren Themenfelder weisen zwar eine große inhaltliche Schnittmenge auf, weil sowohl die kommunistischen wie auch die sozialdemokratischen Traditionslinien von gemeinsamen Anfängen ausgingen. Aber dennoch lassen sich die Auffassungsunterschiede der Historiker beider Parteirichtungen nicht einmal für diese Anfangsjahre der Arbeiterbewegung auf einen gemeinsamen Nenner bringen, in denen die Gründergeneration der sozialistischen Bewegung das „Banner der Brüderlichkeit“ entfaltete.
Analysiert man, wie unterschiedlich Historiker der SED oder der SPD die Schlüsselsituationen in der mittlerweile mehr als anderthalb Jahrhunderte alten Geschichte der Arbeiterbewegung bewertet haben, dann stößt man immer wieder auf miteinander nicht vereinbare programmatische und politische Positionen, die entweder parteimarxistisch oder reformsozialistisch grundiert sind. Wo die ideologischen Bruchstellen zwischen diesen beiden Orientierungen liegen, lässt sich für diejenigen Forschungskontroversen besonders gut freilegen, in denen es um zentrale Streitfragen in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung ging.
Hier reichen die kontrovers bewerteten Wegmarken von der Frühgeschichte der sich formierenden Arbeiterbewegung während der Revolution von 1848/49, über die Entstehungs- und Vereinigungsphase der von Ferdinand Lassalle sowie von August Bebel und Wilhelm Liebknecht nach 1860 gegründeten Arbeiterparteien. Die Burgfriedenspolitik im Ersten Weltkrieg sowie die Parteispaltung von 1917 sind ebenfalls Dauerthemen dieses Historikerstreites, wie die folgenreiche parteipolitische Konfrontation von SPD und KPD während der Weimarer Republik. Im Zentrum steht hierbei die kommunistische Sozialfaschismusthese, mit der die KPD in der Endphase der Weimarer Republik die SPD als ihren "Hauptfeind" stigmatisierte. Aber auch die sozialdemokratische Tolerierungsstrategie des Abwartens in der Ära der der Präsidialkabinette ab 1930 findet viel Kritik.
Dauerstreitthema ist weiterhin die Beurteilung der Zwangsvereinigung von KPD und SED in der Sowjetischen Besatzungszone, die Bewertung des Volksaufstandes von 1953 oder die Einordnung des Mauerbaus 1961. Auch die Antworten auf die Frage, weshalb ausgerechnet auf dem Boden der sich als "realsozialistisch" bezeichnenden DDR im Herbst 1989 eine erfolgreiche friedliche Revolution stattfand, in der die Bevölkerung der DDR sich ihre individuelle Freiheit gegen einen sie bevormundenden Überwachungsstaat erkämpfte, fallen in der Linkspartei als Nachfolgerin der SED anders aus als in der SPD.
Kontrastierende Selbstverortungen
Aber auch außerhalb dieses emotional aufgeladenen und geschichtspolitisch verminten Forschungsgeländes, auf dem das besonders stark ausgeformte unterschiedlich orientierte Programm- und Politikverständnis der kommunistischen und der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung bis heute aufeinanderprallen, stößt man auf eine Fülle von Einschätzungen, mit denen beide deutschen Teilstaaten für sich jeweils eine "eigene" Vergangenheit reklamierten, wenn es darum ging, Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Diese historiografische Selbstverortung der DDR und der Bundesrepublik orientierte sich an unterschiedlichen geschichtspolitischen Wegmarken, mit denen beide an ausgewählte Traditionen der deutschen Emanzipationsgeschichte anknüpfen wollten.
Die moralische Legitimationsgrundlage für ihre Eigenstaatlichkeit bezog die DDR von Anfang an aus dem kommunistischen Antifaschismus, den sie als ihren Gründungsmythos in einer säkularisierten Staatsreligion mit einem spezifischen Märtyrerkult und quasireligiösen Gedenkritualen zelebrierte. Ihr Alleinanspruch auf diese antifaschistische Integrations- und Ausgrenzungsideologie begleitete die DDR vierzig Jahre lang, wie man am Beispiel ihrer Geschichtspolitik und ihrer Erinnerungspflege anschaulich dokumentieren kann.
Gleichzeitig entwickelte sich in der DDR in diesen vier Jahrzehnten eine Grundsatzdebatte darüber, was neben diesem eigenen Erbe als nationale Tradition ebenfalls zum sozialistischen Patriotismus gehöre. In diesem geschichtspolitischen Kontext hat man in der DDR nicht nur alle revolutionären Erhebungen in der deutschen Geschichte seit den Bauernkriegen in die eigene Vorgeschichte eingemeindet, sondern schließlich auch "große Deutsche", die keine Vordenker des Kommunismus waren, dieser Vorgeschichte hinzugefügt. Zu ihnen zählten in den letzten Lebensjahren der DDR nicht nur Martin Luther, sondern auch Friedrich der Große und sogar der Urpreuße und Reichsgründer Otto von Bismarck.
Für die Geschichtspolitik der Bundesrepublik kann man zunächst feststellen: Widerstand und Verfolgung während der NS-Zeit gehörten nicht zu ihrem identitätsstiftenden Fundament. Lange Jahre blieb die weitgehend inhaltsleere Formel vom "Aufstand des Gewissens", mit der man den Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 charakterisiert hat, die Kernbotschaft in der ritualisierten Erinnerung an die NS-Gegner. Die vielfältigen politischen Motive, Ausdrucksformen und Ziele des Widerstands und die gesellschaftliche Komplexität der Resistenz gegen den Nationalsozialismus rückten erst seit den 1970er Jahren stärker in das öffentliche Bewusstsein der Bundesrepublik, als die Forschung die Zwischenräume zwischen Anpassung und Verweigerung auslotete.
Als parlamentarische Demokratie wollte die Bundesrepublik vor allem an die Traditionen der Weimarer Republik anknüpfen, deren Gründung man trotz ihres schnellen Scheiterns als eine wichtige Etappe in der deutschen Geschichte auf ihrem "langen Weg nach Westen" charakterisiert hat.
Zwischen den beiden deutschen Nachfolgestaaten der NS-Diktatur entfaltete sich also seit ihrer Gründung ein geschichtspolitisch untermauerter Antagonismus, den man mit den Schlagworten „Amerikanisierung“ oder "Verwestlichung" für die Bundesrepublik und "Stalinisierung" oder "Sowjetisierung" für die DDR auf den Begriff gebracht hat.
Während die DDR den von der SED zunächst selbstbewusst propagierten deutschen Weg zum Sozialismus nicht auf eigene Faust einschlagen konnte, weil sie als von der Sowjetunion gegründetes Kollaborationsregime institutionell und strukturell unter der Kuratel der Besatzungsmacht stand und sich deren Weisungen zu fügen hatte, passte sich die Bundesrepublik politisch und ökonomisch weitgehend an das Vorbild ihrer westlichen Hegemonialpartner an. Diese Entscheidung stieß in der westdeutschen Bevölkerung nach der Staatsgründung auf breite Zustimmung. Sie spiegelte sich bei den Bundestagswahlen anderthalb Jahrzehnte lang in der Dominanz der Unionsparteien wider, die den Ausbau der Bundesrepublik zu einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat dirigierten. Diese Politik wurde dann unter sozialliberalen Vorzeichen bis zum Beginn der 1980er Jahre prinzipiell fortgesetzt, die jedoch neue deutschlandpolitische Akzente setzte.
Interpretationen des Scheiterns
Die gesellschaftliche Umgestaltung der DDR nach dem Vorbild der Sowjetunion, die gegen die Mehrheit der Menschen repressiv erzwungen worden war, mündete nach mehreren Etappen, in denen der Gestaltungsanspruch der SED immer wieder an "Grenzen der Diktatur"
Viel Beachtung fand ein historiografischer Interpretationsversuch, der das plötzliche Ende der DDR systemtheoretisch einordnen wollte und sich auf die doppelte Diktaturerfahrung Deutschlands im 20. Jahrhundert konzentrierte. Man orientierte sich an den idealtypischen Denkmodellen der Totalitarismustheorie und klassifizierte die kommunistische und die nationalsozialistische Diktatur gleichermaßen als totalitäre "Unrechtsstaaten", ohne dabei deren spezifische Eigenarten und unterschiedliche Entwicklungsetappen inhaltlich sorgfältiger zu vermessen. Dass diese plakative Gleichsetzung der beiden deutschen Diktaturen auch moralisch inspiriert war und dies bis heute immer noch ist, kann man mit zahlreichen Argumenten belegen, die sowohl in Fachdebatten der Historiker wie auch in aktuellen politischen Auseinandersetzungen über den Staatscharakter der DDR nach wie vor angeführt werden. Dabei geht es zumeist nicht um den Nachweis der wissenschaftlichen Tragfähigkeit des Terminus "Unrechtsstaat", sondern um seine plakative politische Indienstnahme. Mittlerweile besitzt dieser undifferenzierte Umgang mit dem Begriff "Unrechtsstaat" für beide deutschen Diktaturen eine problematische publizistische und politische Wirkungsmacht, die weit über seine tatsächliche Erklärungskraft in einem Diktaturvergleich hinausreicht.
Im zeithistorischen Deutungskampf über die geschichtliche Verortung der DDR nimmt der Totalitarismusbegriff immer noch eine Schlüsselstellung ein, obwohl sein wissenschaftlicher Ertrag für den Vergleich zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus überschaubar ist. Denn diese auf einer theoretischen Makroebene angesiedelte Gleichsetzung reduziert die diktatorische Realität beider Regime jeweils auf abstrakte Zuschreibungen, ohne die konkrete Diktaturgeschichte des Dritten Reiches und der DDR genauer komparativ auszuleuchten.
Vergleichen, nicht gleichsetzen
Derartige Gleichsetzungen sind zu undifferenziert, denn sie klammern weitgehend die fundamentalen Unterschiede aus, die zwischen den beispiellosen Gräueltaten des Nationalsozialismus und den Verfolgungspraktiken der SED-Machthaber bestanden, mit denen diese ihre Parteiherrschaft in der von ihnen zur "Volksdemokratie" stilisierten DDR absichern wollten.
Während ihrer vierzigjährigen Existenz als von der Sowjetunion in ihre ostdeutsche Besatzungszone importierte und abgesicherte Diktatur durchlief die DDR keinen kumulativen Radikalisierungsprozess. Dieser war jedoch das Charakteristikum des nationalsozialistischen Führerstaates gewesen. Er prägte dessen terroristischen Extremismus überall in Deutschland und in jedem von ihm im Laufe seiner Herrschaftszeit besetzten Gebiet Europas. In der DDR gab es dagegen neben vielfachem Unrecht aber auch eine rechtlich-ethische Normalität, deren Eigengewicht man nicht einfach ausklammern kann.
Statt die Totalitarismustheorie als Gebrauchsanleitung für die DDR-Forschung zu instrumentalisieren, müsste man viel intensiver darüber nachdenken, dass die DDR bis zu ihrem Untergang zwar dem von Moskau aus dirigiertem kommunistischen Lager angehörte, aber zugleich auf vielfältige Weise mit dem politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben in der Bundesrepublik verflochten war. Welche nationalen Traditionsbestände und Besonderheiten hinter der Fassade dieses Grenzlandes des Ostblocks weiterbestanden, wie eng die beiden deutschen Teilgesellschaften trotz der staatlichen Trennung aufeinander bezogen blieben und wie stark und wie lange ihre historisch gewachsene Verklammerung weiterwirkte, lässt sich mit einem totalitarismustheoretisch eingeengten Tunnelblick nicht analysieren.
Deshalb sollte man diesen abstrakten Diskurs beenden und den Weg zu einer differenzierten Analyse der "realsozialistischen" Wirklichkeit in der von der SED gelenkten Diktatur beschreiten. Durch diesen Perspektivenwechsel lässt sich nämlich erst die nur schwer überbrückbare Kluft zwischen dem programmatischen Gestaltungsanspruch der SED, ihrem politischem Handeln als Staatspartei und dem alltäglichen "Eigensinn" der DDR-Bevölkerung deutlicher sichtbar machen. Im Fokus steht dann insbesondere eine gesellschaftsgeschichtlich untermauerte Offenlegung der Widersprüche, die zwischen den von der regierenden Einheitspartei propagierten emanzipatorischen Zielen und ihrer die Bürger der DDR bevormundenden Herrschaftspraxis bestanden.
Gesamtdeutsch forschen
Warum die kommunistische Zukunft in der DDR eine Fata Morgana blieb, deren Trugbild im Laufe der Zeit immer mehr verblasste, kann eine nur auf die DDR bezogene Geschichtsschreibung nicht überzeugend beantworten. Auch die jüngere deutsche Zeitgeschichte wurzelt nämlich in gesamtdeutschen Zusammenhängen, die über das Schwellenjahr 1945 zurückreichten, im geteilten Deutschland weiterbestanden und schließlich im geeinten Deutschland fortwirken. Den Versuch einer Verklammerung der beiden deutschen Nachkriegsgeschichten, der sich dem lange Zeit dominierenden Trend zur einäugigen Analyse der Bundesrepublik oder der DDR entgegenstellte, unternahmen in der Ära der Zweistaatlichkeit allerdings nur wenige Historiker.
An erster Stelle ist hier Christoph Kleßmann zu nennen, der sich bereits in zwei in den 1980er Jahren erschienenen Monographien für eine Blickachse entschied, welche die Bonner Republik und die DDR gleichermaßen erfasste und die doppelte deutsche Geschichte zwischen 1945 als die Geschichte zweier Staaten, aber einer Nation analysierte.
Kleßmanns integrative Forschungsperspektive, die auch das "Leben der Anderen" einbezog und grenzüberschreitende Prägungen in Ost und West beleuchtete, um die dominierenden eindimensionalen, auf einen der beiden deutschen Separatstaaten fixierten Erklärungsansätze aufzubrechen, hat mittlerweile buchstäblich Schule gemacht. Seinem Plädoyer, die deutsche Nachkriegsgeschichte auch als Ganzes zu erkennen, sind seit der Jahrtausendwende viele Zeithistoriker gefolgt. Seitdem sind eine Reihe von Studien erschienen, um die im doppelten Sinn des Wortes "geteilte Geschichte" Deutschlands seit dem Zweiten Weltkrieg aus einer vergleichenden Perspektive zu analysieren.
Das Spektrum der Themen reicht von blockübergreifenden Fragestellungen, die systematisch die besondere gesamtdeutsche Zwischenlage an der Front des Kalten Krieges analysieren, bis hin zur Erkundung der innerdeutschen Wechselwirkungen auf einer Vielzahl von Politikfeldern. Diese erstrecken sich von der Wirtschafts- und Sozialgeschichte über die Alltagsgeschichte bis zur Bildungs- und Kulturgeschichte oder auch zur Sportgeschichte, in der der Name des DDR-Fußballers Sparwasser auch in der alten Bundesrepublik unvergessen geblieben ist.
Dieser Blick, der sich nicht nur auf das vierzigjährige Gegeneinander, sondern auch auf das gleichzeitige komplizierte Neben- und Miteinander der beiden deutschen Staaten richtet, kann nicht allein auf eine Erfolgsgeschichte des "Zusammenwachsens" zentriert sein. Er muss ebenso Widerstände und Widersprüche einbeziehen, unterschiedliche Erfahrungen und Erinnerungen gewichten und danach fragen, was in der Berliner Republik bis heute als sperriges Erbe weiterlebt. Das Thema bleibt also "aktuell und vertrackt", wie Christoph Kleßmann im Herbst 2014 auf der Deutschlandforschertagung bereits betont hat.
Zitierweise: Klaus Schönhoven, Gibt es eine gesamtdeutsche Vergangenheit?, in: Deutschland Archiv, 4.5.2016, Link: www.bpb.de/227192