Die DDR-Forschung ist von einem Kuriosum geprägt: In unregelmäßigen Abständen taucht die Behauptung auf, die Geschichte der DDR sei in Gänze erforscht und die Historikerzunft solle sich auf zu neuen thematischen Ufern machen. Die betroffenen Wissenschaftler wehren sich nur selten mit dem Hinweis auf die Absurdität der Behauptung, sondern versuchen stattdessen akribisch, Desiderata nachzuweisen. Doch warum erscheint die DDR-Geschichte ihren Kritikern so irrelevant, dass sie sich von ihrer weiteren Erforschung kaum Erkenntnisgewinne versprechen? Ein zentraler Grund mag die bereits im Jahr 2003 von Jürgen Kocka befürchtete Verinselung und Provinzialisierung einer DDR-Geschichte sein, die aufgrund einer mangelhaften Rezeption nicht-deutschsprachiger Publikationen und einer rein nationalen Kontextualisierung ihrer Befunde allein um sich selbst kreise und so Gefahr laufe, den Anschluss an die internationale Forschung zu verlieren.
Als gleichzeitig der DDR-Alltag in Form von Filmen, Fernsehshows, Partys und Soundtracks zum Medien- und Konsumphänomen avancierte, merkten erste Beobachter an, dass zwischen der teils wissenschaftlichen, oft aber eher geschichtspolitisch motivierten Erzählung vom "Unrechtsstaat" und der familiären Erzählung vom "Wohlfahrtsstaat" eine Lücke klaffe, die insbesondere im Schulunterricht Probleme bereite.
Im Osten nichts Neues?
Während die genannten Debatten in den folgenden Jahren zahlreiche Studien zur Erinnerungskultur inspirierten
Wenngleich dieser Gegensatz etwas übertrieben sein mag, so birgt die transatlantische Perspektivenerweiterung doch das Potenzial, die festgefahrene deutsche Debatte zur DDR-Forschung auf produktive Weise aufzubrechen. Inspiriert durch die genannten Kritikpunkte setzte sich ein Seminar auf der 39. Konferenz der amerikanischen German Studies Association (GSA) das Ziel, nach innovativen Fragen zu suchen. An drei Tagen stellten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland und den USA neue Forschungsprojekte vor und diskutierten verschiedene Ansätze und Perspektiven auf dem Gebiet der DDR-Forschung. Dabei entwickelten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine dreifache Perspektivenerweiterung, die im Folgenden vorgestellt wird. So fragte das Seminar 1.) nach dem Platz der DDR im 20. Jahrhundert, 2.) nach dem spezifischen Ort der DDR in transnationaler Perspektive und 3.) nach den gesellschaftlichen Herausforderungen und der scheinbaren "Normalität" der 1970er/1980er Jahre, die als Phase der "instabilen Stabilität" bezeichnet werden kann und den Blick schärft für den historischen Wandel innerhalb der vierzigjährigen SED-Diktatur.
I. Der Platz der DDR im 20. Jahrhundert
Eine diachrone Perspektive ermöglicht eine stärkere historische Kontextualisierung der DDR. Stefanie Eisenhuth (Humboldt-Universität zu Berlin) sprach einleitend über historische Kontinuitäten, die über die Zäsuren von 1933, 1945/49 und 1989/90 hinausweisen.
Darüber hinaus lohnt sich ein frischer, von moralischen Urteilen befreiter und kulturgeschichtlich inspirierter Blick auf die DDR als sowjetischen Satellitenstaat. Im Hinblick auf institutionelle Strukturen und kulturelle Praktiken des Staats- und Parteiapparats würde sich zeigen lassen, dass einzelne Einrichtungen zum Teil bis 1989 stalinistische beziehungsweise sowjetische Charakteristika aufwiesen – von den Parteisäuberungsverfahren über das tschekistische Selbstverständnis des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) bis hin zu Einrichtungen wie dem Subbotnik. Moskau war stets ein Vetorecht vorbehalten, wie nicht zuletzt das Ringen um den Bonn-Besuch Erich Honeckers 1987 noch einmal zeigte. Allerdings muss zugleich berücksichtigt werden, dass die von Moskau angestrebte "Sowjetisierung" der DDR-Gesellschaft nie erreicht wurde.
Die DDR als alternative Moderne
Großes Erkenntnispotenzial verspricht der Versuch, den "Sozialismus in den Farben der DDR" als eine "alternative Moderne"
Biografische Prägungen
Weitere Erkenntnisse im Hinblick auf das Selbstverständnis der Akteure und die Prägekraft ihrer Sozialisierung versprechen biografische Zugänge zur DDR-Geschichte. Martin Sabrows Überlegungen zu einer Biografie Erich Honeckers
Honecker teilte mit seinen Genossen das manchmal paternalistisch gedämpfte und doch nie ganz versiegende Misstrauen gegenüber dem eigenen Volk. Die Schlüsse, die er aus den bitteren Erfahrungen der NS-Zeit zog, wiederholten Rousseaus Unterscheidung zwischen der richtungweisenden "volonté générale" und der flatterhaften "volonté de tous": Sein Verständnis politischer Verantwortung speiste sich nach 1945 fester denn je aus einem Avantgardebewusstsein, das den spontan artikulierten Volkswillen wahlweise als willkommene Bestätigung, hilfreiche Orientierung oder politische Bedrohung gewichtete, aber keinesfalls als Richter über die Entscheidungen der politischen Führung akzeptierte. Das "Volk" war und blieb für Honecker eine unzuverlässige Masse, die der ständigen Aufklärung und der richtigen Lenkung bedurfte. Das war die eigentliche Lehre seines Lebens vor 1945, die Honecker in die neue Zeit mitnahm und die seinen bis auf die Kommandohöhen des Weltkommunismus führenden Weg vom ersten bis zum letzten Tag bestimmen sollte.
Proletarische Traditionen
Scott Krause (Uiversity of North Carolina at Chapel Hill) zeigte anhand der Feierlichkeiten zum 1. Mai 1950 in Berlin, wie in der Nachkriegszeit aktiv um das Erbe der Arbeiterbewegung gestritten wurde: Sowohl die Ost-Berliner SED, als auch die West-Berliner SPD organisierten Massenveranstaltungen, die die jeweiligen Parteien als legitime Repräsentanten der Berliner Arbeiterschicht inszenierten. Der geschilderte Kampf um Deutungshoheit sowie die aufgezeigten Interaktionen zwischen den beiden Parteien verdeutlichten noch einmal die "Offenheit" der Geschichte in jenen Jahren und zeigten, wie gewinnbringend es sein kann, die SED als Teil der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung zu verstehen.
Die vieldiskutierten Potenziale der Emotionsgeschichte verdeutlichte Till Großmann (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung) auch für die deutsch-deutsche Zeitgeschichte. Im Mittelpunkt seiner Studie stehen Leserbriefe an den DDR-Sozialhygieniker Rudolf Neubert (dessen "Neues Ehebuch" in über 20 Auflagen erschien), die im Hinblick auf sich wandelnde Selbstwahrnehmungen, Werte und Moralhaushalte der Ratsuchenden und auf daraus erwachsende Handlungsmöglichkeiten untersucht werden. Großmann versteht die Leserbriefe als "Zwischenöffentlichkeit" und zeigt, wie DDR-Bürger sowohl über Generationen tradierte als auch vom SED-Regime kommunizierte Vorstellungen von Liebe und Geschlechterrollen hinterfragten und eigene Vorstellungen von Politik und Privatheit entwickelten – teils mit genuin ostdeutschen Zügen, teils in Anlehnung an Entwicklungen in Westeuropa und den USA. Auch dieses Projekt macht somit deutlich, dass die DDR neben einer diachronen Kontextualisierung auch synchron vergleichend untersucht werden muss.
II. Die DDR in transnationaler Perspektive
Eine transnationale Perspektive auf die DDR hat zwei Dimensionen: Zum einen fragt sie nach historischen Verflechtungen, zum anderen ermöglicht sie einen Blick von außen, indem sie Forschungen aus dem nichtdeutschsprachigen Ausland einbezieht. In dieser Hinsicht wies Konrad H. Jarausch (University of North Carolina at Chapel Hill) darauf hin, dass die DDR in der anglo-amerikanischen Forschung vor 1989 weitgehend unbekannt und unerforscht blieb, weil interne Quellen weitgehend unzugänglich waren.
Aus transatlantischer Sicht hatte die DDR eine besondere Stellung im Ostblock inne, die sie trotz mancher vergleichbarer Entwicklungen erheblich von ihren Nachbarn unterschied. Dazu gehörte als Folge der verbrecherischen NS-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges die Teilung der Nation, die aus der gemeinsamen Vergangenheit unterschiedliche Versionen der Gegenwart mit konkurrierenden Zukunftsvorstellungen hervorbrachte. Gleichzeitig lag die DDR an der Frontlinie des Kalten Krieges und war somit von den Konjunkturen des Verhältnisses zwischen den beiden Supermächten direkter betroffen und den konfligierenden Einflüssen der Sowjetisierung und der Amerikanisierung unmittelbarer ausgesetzt als andere Ostblockstaaten.
Globale Verflechtungen
Trotz ihrer Abgrenzung vom Westen war die DDR als moderner Industriestaat in vielfältiger Weise in transnationale Entwicklungen eingebettet, die die Lebenswirklichkeit nachhaltig beeinflussten. So ließ sich der Einfluss von westlicher Konsum- und Populärkultur auch nicht durch den Eisernen Vorhang aufhalten. Obwohl die Währung nicht frei konvertierbar war und der Handel zwischen den Mitgliedern des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) zu weiten Teilen auf Tausch beruhte, übte die ökonomische Globalisierung durch die Verlagerung der Massenproduktion nach Asien einen erheblichen Druck auf die DDR aus, die unter größten Anstrengungen versuchte, durch Forschungen auf dem Gebiet der Mikroelektronik mit der internationalen Entwicklung Schritt zu halten. In anderer Hinsicht – wie der Ausweitung höherer Bildung oder dem Versuch der beruflichen Gleichstellung von Frauen – zeigte sich eine gewisse Konvergenz von Industriegesellschaften, in der die DDR in einigen Bereichen sogar führend war. Besonders während der Kampagne um die internationale Anerkennung der DDR bemühte sich das SED-Regime darum, sozialistische Solidarität mit Befreiungsbewegungen in Afrika, Lateinamerika und Asien zu zeigen, um sich auf diese Weise konkrete ökonomische Vorteile zu sichern. Schließlich war die DDR stark von politischen Entwicklungen in anderen sozialistischen Staaten abhängig, und die Einführung von Glasnost und Perestroika oder das Aufkommen von Oppositionsbewegungen in Polen, Ungarn und der ÇSSR bedrohten ihre eigene Stabilität.
Ein gutes Beispiel für die Spannung zwischen Eigenständigkeit und Transnationalität ist die von Julie Ault (University of Utah) vorgestellte Untersuchung der Umweltbewegung in der DDR.
Ähnliche Widersprüche zeigt die von Andrew Kloiber (McMaster University in Hamilton) analysierte Kaffeekrise der DDR in den späten 1970er Jahren. Besonders infolge der Erfahrungen mit schlecht schmeckenden Substituten wie Malz oder Zichorie während und nach dem Zweiten Weltkrieg war das Trinken von echtem Bohnenkaffee ein wichtiger Bestandteil von ostdeutscher Modernität, der einen gehobenen Lebensstandard signalisierte.
Transnationale Herausforderungen
Auch der von Kyrill Kunakhovich (College of William & Mary, Virginia) vorgenommene Vergleich der lokalen Kulturpolitik von Leipzig und Krakau ergibt bei aller Ähnlichkeit der Parteidominanz einen unterschiedlichen Grad an Liberalität, der die relative Härte der SED bestätigt.
Der Einfluss der Globalisierung auf den abgeschotteten Ostblock wird anhand der von Ned Richardson-Little (University of Exeter, UK) analysierten Ölpolitik deutlich. So war die DDR indirekt auch von den von der OPEC dekretierten Preissteigerungen betroffen. Nach dem Bau der "Freundschafts-Pipeline" lieferte die Sowjetunion zu vergünstigten Preisen Rohöl, das durch die DDR in veredelter Form in den Westen weiterverkauft wurde und dadurch wichtige Devisen einbrachte. Die Reduzierung russischer Lieferungen Anfang der 1980er Jahre und der damit einhergehende Preisanstieg verhinderten jedoch den Weiterverkauf und brachten die DDR in große ökonomische und ökologische Schwierigkeiten. Auf dem Gebiet der Menschenrechte zeigten sich ähnliche ungeahnte und unerwünschte Wechselwirkungen, da die ostdeutsche Unterstützung für antiimperialistische Befreiungsbewegungen zwar die diplomatische Anerkennung der DDR beförderte, die eigenen Bürger jedoch das westliche Verständnis von "human rights" vorzogen, indem sie zunehmend traditionelle Werte wie Rede-, Versammlungs- und Reisefreiheit verlangten.
Trotz der gespaltenen Gegenwart konnte die DDR weder der gesamtdeutschen Vergangenheit noch den Anforderungen der internationalen Zukunft entkommen. Die von Christian Rau (Institut für Zeitgeschichte München-Berlin) untersuchten Beziehungen zwischen der Deutschen Bücherei in Leipzig und der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt zeigten bei aller ideologischen Gegnerschaft und institutionellen Konkurrenz ein gewisses Verantwortungsbewusstsein für die gemeinsame deutsche Kultur. So wurde der Bücheraustausch als nationale Mission fortgesetzt. Die Kooperation untergrub zwar die Abgrenzungspolitik der DDR, hielt aber wenigstens auf kulturellem Gebiet die Verbindung zwischen Ost und West aufrecht.
Diese neuen Forschungen weisen darauf hin, dass die DDR trotz der Abschottung durch die innerdeutsche Grenze und die Berliner Mauer erheblich von transnationalen Entwicklungen beeinflusst wurde. Innerhalb des Ostblocks verhielt sie sich wegen ihrer gefährdeten Grenzlage und der deutschen Teilung meist orthodoxer und repressiver als ihre Nachbarn. Als kleinerer Nachfolgestaat des Dritten Reichs war sie zudem stärker auf die Konkurrenz mit der Bundesrepublik fixiert. Trotz einiger Sympathie unter Gewerkschaftlern, friedensbewegten Kirchenmitgliedern und Linksintellektuellen blieb die DDR im Westen aufgrund ihrer internen Repressionen unbeliebt und unattraktiv. Nur in den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt erwarb sie sich erhebliche Sympathien, obwohl auch hier die Instrumentalisierung der Beziehungen dem grenzübergreifenden Austausch enge Grenzen setzte.
III. Die Ära Honecker – Stabilisierung und Normalisierung?
Die vierzigjährige Existenz der DDR kann nicht nur mit "sowjetischen Bajonetten" erklärt werden.
Instabile Stabilität
Am Bespiel der auch in der DDR weit verbreiteten Westmedien lässt sich zeigen, dass der Empfang des Westfernsehens durchaus eine systemstabilisierende Wirkung entfalten konnte, indem er den DDR-Bürgern allabendlich die Möglichkeit einer "geistigen Ausreise" bot, ohne dass sie das Land tatsächlich verlassen mussten. Im sogenannten "Tal der Ahnungslosen" rund um Dresden, wo bis auf einzelne Initiativen kein Westfernsehen empfangen werden konnte, war die Zahl der Ausreiseanträge folglich am größten. Destabilisierend wirkte sich dagegen aus, dass die Präsenz des Westfernsehens in der DDR eine kritische Ersatzöffentlichkeit bildete, die der ostdeutschen Opposition Schutz- und Entfaltungsräume gewährte und der DDR-Bevölkerung eindrucksvoll die Standards der westlichen Konsumgesellschaft vor Augen führte.
Auch das Wohnungsbauprogramm der 1970er und 1980er Jahre zeitigte sowohl stabilisierende als auch destabilisierende Effekte. Als Resultat des VIII. Parteitages wurden bis 1990 fast zwei Millionen neue Wohnungen in der DDR geschaffen. Dies trug einerseits zur versprochenen "Lösung der Wohnungsfrage" bei und verschaffte dem SED-Regime dringend benötigte Legitimation, erfüllte andererseits aber nicht die Erwartungen der DDR-Bürger. Zudem sorgte die einseitige Privilegierung Ost-Berlins für den Abzug zahlreicher Bauarbeiter und Ressourcen aus den DDR-Bezirken, was für weiteren Unmut sorgte. Dies führte zu eigenmächtigen Initiativen in den ostdeutschen Bezirken, wo selbst öffentliche Gebäude zunehmend "schwarz" errichtet wurden, wie Oliver Werner (Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung Erkner) deutlich machte.
Schließlich wohnten auch der neuen Geschichtspolitik der SED seit Mitte der 1970er beide Effekte inne: Das Konzept von Erbe und Tradition, die so genannte "Preußenrenaissance" und die Rehabilitierung Luthers boten der SED angesichts der nachlassenden Bindungskraft des antifaschistischen Gründungsmythos ein breiteres Fundament zur Stabilisierung der eigenen Herrschaft und lockten überdies westliche Besucher mit ihren Divisen ins Land. Andererseits dürfte die neue Wertschätzung nationaler Traditionen die Legitimation des ostdeutschen Teilstaats auf lange Sicht eher ausgehöhlt haben, auch wenn sich hier sicher keine direkte Linie zur deutschen Einheit 1990 ziehen lässt.
Die 1970er kommen
Die Gleichzeitigkeit von Stabilisierung und Destabilisierung wird auch in den neuen Forschungsprojekten von Jon Berndt Olsen (University of Massachussets at Amherst)
Das gewachsene Interesse an den 1970er und 1980er Jahren folgt schließlich auch einer stärker integrierten Perspektive auf die deutsch-deutsche Geschichte, die in Anlehnung an Christoph Kleßmann nunmehr auch von ehemaligen Skeptikern als asymmetrische Parallel- und Verflechtungsgeschichte konzipiert wird.
Fazit
Diese hier vorgestellten neuen Forschungen, die nur einen Ausschnitt aus den vielversprechenden gegenwärtigen Arbeiten bieten, machen deutlich, dass die Geschichte der DDR alles andere als ausgeforscht ist. Eine zentrale Voraussetzung für neue Erkenntnisgewinne ist jedoch, die DDR als Forschungsgegenstand aus den polemischen Verkürzungen der tagespolitischen Auseinandersetzungen herauszulösen und sie gleichzeitig in breitere Bezüge einzubetten. Die drei vorgestellten Blickachsen gemeinsamer deutscher Vergangenheit, transnationaler Einflüsse und kommunistischer Systemstabilisierung machen deutlich, dass die SED-Diktatur in viele historische Kontexte eingebunden war, die weiterer Forschung und Diskussion bedürfen.
Im Hinblick auf den Ort der DDR in der deutschen Geschichte sind multiple Kontinuitäten zu berücksichtigen. Da sich die SED-Herrschaft der Niederlage des Nationalsozialismus und des sowjetischen Vorrückens nach Mitteleuropa verdankte, diente ihr ein "verordneter Antifaschismus" als Gründungsideologie. Aber der zweite deutsche Staat war auch ein Versuch, die politischen Vorstellungen des linken Flügels der deutschen Arbeiterbewegung zu realisieren, was seine Ausrichtung auf den Marxismus-Leninismus nach sich zog. Da diese ideologischen Grundlagen nur einen Teil der Intellektuellen und Arbeiter ansprachen, strebte die Staatsführung seit Mitte der 1970er Jahre durch Bezüge auf die preußische Geschichte eine breitere Einbettung in die deutsche Vergangenheit an, die gleichzeitig auch das Bedürfnis nach Verortung in einer regionalen Heimat ansprechen sollte.
Als Mitglied des Ostblocks unterlag die DDR vor allem dem Einfluss der Sowjetunion. Gleichzeitig war sie aber auch asymmetrisch auf den Westen fixiert und reagierte in vielerlei Hinsicht auf Entwicklungen und Initiativen der Bundesrepublik, um selbst als das "bessere Deutschland" erscheinen zu können. Trotz der versuchten Abgrenzung war die DDR auch von blockübergreifenden Entwicklungen der Globalisierung betroffen. Und schließlich sah sie sich als solidarischer Unterstützer sozialistischer und anti-imperialistischer Freiheitsbewegungen der Dritten Welt.
Das Paradox der "instabilen Stabilität" kommunistischer Regime benötigt explizite Untersuchungen ihrer gleichzeitigen Stärke und Schwäche.
Im größeren Zusammenhang des 20. Jahrhunderts kann man das realsozialistische Experiment als Teil der "sozialistischen Moderne" verstehen, wenn man seinen ideologischen Anspruch ernst nimmt. Der marxistisch-leninistische Versuch der Sowjetunion wollte eine Alternative zu dem liberal-kapitalistischen Weg zur Modernisierung bieten, da die Demokratie westlichen Stils im Ersten Weltkrieg und in der Weltwirtschaftskrise versagt zu haben schien. Der Kommunismus versuchte einen gesellschaftlichen Zukunftsentwurf zu realisieren, der Kriege und Ausbeutung beenden sollte, um dadurch der Menschheit eine bessere Zukunft zu bieten. Teile der Intellektuellen, welche die Umsetzung vorantrieben, und auch Teile der Arbeiterschaft, deren Leben sich deutlich verbesserte, waren insbesondere zu Beginn durchaus bereit, dieses Vorhaben zu unterstützen. Die Industrialisierung Russlands und der Sieg über den Nationalsozialismus schienen die Überlegenheit der sozialistischen Spielart der Moderne zunächst zu beweisen. Aber in der Verwandlung des Kalten Kriegs von der Atomkonfrontation in den friedlichen Wettbewerb unterlag der Staatssozialismus schließlich, weil er weder wirtschaftlich erfolgreich noch politisch attraktiv genug war.
Zitierweise: Stefanie Eisenhuth, Hanno Hochmuth und Konrad H. Jarausch, Alles andere als ausgeforscht. Aktuelle Erweiterungen der DDR-Forschung, in: Deutschland Archiv, 11.1.2016, Link: www.bpb.de/218370