Er schien die Gesetze des Alters auf den Kopf zu stellen und er wusste warum. Als Wladyslaw Bartoszewski mit neunzig Jahren nach seinen Plänen für den Ruhestand gefragt wurde, wehrte er scherzend ab. Ruhestand sei noch nicht angesagt, aber ab und an würde er schon an eine Altersteilzeit denken.
Bis zu seinem letzten Lebenstag am 24. April gab er Interviews, schrieb Texte, arbeitete an Büchern und war öffentlich präsent.
In seiner Biografie sammelten sich Erfahrungen mit den schlimmsten Verbrechen und Terrorsystemen des letzten Jahrhunderts. Als Häftling in Auschwitz und in volkspolnischen Gefängnissen, als internierter und unter Berufsverbot stehender Intellektueller während des Kriegsrechts in den achtziger Jahren, hätte er allen Grund zu Verbitterung und Hass auf seine deutschen-nazistischen und polnischen-kommunistischen Peiniger haben können. Seine tiefe Menschlichkeit und sein Glaube an eine Verpflichtung angesichts dieser Erfahrungen ließen ihn aber umgekehrt zum Vorreiter deutsch-polnischer und polnisch-jüdischer Verständigung und Versöhnung werden. Ein Bemühen um Verständigung, das aber nie darauf verzichtete, Verbrechen, Unrecht, Täter, Mitschuldige und Mitläufer auf allen Seiten deutlich und differenziert zu benennen.
Wladyslaw Bartoszewski wurde 1922 als Sohn eines Bankangestellten geboren und legte sein Abitur 1939 in Warschau ab. Im September 1940 geriet er in eine Razzia der deutschen Besatzer und wurde zum Häftling im Konzentrationslager Auschwitz. Da er vorher für das polnische Rote Kreuz gearbeitet hatte, bemühte sich dieses um seine Freilassung, was auch nach mehreren Monaten gelang. Da war er bereits schwerkrank.
Er schloss sich dem polnischen Widerstand an und wurde zum Mitbegründer des Zegota-Komitees, einer Hilfsorganisation, die mehrere Tausend polnische Juden vor dem Holocaust rettete.
Bis an sein Lebensende setzte sich Wladyslaw Bartoszewski für die Aussöhnung zwischen Polen und Juden ein, was die Auseinandersetzung mit allen Erscheinungsformen des Antisemitismus in Polen einschloss. Die Teilnahme am Warschauer Aufstand ließ ihn später zu einem seiner wichtigsten Chronisten werden. Bei aller Kritik an politischen und militärischen Fehlern der Führer des Aufstandes, verteidigte er den Sinn der Erhebung, den Freiheitswillen der Aufständischen und den Heldenmut ihres Kampfes.
Nach dem Ende des Krieges stemmte er sich als Journalist und Publizist gegen die Machtübernahme der Kommunisten und verbrachte in der Phase des Hochstalinismus sechs Jahre in Gefängnissen. Im Jahre 1955 freigelassen und rehabilitiert, konnte er sein - während der Besatzungszeit an einer der Untergrund-Universitäten begonnenes - Studium der Polonistik fortsetzen und beenden. Sein internationaler Horizont und deutsche Sprachkenntnisse ließen ihn in den kommenden Jahrzehnten als Historiker und Publizist immer wieder die Frage nach der Zukunft deutsch-polnischer Beziehungen stellen. Keine leichte Aufgabe, angesichts der Nachkriegsrealität zweier höchst unterschiedlicher deutscher Staaten und der Instrumentalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen durch polnische und deutsche Kommunisten.
Bartoszewskis prominente Teilnahme an der Solidarnosc-Bewegung führte zu seiner erneuten Inhaftierung, in den ersten Wochen nach der Ausrufung des Kriegsrechtes im Dezember 1981. Mit Hilfe deutscher Freunde konnte er dann jedoch mehrjährige Gastaufenthalte und Gastprofessuren an verschiedenen deutschen Universitäten bekommen und so dem vom Kriegsrecht gebeutelten Polen entkommen. Jahrzehnte später sollte er häufig erzählen, wieviel Unglaube und Verwunderung ihm von deutschen Studenten und Zuhörern entgegenschlug, wenn er die friedliche Massenbewegung der Solidarnosc als den Anfang vom Ende des kommunistischen Zeitalters beschrieb und den Fall der Mauer in wenigen Jahren prophezeite.
Mit dem Sieg der Friedlichen Revolution von 1989 und dem Beginn eines neuen Polen, setzte für Wladyslaw Bartoszewski eine späte diplomatische Karriere ein. Von 1990 bis 1995 wurde er polnischer Botschafter in Wien und bekleidete in den kommenden Jahren zweimal das Amt des polnischen Außenministers. Ob unter einer Regierung der postkommunistischen Sozialdemokraten der Sojusz Lewicy Demokratycznej (SLD), wie im Jahre 1996, oder Jahre später unter einer Koalition von Solidarnosc-Kräften, blieb er stets seinem Anspruch treu, auf dem Fundament von Wahrheit und Aufrichtigkeit für die deutsch-polnische Annäherung und Versöhnung zu wirken.
Als überzeugter Europäer setzte er sich für einen Platz Polens in der Europäischen Union ein und war ein scharfer Gegner aller nationalkonservativen Verengungen und der Alleingänge polnischer Politik unter den Gebrüdern Kaczynski. Er hatte die Größe, polnisches Unrecht an Deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges deutlich zu benennen, reagierte aber sehr empfindlich auf alle Versuche eines späten deutschen Geschichtsrevisionismus, einer Minimierung deutscher Schuld auf Kosten der Opfer.
Auch ohne Ministeramt blieb er als verantwortlicher Staatssekretär die Schlüsselperson für die Weiterentwicklung und Ausgestaltung der deutsch-polnischen Beziehungen. Er sah deren Qualität als Chance für die Unterstützung demokratischer Kräfte im Osten Europas, vor allem in Russland und der Ukraine. Darin bestand für ihn das wirksamste Mittel, in der Abwehr aktueller und künftiger Nationalismen.
Wortgewaltig und polemisch, wenn es sein musste, war er ein gefragter Diskussionspartner und Vortragsredner. Noch in seinen letzten Lebensjahren stand er dafür gern zur Verfügung, bat jedoch mit dem ihm eigenen Humor darum, nicht der älteste eingeladene Teilnehmer zu sein.
Mit seinem Tod fehlt eine außergewöhnliche Persönlichkeit und unverwechselbare Stimme im europäischen Dialog. Sein leer gewordener Platz wird nur schwer auszufüllen sein.
Zitierweise: Wolfgang Templin, Wladyslaw Bartoszewski - Ein Leben für die Verständigung, in: Deutschland Archiv, 10.6.2015, Link: http://www.bpb.de/207861