In einem Buch mit dem programmatischen Titel "Mit der Teilung leben. Eine gemeindeutsche Aufgabe" bezeichnete 1965 der Theologe Erich Müller-Gangloff die Wiedervereinigung als Lebenslüge der Deutschen. "Ein Gespenst geht um bei den Deutschen und hält die Welt in Verwirrung. Es heißt Wiedervereinigung [...] Es ist bei allen denkfähigen Menschen - mehr und mehr auch unter den Deutschen - ein offenes Geheimnis, dass es eine Wieder-Vereinigung im Wortsinn der Herstellung eines vergangenen Zustandes nicht geben wird. Und ob irgendwann so etwas wie eine Neuvereinigung oder überhaupt eine Vereinigung der getrennten Teile unseres Volkes geschehen kann, ist absolut ungewiß [...] Das Gespenst muß gebannt werden, der Lebenslüge lebendige Wahrheit konfrontiert werden."
So wie Müller-Gangloff waren die meisten Intellektuellen und viele Politiker - letztere selten explizit - in der Bundesrepublik der Meinung, dass die "Wiedervereinigung" historisch verspielt sei und zudem eine Frieden und Sicherheit gefährdende Forderung darstelle. Sie anzumahnen, war in den letzten zwei Jahrzehnten, nach dem Beginn der Ostpolitik, eine Sache, die man den Vertriebenenverbänden und Sonntagsrednern überließ.
Für die ehemaligen Kriegsgegner Deutschlands und insbesondere die vier, nunmehr untereinander verfeindeten, Siegermächte des Zweiten Weltkrieges stellte sich die Lage überschaubar und in gewisser Weise komfortabel dar: Die Sowjetunion und die Westmächte hatten je "ihre" Deutschen, fest eingebunden in die beiden verfeindeten Bündnissysteme. Der Ost-West-Konflikt eröffnete der Bundesrepublik die historisch einzigartige Chance, aus einer totalen Niederlage und trotz aller Widersprüchlichkeiten und Konflikte einen Neuanfang zu wagen und diesen Teil des Landes aus seiner alten, problematischen "Mittellage" zu befreien und fest im Westen zu verankern. Die Alternativen Wiedervereinigung oder Westorientierung, die in den ersten Jahren der Bundesrepublik leidenschaftlich diskutiert wurden, stellten sich in der Realität nicht. Die Wieder- oder Neuvereinigung rückte in immer weitere Ferne – und das war den Nachbarn Deutschlands im Osten und im Westen durchaus genehm.
In der Bundesrepublik betonten zwar alle Bundesregierungen den Auftrag des Grundgesetzes, die Einheit Deutschlands in Freiheit zu erstreben, sahen sich aber angesichts der Weltlage gezwungen, mit denen Realpolitik zu betreiben, die diesem Ziel im Wege standen, der Führung der Sowjetunion und ihren, wie es in den 1950er Jahren hieß, "Statthaltern in der Zone" – die Bezeichnung DDR war bis zum Ende der 1960er Jahre verpönt, allenfalls wurde von ihr in "Gänsefüßchen" gesprochen. Die Wiedervereinigung war für die übergroße Mehrheit der Westdeutschen kein Problem: man hielt sie allgemein für wünschenswert, glaubte aber nicht daran, dass sie zu realisieren sei.
Als aber der damalige Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit, Theo Sommer, 1989 äußerte, dass es Zeit sei, die Idee der Einheit Deutschlands zugunsten der Freiheit der Deutschen in der DDR aufzugeben, erntete er heftigen Widerspruch.
Wie realistisch die Einschätzung Helmut Schmidts in Bezug auf die Nachbarn war, wurde deutlich, als, entgegen allen Erwartungen, die politische Revolution in der DDR erfolgreich war und in eine nationale Bewegung mutierte, die alle Gewissheiten der Zeiten der Blockkonfrontation und des Kalten Krieges außer Kraft setzte: Letztendlich, bedingt durch politische Einsicht und die eigene Schwäche, wurde die "deutsche Frage" nicht durch sowjetische Panzer, sondern durch Verhandlungen gelöst, deren Auslöser nicht beharrliche Diplomatie, sondern eine politische Revolution war.
"Don’t trust the Germans" – Skepsis bei den Nachbarn
Die plötzliche Einheit Deutschlands und nur drei Jahre später der Kollaps des sowjetischen Imperiums haben das Gefüge des europäischen Staatensystems fundamental verändert. Da nimmt es nicht Wunder, dass dieser Prozess von den Nachbarn Deutschlands mit gespannter Aufmerksamkeit, häufig auch mit Skepsis und Misstrauen, verfolgt worden ist. Angesichts der historischen Erfahrungen mit "nationalen" Bewegungen und Politiken im Allgemeinen und dem deutschen Nationalismus im Besonderen konnte das kaum erstaunen. Für die Nachbarn war es ja nicht sicher, dass ein vereintes Deutschland nicht an alte Hegemonialphantasien anknüpfen würde. Die latente Furcht vor einem "Vierten Reich" war durchaus verbreitet.
Die Ursachen für die relativ konfliktfreie Wiedererrichtung eines deutschen Nationalstaates sind vielfältig. Ein Anschluss an tradierte Konzepte und territoriale Ansprüche, die im Osten Europas noch heute für massive Konflikte sorgen, war nach der Erfahrung des Nationalsozialismus schlichtweg unmöglich. Die internationalen und vertraglichen Rahmenbedingungen – der Zwei-plus-Vier-Vertrag und die Intensivierung des europäischen Einigungsprozesses – vertieften auf Dauer die Westbindung der neuen Bundesrepublik und schufen Verfahren, mit dem unvermeidlichen Machtgewinn Deutschlands umzugehen.
Dass die alten Ängste gleichwohl noch unter der Oberfläche latent sein können, zeigen nicht nur gelegentliche Karikaturen deutscher Politiker, wahlweise in Wehrmachts- oder SS-Uniform, sondern immer wieder auch Kommentare in der Presse. Sie sind jedoch heute nur noch selten so massiv, wie in der konservativen britischen Tageszeitung Daily Mail, die im August 2011 in ihrer Online-Ausgabe einen Artikel über ein Treffen der deutschen Bundeskanzlerin mit dem französische Präsidenten anlässlich der europäischen Finanzkrise überschrieb: "Rise of the Fourth Reich, how Germany is using the financial crisis to conquer Europe". Das zentrale Argument lautete, dass Deutschland in den 60 Jahren seit dem Ende des Krieges "den Frieden so umfassend gewonnen [hat], wie es den Krieg verloren hat."
Dies ist eine in der meinungsbildenden Presse heutzutage eher seltene, in den Jahren nach 1989/90 aber durchaus verbreitete Wahrnehmung der Rolle des vereinten Deutschlands. Im Vorfeld und Verlauf des deutschen Einigungsprozesses waren Äußerungen wie diese häufig zu vernehmen.
"Don’t trust the Germans" (Vertraut den Deutschen nicht) hatte Roger Scruton, ein Vordenker der Konservativen in Großbritannien, auf dem Höhepunkt einer Diskussion über die Stationierung neuer atomarer Kurzstreckenraketen in Europa und am Vorabend des NATO-Gipfels im Juni 1989 einen Artikel im konservativen Sunday Telegraph überschrieben. Die West-Deutschen seien nicht länger gewillt, die Politik des Westens zu unterstützen. Sie liebäugelten mit der Neutralität und einseitiger Abrüstung. Dies aber gefährde die westliche Allianz und unterstütze das langfristige Ziel sowjetischer Politik, die Amerikaner aus Europa zu vertreiben. Nicht Friede und dauerhafte Entspannung, nicht ein gemeinsames europäisches Haus werde das Ergebnis dieses Prozesses sein, sondern der Eiserne Vorhang werde gelüftet, um dann wieder zu fallen: im Atlantik.
In besonders scharfer Form wurde an historische Muster deutscher Politik erinnert, welche aus der Mittellage Deutschlands einen besonderen Führungsanspruch abgeleitetet hatten. Erst die Bundesrepublik Deutschland hatte sich eindeutig für die politischen Ideale westlicher Demokratien entschieden. Die meisten Menschen - nicht zuletzt die meisten Westdeutschen - wollten keine Restauration deutscher Hegemonie in Europa. Viele kritische Intellektuelle in Deutschland und im Ausland stellten aber die Frage, ob und inwieweit diese Entscheidung dauerhaft sei, und ob sie nicht vor allem auf einem ideologischen Motiv beruhte: der Ab-grenzung gegenüber dem Kommunismus und der Kennzeichnung der freiheitlichen, westlich geprägten Demokratie als Gegenmodell zur totalitären Diktatur in der Sowjetunion und besonders in der DDR. Was würde geschehen, nachdem dieses Feindbild verschwunden war und "die Deutschen" auf sich allein gestellt wären. Würden sie, nunmehr die größte Nation in Europa, an ihre alten Sichtweisen und Gewohnheiten anknüpfen oder sich weiterhin aus Überzeugung den westlichen liberalen Demokratien zugehörig fühlen.
"Unsere Deutschen" – voll integriert
Allgemein wurde anerkannt, dass Deutschland sich in seinem westlichen Teil zu einer gefestigten Demokratie entwickelt hatte. Der britische Historiker Timothy Garton Ash argu-mentierte, dass die Westdeutschen ihre Demokratie, ihre Marktwirtschaft und ihre Rechtsordnung nicht just dann aufgeben würden, "wenn Ostdeutsche, Polen und Ungarn sie übernehmen wollten."
Bevor die Deutschen vom Wind aus dem Osten berührt worden waren, seien "unsere" Deutschen voll integriert gewesen, meinte der französische Spitzendiplomat Claude Cheysson in einem BBC-Interview am 28. Mai 1989. Man müsse jetzt darauf achten, dass es so bleibe. Diese Auffassung meint nicht mehr, aber auch nicht weniger, als dass den unverkennbaren Differenzierungen im östlichen Lager nicht minder bedeutsame im Westen gegenüberstanden.
Das Unbehagen, die Deutschen könnten neue geopolitische Optionen anstreben, war bereits im Vorfeld des deutschen Einigungsprozesses artikuliert worden. In der Bundesrepublik mehrten sich Stimmen, die einer Wiederauflage alter Neutralitätsvorstellungen gleichkamen und Befürchtungen im Westen über einen "German Alleingang" nährten. Dass diese Furcht durchaus verbreitet war, zeigen eine Vielzahl von Pressekommentaren in den Jahren 1989/90. So bemerkte beispielsweise Peter Kellner im Sommer 1989 in The Independent unter dem beziehungsreichen Titel "Die Deutschen an der Leine halten": "Wenn Westdeutschland nicht wirkungsvoll an die internationale Gemeinschaft gebunden wird, könnte dem innenpolitischen Druck, einen ‚Alleingang’ zu machen und dabei Österreich und Ostdeutschland in seinen Einflußbereich zu bringen, schwer zu widerstehen sein."
"Deutschland wird nach der Macht trachten, um das Schicksal Europas zu bestimmen. Der einzige Weg, das Risiko dieser Situation zu reduzieren, würde darin bestehen, die Bonner Regierung immer enger an die Gemeinschaft freier Nationen zu binden. Wenn wirtschaftliche Bande militärische Allianzen ersetzen, heißt das, daß die EG wichtiger wird als die NATO."
Auch in Frankreich löste die Perspektive einer deutschen Vereinigung aufgrund der negativen historischen Erfahrung mit Deutschland Befürchtungen aus. Die Presse überschlug sich in Horrorvisionen. "Auf dem Weg zu einem wirtschaftlichen IV. Reich," schrieb - ohne Fragezeichen - die bürgerlich-konservative Wochenzeitung Le Point.
Die Veränderungen in Deutschland, darüber bestand kein Zweifel, wiesen Deutschland eine führende Rolle in Europa zu oder, wie es in einem Kommentar der International Herald Tribune hieß: "Deutschland wird der Kopf des Europäischen Hauses sein."
Abschied von alten Gewissheiten
Hans-Dietrich Genscher und Theo Waigel unterzeichnen 1992 im niederländischen Maastricht den Vertrag über die Europäische Union (© picture-alliance/dpa)
Hans-Dietrich Genscher und Theo Waigel unterzeichnen 1992 im niederländischen Maastricht den Vertrag über die Europäische Union (© picture-alliance/dpa)
Vor diesem Hintergrund ist die Diskussion über die NATO-Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschlands und die Vertiefung des europäischen Einigungsprozesses zu sehen, der schließlich über Maastricht und Nizza nach Lissabon führte.
Wenn die Rationalität des westlichen Bündnisses in den Worten von Churchills militärischem Berater und ersten NATO-Generalsekretär, Lord Ismay, darin bestand, "die Amerikaner drin, die Russen draussen und die Deutschen unten zu lassen" ("to keep the Americans in, to keep the Russians out, and to keep the Germans down"), so stellte sich für die westlichen Beobachter der Politik der Bundesrepublik im Jahre 1989 die Frage, ob und wie diese Formel verändert werden müsse. Diese Strategie habe solange Sinn ergeben, wie die Sowjetunion ihre Rolle als "Meister des Reiches des Bösen" gespielt habe. "Die russische Bedrohung rechtfertigte die Notwendigkeit der NATO, während die Stärke der NATO die Deutschen davon abhielt, auf ‚dumme Gedanken’ bezüglich ihrer Lage zu kommen. Plötzlich sah alles anders aus."
Nigel Hawkes, außenpolitischer Redakteur des liberalen Observer, nannte in einem Artikel über das Ende des Kalten Krieges den aus der Sicht vieler Briten entscheidenden Aspekt aller dieser Überlegungen zur Überwindung und Auflösung der Blöcke und einer Demokratisierung Osteuropas: die Angst vor einem von Deutschland dominierten Europa, das in der Vergangenheit nie ein Rezept für Frieden und Stabilität gewesen sei.
Solange der Kalte Krieg das Klima in Europa bestimmte, waren die Deutschen sicher im westlichen Bündnis verankert. Als sich angesichts der inneren und äußeren Wandlungen der östlichen Führungsmacht Sowjetunion weitreichende Veränderungen der europäischen politischen Landschaft andeuteten, machte sich eine gewisse Unsicherheit darüber breit, wohin der Weg der Deutschen führen werde.
Peter Tarnoff, der Präsident des US-amerikanischen Think-Tanks Council on Foreign Relations, notierte sogar eine "bizarre Nostalgie" für den Kalten Krieg.
So war in der amerikanischen Presse bereits vor dem November 1989 eine Unsicherheit zu registrieren, die mit der Tatsache zu tun hatte, dass alte Gewissheiten in die Brüche gingen, alte Feindbilder revidiert und neue politische Strategien gefunden werden mussten. Es ging um die Neueinschätzung der politischen Kräfteverhältnisse in Europa, die neue Rolle der Sowjetunion und die Stellung Deutschlands im "europäischen Haus".
Rolle des vereinigeten Deutschlands nach wie vor umstritten
Lässt man die seinerzeitigen Debatten bei den drei ehemaligen Westalliierten noch einmal Revue passieren, so fallen deutlich unterschiedliche Gewichtungen auf. Für die Weltmacht USA stand die Frage der Sicherheit – und das heißt auf den Punkt gebracht: die NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands – im Zentrum aller Überlegungen. Dies vermag nicht zu verwundern angesichts der Tatsache, dass die Sowjetunion noch existierte und niemand eine verlässliche Prognose wagte, wohin die Entwicklung des krisengeschüttelten "Giganten" letztendlich führen werde. Für die westlichen europäischen Nachbarn stellte sich die deutsche Frage vor allem als europäische Frage. Wie konnte es gelingen, das nunmehr größte Land und die schon zuvor dominante Wirtschaftmacht in Europa so zu zügeln und einzubinden, dass es keinen deutschen "Alleingang" geben werde. ("German Alleingang" ist übrigens ein Terminus, der Eingang in den englischen Wortschatz gefunden hat.)
In gewisser Weise ist es eine Ironie der Geschichte, dass aus Furcht vor einem "deutschen Europa" (Thomas Mann) eine europäische Integrationsdynamik freigesetzt wurde, die bis heute nachwirkt. Diese Integrations- und Erweiterungsdynamik konnte freilich nicht bewirken, dass die Frage, welche Rolle Deutschland in Europa und der Welt spielen soll und kann, einvernehmlich beantwortet werden konnte. Sowohl im Rahmen der nunmehr auf 28 Mitglieder erweiterten Europäischen Union, als auch in der internationalen Arena sind die Erwartungen an Deutschland und die deutsche Politik so vielfältig und widersprüchlich, dass es schwer fällt, daraus konkrete Handlungsoptionen für die deutsche Europa-, Außen- und Sicherheitspolitik abzuleiten.
Mit dem zeitlichen Abstand von einem Vierteljahrhundert zu den historischen Umwälzungen der Jahre 1989 bis 1992 ist zu konstatieren, dass die alten Wahrnehmungsmuster, die noch von den Erfahrungen deutschen Größenwahns und dem manichäischen Denken des Kalten Krieges geprägt waren, obsolet geworden sind. Selbst dann, wenn, wie in der Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre nach 2008, konstatiert wird, dass Deutschland in Europa eine wichtige, wenn nicht gar eine Führungsrolle innehat, sind die Reaktionen auf diesen Umstand höchst unterschiedlich: Sie reichen, wie man in Griechenland beobachten konnte, von der Beschwörung historisch geprägter Ängste vor so etwas wie einem "Vierten Reich" bis hin zu Aufforderungen, die unvermeidliche Führungsrolle zu akzeptieren unnd kraftvoll auszuüben. Ein Weg aus diesem Dilemma muss erst noch gefunden werden.
Zitierweise: Gert-Joachim Glaeßner, Kann man den Deutschen vertrauen? Ein Rückblick nach einem Vierteljahrhundert deutscher Einheit, in: Deutschland Archiv, 22.8.2014, Link: www.bpb.de/186729