Viel wurde bisher über den SED-Staat veröffentlicht und die Diskussionen werden auch heute noch kontrovers geführt, aber eine Frage blieb dennoch weitestgehend unbeachtet, nämlich die, wie die politische Konformität der Masse erreicht wurde. Das Heer der Mitläufer hat dieses System über Jahrzehnte gestützt. Die Angepasstheit großer Teile der Bevölkerung wurde nicht allein durch den Drohfaktor des Ministeriums für Staatssicherheit erreicht. Es gab daneben diverse Zwänge und Abhängigkeiten, die den Untertanengeist beförderten. Ein wichtiger Aspekt war die politische Fremdbestimmung über Gruppen, der jeder Bürger ausgesetzt war und die dem Machterhalt diente.
1. Gruppenleben in der DDR
Das Gruppenleben war in der DDR vielschichtig. Die kindliche Entwicklung führte über Kinderkrippen, Kindergärten hin zum Schulkollektiv. Hier wurden erste Grundsteine für Anpassung, Unterordnung und politische Fremdbestimmung gelegt, denn es ging nicht allein um die Förderung der individuellen Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen, mit Hilfe der Pionierorganisation und Freien Deutschen Jugend (FDJ) erfolgte die Beeinflussung hin zur "richtigen politischen" Meinungsäußerung.
Dass diese Einflussnahme von Spiel, Spaß und Sport begleitet wurde, gehörte zum Konzept. Die Kinder waren stolz auf ihr Halstuch und an Jugendtanz mit blauer FDJ-Bluse erinnern sich viele heute noch gerne, fanden sie dabei doch vielleicht ihre erste große Liebe.
Die das frühe Leben begleitende politische Vereinnahmung und die Abwertung der Individualität erfolgten schleichend und wurden kaum bemerkt, denn schließlich machten (fast) alle mit. Ein Kind, das nicht zu den Pionieren gehörte, stand abseits, war ausgestoßen, durfte nicht an den Bastelnachmittagen und Geländespielen teilhaben. Wer wollte so etwas seinen Kindern antun? Die politische Vereinnahmung war der Preis, den jeder "bezahlen" musste, der dazugehören wollte.
Beim Erwachsenen war die Fremdbestimmung durch Gruppenmeinungen aufgrund dieser Entwicklung in Kindheit und Jugend bereits stark ausgeprägt. Egal, welcher Gruppe der Einzelne beitrat, die politische Vereinnahmung war allgegenwärtig. Selbst die Kleingartenvereine blieben davon nicht verschont. Sie beschlossen ihre Programme auf der Grundlage der SED-Parteitage. "Parteigruppenorganisatoren der Spartenvorstände" und die "Genossen Spartenvorsitzenden" organisierten den "sozialistischen Wettbewerb", und weil die Kleintierzucht eine rückläufige Tendenz zeigte, schätzen sie ein, dass ihnen der Beschluss des SED-Politbüros vom 22. Januar 1980 eine große Unterstützung sein würde.
Die Bedeutung und Stellung des Arbeitskollektivs werden heute vielfach einseitig dargestellt. In der individuellen Rückschau erinnern sich viele nur daran, dass sie Arbeit hatten und dazugehörten. Dass die Arbeitsbedingungen, insbesondere in der Produktion, oft katastrophal waren, die Löhne kärglich ausfielen, die Arbeitskräfte aufgrund von fehlendem Material gar nicht voll ausgelastet waren und dass es Scheinbeschäftigungen in der Verwaltung ohne Auslastung des Arbeitsvermögens gab, wird oftmals schlichtweg verdrängt.
Auch wird selten hinterfragt, wie sehr die politische Einflussnahme und die Kontrolle des Einzelnen über den Arbeitsprozess aufgrund von diversen Abhängigkeiten organsiert waren. Die Einbindung der Masse in den Arbeitsprozess hatte, was heute die Akten belegen, nicht nur die Aufgabe der Versorgung, sondern sie trug dazu bei, politisches Wohlverhalten einzufordern.
2. Arbeitskollektiv – Lebenszentrum mit Abhängigkeiten
Der DDR-Alltag war vom permanenten Mangel bestimmt, der fast jeden Lebensbereich der Bürgerinnen und Bürger berührte. Am meisten bedrückte die große Wohnungsnot. Familien lebten zusammengepfercht in kleinen Wohnungen von schlechter Qualität. Die Häuser zerfielen, weil kein Baumaterial vorhanden war, Hauseigentümer durften nicht bestimmen, wer Mietverträge bekam.
Die Wohnungskommissionen der örtlichen staatlichen Räte arbeiteten eng mit den Betrieben zusammen. Das eigentliche Verteilungsverfahren fand auf der Arbeitsstelle statt, denn Mitglieder der gewerkschaftlichen Wohnungskommissionen in den Betrieben befanden über die Dringlichkeit der Wohnungsanträge und unterbreiteten Vorschläge für eine gerechte Verteilung.
Den Bürgern war bewusst, dass sie eine "positive" Beurteilung ihrer Person benötigten. Viele waren dafür bereit, politische Kompromisse einzugehen. Felix D. war in der Erwartung, sein Wohnungsproblem zu lösen, sogar in die SED eingetreten. Allerdings musste er später erkennen, dass dieser Schritt völlig umsonst war. Am 6.12.1979 wurde er aus der SED ausgeschlossen, in der Begründung heißt es: "Felix D. verstieß laufend gegen die Normen des Parteistatuts. Er nahm nicht an den Mitgliederversammlungen und dem Parteilehrjahr teil. Trotz Aussprachen vor der APO
Politisches Wohlverhalten führte nicht zum Erfolg. Felix D. hatte eigentlich überhaupt kein Interesse an dieser Parteimitgliedschaft. Sein Zugeständnis war rein zweckgebunden. Dieser Mann hatte allerdings den Mut, offen auszusprechen, was er dachte. Die Mehrheit tat es nicht, sondern hoffte weiter darauf, dass ein angepasstes Leben die Sorgen des Alltags erträglicher machen würde.
3. Anspruch auf Informiertheit des Arbeitskollektivs
Die Einbindung in das Arbeitskollektiv war mit dem Anspruch verbunden, dass der Einzelne bereitwillig Einblicke in sein Privatleben gestattete. In den Arbeitskollektiven herrschte eine große Vertrautheit. Das haben viele durchaus als angenehm empfunden, konnten sie sich doch über ganz private Probleme, wie Kindererziehung, Wohnungsnot, Ehekrisen und Nachbarschaftsstreitigkeiten austauschen.
Verweigerte jemand die Preisgabe seines Privatlebens, so kam er schnell in die Kategorie Außenseiter. Die Leiterin eines Kindergartens vermerkte zum Beispiel über eine Erzieherin am 22. November 1976: "Sie fühlt sich ihrer Familie sehr verbunden und läßt uns nur spärlich an ihren Freuden und Sorgen teilhaben."
Ein Verhalten, das lobend eingeordnet wurde, liest sich in den Akten am 12. Juni 1976 so: "Zu den Kolleginnen des Kollektivs fand Koll[egi]n F. sehr schnell Kontakt und war auch bestrebt, die Aufgaben des Kollektivs mit zu lösen. Zwischen Kollegin F. und den Kolleginnen entwickelten sich gute zwischenmenschliche Beziehungen wie Hilfsbereitschaft, gegenseitige Achtung, Vertrauen (...)".
Wer im Arbeitskollektiv Anerkennung bekommen wollte, musste dem Informationsbedürfnis der Gruppe nachgeben. Das führte oft zu Klatsch und Tratsch in den Betrieben mit möglichen Konsequenzen, die dem Betroffenen völlig verborgen blieben.
4. Informationsquelle Arbeitskollektiv
Die große Vertrautheit in den Arbeitskollektiven war bei der Überwachung der DDR-Bevölkerung von Bedeutung. Das wurde allerdings kaum bewusst wahrgenommen, denn es blieb den Arbeitskollegen verschlossen, wer welche Informationen zu welchem Zweck abrief. Jeder hatte im Betrieb eine Kaderakte, die ihn wie ein geheimnisvoller Schatten von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle begleitete, aber der Inhalt dieses Dossiers blieb dem Betroffenen völlig verborgen, denn ein Recht auf Einsichtnahme gab es nicht.
Wie bereitwillig die Informationsquelle Arbeitskollektiv funktionierte, zeigt sich in den Akten im Zusammenhang mit der Genehmigung einer Reise aus dringenden familiären Gründen in die Bundesrepublik. Ein West-Reisekandidat, der zur Silberhochzeit, zum runden Geburtstag oder zur Beisetzung von Vater und Mutter ausreisen wollte, war ein potenzieller "Republikflüchtling" und wurde sehr genau "unter die Lupe" genommen, auch durch das Arbeitskollektiv. Die "Arbeitsstelle" erhielt ein "Zustimmungsrecht" zu dieser Reise
26. Juni 1973 "Genossin H. geht im Oktober in Rente. Ihr Ehegatte ist Invalidenrentner. Uns ist bekannt, daß sie sich abfällig über ihre Ehe geäußert hat und vor Jahren die Scheidung in Erwägung gezogen hat."
19. Oktober 1981 "In den letzten Jahren war sie sehr anfällig an ihrer Gesundheit (...) Besonders litt Koll[egi]n F. darunter, daß ihr Sohn P. geb. (...) wegen Betrugs mehrfach vorbestraft wurde."
20. April 1982 "Die Ehe der Kollegin B. ist kinderlos. Ihr Ehemann leidet seit Jahren an einer schweren Rheumaerkrankung. Die Familie hat sich ein gemütliches Heim geschaffen. Ihr Hobby ist die Pflege eines Pudels, für den sie viel Zeit und Tierliebe aufwenden."
04. Dezember 1984 "Fam. R. bewohnt eine gut eingerichtete Dreiraumwohnung in Lütten -Klein. Finanzielle Schwierigkeiten sind mir nicht bekannt. Sie führt ein ordentliches Familienleben. Gesundheitlich leidet sie stark unter Rückenschmerzen."
14. April 1986 "Sie ist verheiratet und Mutter von vier Kindern. Ihr Mann und der älteste Sohn fahren zur See. Mit den Kindern hat sie verhältnismäßig sehr große Probleme. Besonders zu dem ältesten Sohn, der zur See fährt, besteht ein besonders gespanntes Verhältnis. Frau L. bewohnt eine 2 1/2 Neubauwohnung in (...), die sehr gut eingerichtet ist. Sie besitzen einen Lada. Finanzielle Schwierigkeiten sind nicht bekannt."
28.02.1989 "Koll[egi]n P. ist verheiratet und bewohnt mit ihrem Mann und zwei erwachsenen Söhnen eine 4-Raum-Neubauwohnung. Die Familie ist gut eingerichtet, verfügt aber über keine größeren Besitztümer. Frau P. kümmert sich sehr viel um ihre kranke Mutter in (...) und beschäftigt sich in ihrer Freizeit vorwiegend mit Handarbeiten."
Diese Beispiele verdeutlichen, wie selbstverständlich über das Privatleben der Arbeitskollegen geurteilt wurde. Die Entscheidungsträger mussten diese Informationsquelle lediglich abrufen, aber in welchem Umfang Auskünfte gegeben wurden, hing sehr von den Charakteren ab, die Verantwortung trugen und informieren sollten. Wer als Vorgesetzter nur kurz und knapp seine Zustimmung zur Westreise des Kollegen erklärte, ohne auf persönliche Schwierigkeiten oder politisch zweifelhafte Auffassungen des Reisekandidaten hinzuweisen, ging ein großes Risiko ein.
5. Gruppentribunale
In der DDR gab es Gruppentribunale, um das Individuum "zu erziehen" oder auch für seine Angepasstheit zu loben.
Beging ein Arbeitskollege eine Straftat, so konnte das Arbeitskollektiv eine "Bürgschaft" übernehmen und dem Gericht vorschlagen, eine Strafe ohne Freiheitsentzug auszusprechen. Wenn das Gericht dem folgte, so war das Kollektiv "verpflichtet, die Erziehung des Rechtsverletzers zu gewährleisten."
Die Machtverhältnisse waren eindeutig. Die Gruppe dominierte die Entscheidung und der Einzelne konnte nur um Wohlwollen bitten, denn er war sich der Abhängigkeiten durchaus bewusst. Ein Beispiel aus den Akten soll aufzeigen, welche Konsequenzen es hatte, wenn jemand die dominante Rolle der Arbeitskollektive negierte:
Frau B. wollte als Invalidenrentnerin ihre kranke Tante in der Bundesrepublik besuchen. Obwohl sie schon aus dem Arbeitsleben ausgeschieden war, benötigte sie die Zustimmung der letzten Arbeitsstelle für diese Reise. Am 29. Oktober 1985 gab das Kollektiv diese Stellungnahme ab:
"Nach Rücksprache mit der Kollegin erfuhren wir, daß ihre 75-jährige Tante sich einer Operation unterziehen muß und den Wunsch hat, ihre Nichte noch einmal zu sehen. Wir sind der Meinung, daß Koll[egi]n B. schon weiten Abstand vom Kollektiv gewonnen hat, denn sonst hätte sie uns sicher von ihrem Vorhaben in Kenntnis gesetzt. Koll[egi]n B. ist seit einem ¾ Jahr Invalidenrentner, daher ist unser Kollektiv der Meinung, daß die Koll[egi]n B. den Antrag verfrüht gestellt hat. Zu einem späteren Zeitpunkt würde das Kollektiv auf Grund der geleisteten Arbeit im Kindergarten keinen Einwand haben."
Wäre Frau B. vor ihrer Antragstellung mit einem Kuchen im Kindergarten vorstellig geworden und hätte um das Wohlwollen der Kollegen gebuhlt, wäre die Stellungnahme vielleicht anders ausgefallen. Außerdem wussten die Schreiber, dass Frau B. den Inhalt dieser Mitteilung nicht zur Kenntnis bekam. Sie mussten sich vor ihr selbst nicht rechtfertigen und konnten den eingeräumten Machtspielraum hinter dem Rücken der Frau selbstherrlich ausnutzen.
Wie wichtig es für den Einzelnen war, mit dem Gruppenleben in Eintracht zu stehen, zeigt ein weiterer Aktenvorgang auf. Kapitän Jürgen R. war 30 Jahre lang im VEB Deutsche Seereederei tätig. 1984 besuchte er während seiner letzten Reise heimlich Verwandte in Neumünster und erlaubte auch dem E-Ingenieur "BRD-Verwandte aufzusuchen", was als "grober Verstoß gegen die Klassenwachsamkeit" gewertet wurde.
"Ich hatte mit einer strengen Bestrafung gerechnet, die eingeleiteten Maßnahmen waren jedoch äußert hart. Die fristlose Abberufung, Streichung des Sichtvermerks, Arbeitsverbot in allen Kombinatsbetrieben und der wahrscheinliche Ausschluß aus der Partei sind für mich ein politisches, gesellschaftliches und berufliches Aus, von dem ich mich niemals wieder erholen kann. Dabei wiegt natürlich eine Parteiausschluß sehr schwer. Jeder Betrieb wird mit Recht skeptisch sein, einen mit den disziplinarischen Höchststrafen des Gesetzbuches der Arbeit und des Parteistatuts bestraften Genossen einzustellen. In Anbetracht meiner 30jährigen Dienstzeit im Kombinat und 18jährigen Tätigkeit als Kapitän wage ich die Bitte zu äußern, von einem Ausschluß noch einmal abzusehen, um mir außerhalb des Kombinates einen neuen Anfang zu ermöglichen." Doch auch diese Bitte wurde ihm verwehrt. Am 9. Januar 1985 erfolgte der Ausschluss aus der SED wegen "politisch verantwortungslosem Verhalten", "persönlicher Bereicherung" und "Raffgier". Jürgen R. war für das Gruppentribunal nur noch "Abschaum" und so sah er sich auch selbst:
"Werde Schwierigkeiten haben, Arbeit zu bekommen (…) wollte gerne doch noch irgendwie im Hafen arbeiten, aber das geht wohl nicht, wer nimmt schon so einen."
Die anerzogene Abwertung der Individualität kommt in den vom Bestraften selbst gewählten Worten "wer nimmt schon so einen" zum Ausdruck. Der Kapitän war ein Ausgestoßener, dem der schwere Weg bevor stand, eine neue, anerkannte Einbindung in die gesellschaftlichen Gruppen zu finden.
6. Politische Erziehungsfunktionen
Die SED-Funktionäre waren sich der Vorteile der Einflussnahme über die Arbeitskollektive wohl bewusst und nutzten diese Mechanismen auch, um politische Probleme, wie den drastischen Anstieg von Ausreiseanträgen in die Bundesrepublik in den Griff zu bekommen. So heißt es in einer "Vertraulichen Verschlußsache" des Innenministers der DDR, Friedrich Dickel, dass zur Zurückdrängung dieser Anträge eine "breite gesellschaftliche Front" geschaffen werden solle.
Diese Gespräche forderte die Staatssicherheit ein, sie wurden bei "geringsten Anzeichen auf ein baldiges illegales Verlassen der DDR", zum Beispiel dem Verkauf von Möbeln oder Auflösen von Konten, zwangsweise abgehalten. Je nach "operativem Nutzen" fanden die Gespräche unvorbereitet auf der Arbeitsstelle oder auf dem Polizeirevier statt. Die Staatssicherheit appellierte an alle "fortschrittlichen" Kräfte, hier mitzumachen, ausdrücklich aufgeführt: "Vertreter der örtlichen Organe, Funktionäre aus dem Betrieb, Autoritätspersonen aus dem Arbeitskollektiv, Funktionäre von Parteien und Massenorganisationen, die zu ihnen im Wohn- und Freizeitbereich Kontakt haben".
Die Frage, ob jemand tatsächlich eine solche Ausreise beabsichtigte, war unwichtig. Das Ziel war, den in Verdacht geratenen Bürger einzuschüchtern. 1984 verschärfte sich der Ton. Der Staatssekretär Kurt Kleinert übermittelte in einer "Vertraulichen Verschlußsache", was die politische Führung von den Arbeitskollektiven erwartete:
"Durch die Leiter der Betriebe (…) ist in jedem Einzelfall konkret zu prüfen und festzulegen, welche weiteren Formen und Methoden der politisch-ideologischen Einflussnahme unter Beachtung der konkret vorhandenen Bedingungen weiter anzuwenden sind. Stärker als bisher sind dabei die Möglichkeiten der Arbeitskollektive zur unmittelbaren und wirksamen Einflussnahme auf die Zurückdrängung von ersten Anzeichen auf eine beabsichtigte Übersiedlung sowie eine offensive Zerschlagung bereits bestehender Übersiedlungsabsichten einzusetzen. Dort, wo Übersiedlungsersuchende arbeiten, wo man sie am besten kennt, sind alle aufrichtigen und klassenbewussten Bürger, der ‚Kollege nebenan’, in die offensiven Auseinandersetzungen mit solchen Personen einzubeziehen. Diese Auseinandersetzungen in den Arbeitskollektiven müssen frühzeitig beginnen, bereits bei den ersten Anzeichen, ohne auf eine offizielle Aufforderung zu warten. Bei Versuchen solcher Personen, sich gegen die Kollektive zu stellen und diese bzw. unseren Staat verächtlich zu machen, müssen sie, ausgehend von einem klaren Standpunkt der Arbeiterklasse, konsequent in die Schranken verwiesen werden."
Die Funktionäre forderten ein schärferes Vorgehen des Gruppentribunals Arbeitskollektiv ein, was sie allerdings nie öffentlich machten, sondern immer in "Vertraulichen Verschlußsachen" regelten. Dass dieses Verlangen oftmals am menschlichen Anstand der Kollegen scheiterte, ist unbestritten, aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass so mancher Parteisekretär, Gewerkschaftsfunktionär oder einfach nur der kleine politische Wichtigtuer im Arbeitskollektiv Freiräume für Repressalien bekam, die jenseits der juristischen Kontrolle angesiedelt waren und die dieser Personenkreis politisch gehorsam nutzte.
Es war eine Frage des einfachen menschlichen Anstands, ob sich jemand in diesen Repressionsapparat einbinden ließ. Solche, die es taten, behaupten heute gern, dass sie dazu gezwungen wurden.. Es gab auch DDR-Bürger, die gerne mitmachten und sich überlegen und wichtig fühlten, wenn sie andere "in die Mangel" nehmen konnten.
7. Fazit
Die politische Fremdbestimmung über Gruppen stabilisierte den SED-Staat. Nicht, was der Einzelne dachte und meinte, war von Bedeutung, sondern die Gruppenmeinung dominierte. Auf diese Art und Weise wurde die politische Konformität der Masse erreicht.
Den zentralen Zusammenschlüssen, wie den Arbeitskollektiven und betrieblichen Partei- und Gewerkschaftsgruppen, wurde eine völlig überzogene politische Bedeutung suggeriert, Gewissenskonflikte des Einzelnen wurden durch die vermeintliche Tatsache, dass es ja alle wollten, vielfach verdrängt. So entstand das Heer der Mitläufer, das diesen SED-Staat wesentlich über Jahrzehnte stützte und durch das auch Unrecht "von unten" angerichtet wurde. Ellen Brockhoff, ein Opfer des SED-Regimes, gab zu Protokoll:
"Und ich sage mir auch heute, daß es nicht nur der Staat war und nicht nur das System, nicht nur die da oben. Das waren, gerade für mich, auch die da unten, die zu allem fähig waren wie schon einmal, als nur wenige die Hand zum Gruß nicht hoben. Die fürchterlichen Gesetze kamen zwar von oben, aber nirgends stand geschrieben, besonders grausam zu sein. Das setzten die Untertanen des Regimes der letzten Jahrzehnte von ganz allein und mit Erfindungsreichtum gegen ihre Nachbarn, Kollegen, Freunde, Ehepartner in die Tat um, freudig manchmal, berechnend und eifrig öfter. (…) Die Macht war immer spürbar von oben, vom Staat. Die Bedrängnis aber, die Verletzung, die Beleidigung geschah vielfach durch Mitbürger."
Heute wird dieser Teil der jüngsten deutschen Geschichte häufig verdrängt. Es entsteht oft der Eindruck, als hätte es in der DDR nur einen Unterdrückungsapparat, nämlich das Ministerium für Staatssicherheit gegeben, aber diese Sichtweise ist falsch. Das Unterdrückungssystem hatte viele Facetten, die in ihrem ganzen Umfang betrachtet werden müssen.
1989/1990 brach das gesamte Gruppengefüge praktisch über Nacht zusammen. Nicht Wenige fielen plötzlich in eine tiefe Isolation, die sie bis dahin nicht kannten und mit der sie auch nicht umgehen konnten. Orientierungslosigkeit und Existenzängste begleiteten diesen enormen Umbruch im Leben der Menschen.
Plötzlich wurde jeder damit konfrontiert, eigene Entscheidungen treffen zu müssen, Risiken selbst abzuwägen und die volle Verantwortung für sein Leben in einer völlig fremden Gesellschaft zu übernehmen. Die Rückkoppelung durch die Gruppe, ob etwas richtig oder falsch war, gab es nicht mehr. Das hat viele überfordert und völlig verunsichert, so dass im Abstand der Jahre die damals praktizierte Vereinnahmung durch Gruppen mit der Aufgabe der Eigenverantwortung und der Verpflichtung, nur das zu tun, was von der Allgemeinheit verlangt wird, als ganz annehmlich erscheint. Daraus nährt sich heute eine zunehmende Verklärung der DDR, insbesondere bei denen, deren berufliches Leben nach dem Zusammenbruch des Staates von Arbeitslosigkeit geprägt war. Der geschönte Rückblick auf den damaligen "Zusammenhalt" und das "Wir-Gefühl" vermittelt eine autoritätsfreundliche Sichtweise.
Es liegt wohl in der Natur der Menschen, nur die guten Seiten in Erinnerung zu behalten und die kritischen Aspekte auszublenden, aber das darf uns nicht davon abhalten, einen realistischen Rückblick auf das gesamte Machtgefüge dieser letzten deutschen Diktatur vorzunehmen.
Zitierweise: Heidrun Budde, Politische Fremdbestimmung durch Gruppen – Stabilisator des SED-Staates, in: Deutschland Archiv, 15.05.2014, Link: http:\\www.bpb.de\183475