Unter der Bezeichnung "Jugendhilfe" war in der DDR, in der Zuständigkeit des Ministeriums für Volksbildung, das Margot Honecker von 1963 bis 1989 leitete, ein Heer von Funktionären, Erziehern und technischem Personal tätig. Der Zentrale Jugendhilfeausschuss beim Ministerium, Jugendhilfereferate auf Bezirksebene und Jugendhilfekommissionen in Gemeinden, Städten und Kreisen hatten außer der klassischen Fürsorge für Waisen und für vernachlässigte Kinder und Jugendliche auch Erziehungsaufgaben. Der Staat betrieb mit dem Instrumentarium der Jugendhilfe die "Herstellung günstiger Bedingungen für die sozialistische Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen, deren Erziehung, Entwicklung oder Gesundheit unter der Verantwortung der Erziehungsberechtigten nicht gewährleistet" waren. Das wurde "Umerziehung" genannt und war gesetzlich definiert: "Jugendhilfe umfaßt die rechtzeitige korrigierende Einflußnahme bei Anzeichen der sozialen Fehlentwicklung und die Verhütung und Beseitigung der Vernachlässigung und Aufsichtslosigkeit von Kindern und Jugendlichen, die vorbeugende Bekämpfung der Jugendkriminalität, die Umerziehung von schwererziehbaren und straffälligen Minderjährigen sowie die Sorge für elternlose und familiengelöste Kinder und Jugendliche".
Das geschah in insgesamt 47 Kinderheimen, Spezialheimen, Durchgangsheimen und Jugendwerkhöfen.
Einweisungsgründe nach Torgau waren Auflehnung gegen die Heimordnung und Flucht aus Spezialheimen oder Jugendwerkhöfen, "sexuelle Triebhaftigkeit" und das ähnlich beliebig definierbare "abweichende Verhalten" sowie "Schwererziehbarkeit". Das Schwänzen der Schule war ein Delikt, das ebenso hinter die drei Meter hohen Mauern von Torgau führen konnte wie die versuchte "Republikflucht" oder eine "faschistische Provokation". Darunter wurde etwa "Staatsverleumdung" verstanden oder gar das "Beschmutzen von Bildern von unseren Staatsmännern".
In den 1960er Jahren wurde der Staat gegen Jugendliche, die die "sozialistische Lebensweise" störten, noch rabiater und betrachtete alle jungen Menschen, die Beatmusik liebten, lange Haare trugen, sich betont westlich kleideten, als Gegner. Die Maßnahmen gegen "Gammler" - so der offizielle Terminus der Diffamierung - bestanden in polizeilicher Willkür, gelegentlich zwangsweiser Vorführung beim Friseur oder im Kürzen des Haares durch "Ordnungsgruppen der FDJ". Gerne griff die Volkspolizei auch selbst zur Schere, wie aus Polizeiakten hervorgeht. Im Bericht über fünf Jugendliche, die "wegen groben Unfugs" am 16. Juni 1966 im Berliner Volkspark Friedrichshain mit Geldstrafen belegt wurden, heißt es, sie seien außerdem mit "ordentlichem Haarschnitt entlassen" worden.
Umerziehung im Sinne der sozialistischen Ideologie
Der Jugendhilfe folgte die Strafjustiz, wenn es darum ging, Menschen durch "Erziehung" auf den vorgesehenen Pfad zu bringen. Dem Strafvollzug an Jugendlichen war im Strafgesetzbuch der DDR ein eigener Paragraph gewidmet, der das Ziel beschrieb: "(1) Der Vollzug der Freiheitsstrafe an Jugendlichen erfolgt in Jugendhäusern unter besonderer Berücksichtigung der Persönlichkeitsentwicklung des Jugendlichen. (2) Der Vollzug der Freiheitsstrafe soll den jugendlichen Täter zu bewußter gesellschaftlicher Disziplin, Verantwortung und Arbeit führen und ihm durch Bildung und Erziehung, berufliche Qualifizierung sowie kulturell-erzieherische Einwirkung einen seinen Leistungen und Fähigkeiten gemäßen Platz in der sozialistischen Gesellschaft sichern."
In einem typischen Urteil gegen zwei Brüder Anfang der 1970er Jahre heißt es in der Begründung: "Ihr asoziales Verhalten ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass Sie eine völlig labile Einstellung zu den Grundpflichten unseres sozialistischen Staates und zur gesellschaftlichen Arbeit haben. Ihr Gesamtverhalten hat auch gezeigt, dass Sie schon seit längerer Zeit haltlos und willensschwach sind. [...] Die Strafkammer ist daher nach Prüfung aller objektiven und subjektiven Umstände zu der Auffassung gelangt, dass die Angeklagten durch staatliche Maßnahmen zu Menschen erzogen werden müssen, die regelmäßig und beständig arbeiten sowie ihren Pflichten gegenüber der Gesellschaft nachkommen. Den Angeklagten muss noch gesagt werden, dass sie endgültig aus ihrem bisherigen Verhalten die entsprechenden Schlussfolgerungen ziehen müssen, um wieder vollwertige Mitglieder der Gesellschaft werden zu können".
Asozialität war in der DDR definiert als "eine dem Sozialismus wesensfremde Erscheinung", die durch Einflüsse aus dem imperialistischen Herrschaftssystem und durch Rudimente der kapitalistischen Gesellschaft in der DDR verursacht sei. Nach der Sprachregelung der Staatssicherheit wirkte asoziales Verhalten zersetzend auf das sozialistische Bewusstsein, begünstigte die allgemeine Kriminalität und war dadurch gefährlich für die Gesellschaftsordnung: "Asozialität mit ihren negativen Auswirkungen für die sozialistischen gesellschaftlichen Beziehungen dient objektiv dem Feind. Der Feind ist bestrebt, vor allem Jugendliche und Jungerwachsene der DDR mit asozialen Verhaltensweisen mittels demagogischer Parolen vor allem zu Widerstandshandlungen gegen die staatliche und öffentliche Ordnung, aber auch zu Angriffen gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR, zu inspirieren."
Mit dem ominösen Paragraphen 249 des DDR-Strafgesetzbuches wurde die "Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch asoziales Verhalten" definiert und geahndet. Dort hieß es: "Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder die öffentliche Ordnung dadurch gefährdet, dass er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit hartnäckig entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, oder wer der Prostitution nachgeht oder wer sich auf andere unlautere Weise Mittel zum Unterhalt verschafft, wird mit Verurteilung auf Bewährung oder mit Haftstrafe, Arbeitserziehung oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. Zusätzlich kann auf Aufenthaltsbeschränkung und auf staatliche Kontroll- und Erziehungsaufsicht erkannt werden." Der Paragraph war 1968 in das Strafgesetzbuch eingeführt worden.
Das Strafrecht bildete ein drastisches Instrument gegen "Gammler", "Assis" oder "Parasiten", wie diejenigen genannt wurden, die selbstbestimmt nonkonform zu leben suchten, deren Musikgeschmack oder deren Kleidung gegen die Normen des Arbeiter- und Bauernstaats verstießen. Verdächtig waren aber auch Mitglieder von Friedens- oder Ökokreisen der Evangelischen Kirche. Auch sie wurden nach Belieben als "kriminell gefährdet" eingestuft. Die Stigmatisierung als Außenseiter leitete die Diffamierung ein, die in der Kriminalisierung endete. Nach den Regeln der DDR-Gesellschaft galten junge Menschen als Feinde, die sich nicht konform zu den Normen der sozialistischen Gesellschaft verhielten oder die, anstatt einfach einsam und verzweifelt im Kinderheim zu leiden, ihrem Elend zu entfliehen suchten. Von Staats wegen wurden sie mit moralischer Verurteilung unter dem Vorwand der Erziehung und Besserung gnadenlos verfolgt. Zahlreiche willige Werkzeuge von bösartiger Untertanen-Mentalität drängten sich im System der Jugendhilfe, das Verdikt gegen die Außenseiter zu vollstrecken.
Unmenschliches System der Unterdrückung und Gewalt
Über die rabiaten Methoden
Arrestzelle im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, um 1990. (© Archiv Gedenkstätte GJWH Torgau)
Arrestzelle im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, um 1990. (© Archiv Gedenkstätte GJWH Torgau)
Heidemarie Puls, 1957 geboren, flieht vor den Schlägen einer lieblosen Mutter und dem regelmäßigen sexuellen Missbrauch durch deren trunksüchtigen Gefährten im Alter von zwölf Jahren zu ihrem Vater, muss aber zurück und wird nach einem Suizidversuch in ein Heim eingewiesen. Den Demütigungen, der Gewalt und neuem sexuellen Missbrauch versucht sie immer wieder zu entfliehen und beginnt damit eine Karriere, die sie unter ständigen Strafen vom Durchgangsheim Demmin in den Jugendwerkhof "August Bebel" in Burg bei Magdeburg und schließlich nach Torgau führt.
Der Empfang in Torgau gestaltet sich nach dem dort üblichen Ritual, das nach Professor Makarenkos "Explosionsmethode" entwickelt wurde. Endloses Stehen im Gang. Auf die Frage nach einer Toilette verprügelt ein Erzieher das Mädchen mit einem Stock. Später fragt der Direktor der Anstalt Heidemarie nach der Ursache ihrer Verletzungen. Als sie die Prügelszene schildert, wird sie von ihm erneut misshandelt, damit sie begreift, "dass es keinen Stock gibt" und "dass niemand geschlagen wird". Der Alltag des Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau besteht aus einem elaborierten System von Torturen: Isolation, Prügel, Hunger. Die Methoden sind autoritär, Macht wird mit sinnlosen Befehlen, denen unbedingt zu gehorchen ist, ausgeübt und die Lust am Bestrafen der Jugendlichen ist grenzenlos. Ziel der Disziplinierung war die Unterwerfung des jugendlichen Individuums, nachdem dessen Willen gebrochen war.
Dietmar Rummel war 1952 in Leipzig zur Welt gekommen. Nach wenigen Jahren bei der Großmutter und dann bei einer Pflegeperson, die mit dem Begriff "Hexe" wohl zutreffend beschrieben ist, und die in den Augen der Obrigkeit auch als Nationalsozialistin und Chefin eines Bordells im "Dritten Reich" suspekt war, wurde Dietmar Heimkind in Großdeuben. Das Heim war im ehemaligen Rittergut Böhlen bei Thümmlitzwalde Anfang der 1950er Jahre eingerichtet worden, es existierte bis 1991. Dietmar Rummel verließ das Heim als gelernter Schlosser, übte diesen Beruf in mehreren Produktionsgenossenschaften des Handwerks aus, kam Anfang der 1970er Jahre aber mit den Behörden in Konflikt, weil er als Liebhaber von Beatmusik aufgefallen und dann zum Außenseiter geworden war. Ein Gericht verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe, die er in der Anstalt Regis-Breitingen beziehungsweise im dazugehörenden Tagebau-Lager mit Zwangsarbeit verbüßte.
Die Bosheit der Handlanger, die zu Tätern wurden, erschreckt in den Berichten der Opfer von Jugendhilfe am meisten. Die Erzieher, Oberwachtmeister, Unterleutnants und Stasi-Verbindungsoffiziere erscheinen im Bericht ihrer Opfer als Sadisten, die ihr Selbstbewusstsein aus der Macht über Wehrlose zogen und in vorauseilendem Gehorsam der Obrigkeit gegenüber, im Drang, der Mehrheit anzugehören, Unbotmäßige drangsalierten. Das Erschreckende daran ist, dass der Mechanismus des Unterdrückens, willkürlichen Strafens, der Drang, den Willen des Opfers zu brechen, nicht mit der Ideologie der sozialistischen Gesellschaft im moralisch überlegenen Staat (als den sich die DDR gegenüber der Bundesrepublik ja begriff) zu erklären ist.
Hofbereich der Jungen im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, um 1978 (© Archiv DIZ Torgau)
Hofbereich der Jungen im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, um 1978 (© Archiv DIZ Torgau)
Ordnungs- und Sicherheitsdenken politischer Organe, Eliten und Funktionäre ist ein systemübergreifendes Phänomen, das regelmäßig und überall zu beobachten ist. Das wirft Fragen nach der menschlichen Natur auf, die hier nicht zu beantworten sind. Zu fragen ist aber nach den Beschädigungen, die Heimerziehung verursachte und die lebenslang anhalten. Auch katholische Patres und evangelische Diakonissen haben in Kinderheimen der Bundesrepublik gewütet, der Unterschied bestand vielleicht nur darin, dass ihr Treiben ignoriert oder stillschweigend geduldet wurde, während in der DDR die Misshandlungen in Kinderheimen im Namen der Ideologie, von Staats wegen, verübt worden sind und den selbstverständlichen Beifall der Oberen hatten. Der boshafte Eifer des Verfolgens Andersdenkender durchzog in der DDR die ganze Hierarchie der Herrschaft. Zu erklären ist er auch mit den Traditionen des Befehlens und Gehorchens im Freund-Feind-Denken derer, die sich auf der richtigen Seite, im Schutze der Mehrheit, sahen; sie reichen weit zurück, mindestens in die Zeit des Wilhelminismus, in der die "Erziehung" zum Untertanen mit rigiden und brachialen Methoden als richtig und notwendig galt. Der Geist in den religiösen Heimen der Bundesrepublik hatte sicherlich den gleichen Ursprung.
Fonds "Heimerziehung in der DDR" zur Entschädigung der Opfer
Das Schicksal der traumatisierten DDR-Heimkinder war - spät genug - Thema eines "Runden Tisches". Im Februar 2009 konstituierte sich im Auftrag des Bundestags der Runde Tisch "Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren", der im März 2012 seinen Bericht "Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR" vorlegte. Ein Fonds "Heimerziehung in der DDR" wurde mit einem Vermögen von 40 Millionen Euro vom Bund und den neuen Ländern ausgestattet, um geschätzten 30.000 Opfern Entschädigung für erlittenes Leid durch die "Jugendhilfe" zu gewähren. Beabsichtigt war, schnell und unbürokratisch Hilfe zu gewähren und Ausgleichszahlungen bei verminderten Rentenansprüchen zu leisten. Bis zu 10.000 Euro konnte erhalten, wer unter der repressiven Heimerziehung Schaden genommen hatte. Die Antragsteller konnten auch selbst entscheiden, was sie mit dem bescheidenen Schmerzensgeld anfangen wollten: eine Therapie, eine Urlaubsreise, einen gebrauchten Kleinwagen bezahlen. Anfang Februar 2014 wurde bekannt, dass der Fonds fast erschöpft war. Politiker dachten zunächst darüber nach, eine Zweckbindung an Gesundheitsmaßnahmen einzuführen oder die Antragsfrist vorzeitig zu beenden.
Grundsätzlich haben sich Bund und Länder darauf geeinigt, dass der Heimkinderfonds Ost aufgestockt und fortgeführt werden soll. Erfreulich ist auch die Tatsache, dass es bei den bisherigen Leistungskriterien und dem Leistungsumfang (10.000 Euro für Folgeschäden des Heimaufenthaltes und Rentenersatzleistungen) bleiben soll. Alle Betroffenen können noch bis zum 30. September 2014 ihre Ansprüche anmelden.
Zeugenberichte halten die Erinnerung wach
Jugendwerkhof Gebasee im Kreis Erfurt Land, 1957. (© Bundesarchiv, Bild 183-45277-0004a, Foto: Köhne)
Jugendwerkhof Gebasee im Kreis Erfurt Land, 1957. (© Bundesarchiv, Bild 183-45277-0004a, Foto: Köhne)
Die Verletzung des Menschenrechts erst im Kinderheim, dann in der Strafanstalt geschah nicht nur aus Gedankenlosigkeit, aus individueller Bosheit, in Pflichterfüllung oder aus der traditionellen Überzeugung der Peiniger, es habe noch Keinem geschadet, wenn er in der Jugend hart angefasst worden sei. In der DDR war die Erziehung von Kindern und Jugendlichen dem Ziel der sozialistischen Gesellschaft zugeordnet, daher waren die Anstrengungen der Jugendhilfe politische Maßnahmen im sozialen Raum. Der Sadismus der ausführenden Organe war deshalb auch nicht nur menschliches Versagen, die Erzieher waren von ihrer Bedeutung als Hoheitsträger oder doch wenigstens als Handelnde im Auftrag von Gesellschaft und Staat überzeugt und übten die daraus resultierenden Machtbefugnisse in aller Regel entsprechend nachdrücklich aus.
Dietmar Rummel, dessen Erinnerungen "Die (Zellen-)Tür schlägt zu" soeben erschienen sind,
Dietmar Rummels Geschichte zeigt eine Facette vom Schrecken, der Kindheit und Jugend vieler Tausender überschattete. Das Leid der Kinder begann oft in der Familie und setzte sich im Heim fort. Die 15-jährige Jeannette Harder war vom Stiefvater schwer misshandelt worden. Sie flüchtete zur Großmutter, die sie zum Jugendamt brachte. Sie wurde dann in ein Durchgangsheim in Dresden eingewiesen: "Dort angekommen, wurden mir erst mal die Haare abgeschnitten und dann wurde ich in den Waschraum dirigiert, wo ich mich entkleiden mußte. Meine Sachen wurden weggenommen und dann wurde ich von anderen aus dem Durchgangsheim mit einer großen Scheuerbürste und Kernseife geschruppt. Dann gab man mir die für Durchgangsheime üblichen Heimsachen. Wir mussten Gardinenzwicker zusammenstecken, und das auf Norm. Nach langer Zeit ging es dann von Dresden nach Leipzig [...] und stets dasselbe Programm. In den Zeiten der Unterkunft in den D-Heimen haben wir nichts als Gitter vor den Fenstern gesehen, einen Aufenthalt im Freien gab es nicht mehr. Sämtliche Türen wurden abgeschlossen. Gänzlich von der Außenwelt abgeschottet, mußten wir funktionieren. Wer nicht spurte, wurde bestraft, von der Gruppe ausgeschlossen und zusätzlich mit Strafarbeit behaftet. Wer sich absolut nicht fügen wollte, wurde geschrubbt und die anderen mußten dabei zugucken. Also, das Erlebte vergißt man zeitlebens nicht."
Der damals 11- oder 12-jährige Dietmar Reinert erinnert sich an das Spezialkinderheim Kreuztanne, das an der tschechischen Grenze für "schwererziehbare und schwachsinnige Kinder" eingerichtet war: "Die Heimleitung unterlag der Familie B. Von dem Mann bekam ich mal mit einem Stuhlbein Prügel. Ich war 11, 12 Jahre. Hab ich bis heute auch nicht vergessen. Ihre Spezialität war es, Kinder, die mit den Händen unter der Bettdecke geschlafen haben, wach zu machen. Die mussten sich dann ausziehen und nackend 1 bis 1,5 Stunden auf dem Flur stehen - Sommer wie Winter! Es befanden sich einige Mädchen in der Schneiderei und Küche, die dann an uns vorbei spazieren durften. Wollten wir unsere Scham bedecken, mussten wir die Hände unter Androhung von Schlägen auf den Rücken nehmen."
Die Brutalität der Erzieher entsprach einem Menschenbild, dessen Ideal aus Unterworfenen und Gebrochenen bestand: "Ich war schon immer ein Kind, was man heute hyperaktiv nennt und wurde somit auch medikamentös ruhig gestellt", erinnert sich Dietmar Reinert. "Die Medikamente hießen: Propuphenien, Protazien und Faustan. Und das 3 mal täglich. Dass ich überhaupt noch in der Lage war, in der Heimschule zu lernen, grenzte an ein Wunder. Hatten wir uns geweigert, die Medikamente einzunehmen, wurden wir auf einen Stuhl gesetzt festgehalten, der Mund mit Gewalt aufgepresst, die Medikamente auf der flachen Hand regelrecht reingeworfen, die Hand auf den Mund gepresst und die Nase zwischen Daumen und Zeigefinger eingeklemmt und zugehalten."
Ein anderes Opfer der Jugendhilfe, der damals 11-jährige Werner Rauh, floh wegen körperlicher Übergriffe der Erzieher mehrfach aus einem Kinderheim und wurde deshalb in das Spezialkinderheim Dönschten im Kreis Dippoldiswalde gebracht. Das war 1959, zur Zeit der Zwangskollektivierung. Kontakt zum "Volksgut" (LPG), das in unmittelbarer Nachbarschaft lag, war verboten. "Eigenes Handeln ohne Genehmigung der aufsichtspflichtigen Person wurde mit Strafarbeit sanktioniert." Zu den Strafarbeiten der Kinder gehörten Steingartenbau, Güllegrube leeren, Stallarbeit auf dem "Volksgut" usw.: "Es war auch eine Gepflogenheit und eine sehr bevorzugte Umerziehungsmethode, das Reden bei der Esseneinnahme durch Essenentzug zu bestrafen. Andere Sanktionierungen, wie barfüssiges stundenlanges Stehen auf den Fluren und Schläge durch Erzieher waren auch hier an der Tagesordnung. Selbst bei geringfügigen Verfehlungen wurden diese Methoden angewandt. Dieser Essenentzug und die Prügelstrafen bestanden auch in Moschwig. Da gab es keine Unterschiede. Sogar mit Schlüsselbund wurde zugeschlagen. Das war keine Seltenheit in den beiden Spezialheimen, in denen ich war. Das Gleiche - Isolation vor der Öffentlichkeit, Prügelstrafen, Kinderarbeit, Schikanen, Untergrabung der Persönlichkeitsentwicklung, Freiheitsberaubung und anderes mehr - fand ich auch in der Weiterverlegung 1961 in den Jugendwerkhof nach Bräunsdorf, wo ich bis zu meiner Entlassung 1963 diese Zustände ertragen musste."
Die gemeinsame Erfahrung der Heimkinder wäre nicht nachvollziehbar und bliebe unbekannt, wenn sie nicht Zeugnis darüber ablegen würden. Denn die Akten der Jugendhilfe-Behörden, der Justiz und anderer staatlicher Institutionen, die mit Kinderheimen befasst waren, geben keine Auskunft über die Emotionen der Opfer, ja nicht einmal über die Tatsachen ihrer "Erziehung". Für die erziehenden und verfolgenden Behörden waren es bestenfalls Fälle, schlimmstenfalls feindliche Elemente, über die sie Vermerke und Protokolle anfertigten, in der dürren Sprache amtlicher Täter und im verlogenen Idiom, das von Tätern immer benutzt wird, um Unrecht zu leugnen und zu kaschieren oder um in ideologischer Verblendung Misshandlung, Zwang und Demütigung als kulturelle Errungenschaft zu preisen. Deshalb sind die Berichte derer, die Opfer waren, unverzichtbar, um die Wirklichkeit zu erkennen.
Über Heimerziehung und über den Strafvollzug in der DDR gibt es inzwischen Dissertationen, Forschungsprojekte und wissenschaftliche Literatur.
Zitierweise: Wolfgang Benz, Gewalt gegen Kinder. Jugendhilfe und Heimerziehung in der DDR, in: Deutschland Archiv, 11.04.2014, Link: http:\\www.bpb.de\182642