Angriffsflächen und Anschuldigungen
Herbert Wehner (Dresden 1906 – Bonn 1990) hatte ein aufbrausendes Temperament. Sein Auftreten wirkte radikal – auch wenn der SPD-Politiker in seiner zweiten Lebenshälfte alles andere als ein politischer Radikaler war. Von 1949 bis 1969 war er der deutschlandpolitische Experte der Sozialdemokraten, zunächst als Ausschussvorsitzender im Bundestag, dann, ab 1966 in der Großen Koalition, als Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen.
"Sie werden mir doch dort von allen Seiten manchmal täglich die Haut bei lebendigem Leibe abreißen", prophezeite Wehner, als der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher ihn 1949 drängte, für den Bundestag zu kandidieren.
Mit seiner Vergangenheit und seinem Temperament wirkte Wehner polarisierend. Das galt besonders in Zeiten innenpolitischer Konfrontation, also in den 1950er Jahren, als die SPD in Opposition zu Adenauers Politik der Westbindung stand – und erneut in den 1970er Jahren, als sich die CDU/CSU scharf gegen die Brandt’sche Ostpolitik wendete. Als Fraktionsvorsitzender im Bundestag von 1969 bis 1983 zog Wehner die Pfeile der politischen Gegner auf sich.
So kam es, dass Verleumder schon zu seinen Lebzeiten versucht haben, Herbert Wehners politisches und menschliches Werk herabzuwürdigen. Das Spektrum reicht dabei von ganz links bis ganz rechts. Die Vorwürfe der verschiedenen Lager sind meist austauschbar. Demnach sei Wehner zeitlebens ein Verräter gewesen, wahlweise am Kommunismus oder an der Demokratie, ein Karrierist mit dunklen Zielen, heimlich im Hintergrund die Strippen ziehend.
Nun bezichtigt in seinen "Erinnerungen an Willy Brandt", dessen ehemaliger Berater Egon Bahr Wehner des Hochverrats.
Die Mythen der Zeitgeschichte
Das verbreitete Bild, Herbert Wehner habe 1973/74 am Sturz von Willy Brandt gearbeitet, er habe den Kanzler loswerden wollen, ihm die Loyalität gekündigt, ist unzutreffend, ein Mythos.
Erstens machen sie aus einer politischen Frage ein zwischenmenschliches Drama. Sie trennen den Konflikt von der zugrunde liegenden Problemstellung, welche darin bestand, die deutsch-deutsche Entspannungspolitik nach dem Abschluss der Verträge mit dem Osten auszugestalten und möglichst viel an menschlichen Erleichterungen zustande zu bringen.
Zweitens lösen sie den angeblichen Gegensatz Brandt-Wehner aus dem damaligen innen- und deutschlandpolitischen Kontext. Es war die damalige CDU/CSU-Opposition, die versuchte, das Regierungslager zu spalten, gegen deren Druck sich Brandt wie Wehner zu wehren hatten. So war es 1974 der CSU-Politiker Franz Heubl, der als erster, unmittelbar nach dem Rücktritt Brandts, öffentlich behauptete, Herbert Wehner habe diesen im Zusammenspiel mit Ost-Berlin herbeigeführt.
Drittens vernachlässigen sie die zahlreichen schriftlichen Quellen. Sie verlassen sich aufs Hörensagen, auf Zeitzeugen, die selbst in die damaligen Ereignisse verstrickt waren, deren Gedächtnis sie täuscht und die zum Teil ein Eigeninteresse daran haben, eine bestimmte Version der Geschichte durchzusetzen.
Ein solcher Zeitzeuge ist Egon Bahr, der über Brandt und Wehner schreibt: "Die charakterlichen und biographischen Unterschiede dieser beiden Führungspersönlichkeiten waren so groß, dass sie unausweichlich wie in einem Shakespeare’schen Drama aufeinanderstoßen mussten."
Herbert Wehner als Deutschlandpolitiker
Am 30. Juni 1960 erkannte Herbert Wehner im Bundestag für die SPD die Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der NATO an und rief dazu auf, innenpolitische Feindverhältnisse zu überwinden. Egon Bahr behauptet, über diese berühmte Parlamentsrede hinaus habe Wehner "nie eigene Konzeptionen entwickelt".
Es gab mehr konzeptionell denkende und Konzeptionen entwerfende Politiker in der alten Bundesrepublik als nur Egon Bahr. Dies gilt auch für die Ost- und Deutschlandpolitik. Zu nennen sind neben anderen: Herbert Wehner und Wilhelm Wolfgang Schütz. Dieser war der langjährige Geschäftsführer des 1954 mit Wehners Hilfe durch Jakob Kaiser (CDU) gegründeten Kuratoriums Unteilbares Deutschland. Der Journalist und Publizist Schütz hat als erster – 1958 – die Begriffe "Neue Ostpolitik" und "Politik der kleinen Schritte" in die öffentliche Debatte der Bundesrepublik eingeführt.
Anders als Bahr – ohne jegliche Belege dafür zu nennen - behauptet, gehörte es nicht zu Wehners Konzept, "mit Honecker dafür zu sorgen, dass die deutsche Teilung unbegrenzt erhalten blieb".
Herbert Wehner war von 1949 bis 1966 Vorsitzender des Bundestagsausschusses für gesamtdeutsche (und Berliner) Fragen. In dieser Eigenschaft setzte er 1953 den 17. Juni als nationalen Feiertag durch – auf Wehner geht der Name "Tag der deutschen Einheit" zurück. Im Bundestag unterstrich er das "glühende Bekenntnis" der Protestierenden zur Wiedervereinigung Deutschlands und meinte: "Die Arbeiter sind geschlagen worden, aber sie sind nicht besiegt! Besiegt sind ganz andere, das wird die Geschichte zeigen!" Hieraus folgerte Wehner, eine "neue Politik" sei nötig, "die die Spaltung zu überwinden sucht". Damit meinte er nicht nur Viermächteverhandlungen über die Einheit Deutschlands, sondern auch Aktivitäten der Bundesregierung zur Hilfe für die Bevölkerung in der DDR: Nahrungsmittelhilfe, Erweiterung des innerdeutschen Handels, Erleichterungen des Grenzverkehrs, Bemühungen um die Freilassung von Gefangenen. Das war schon eine "Politik der kleinen Schritte", fünf Jahre bevor Schütz sie öffentlich formulierte und zehn Jahre bevor Bahr vom "Wandel durch Annäherung" sprach.
Wehners letzter Beitrag zu einer Lösung der deutschen Frage über internationale Verhandlungen war der Deutschlandplan der SPD von 1959. Die Sozialdemokraten mussten jedoch zur Kenntnis nehmen, dass Ost wie West ihre Vorschläge nicht ernst nahmen. Vielmehr war die Zeit der Gipfelkonferenzen über Deutschland abgelaufen. Alle begannen sich mit der Dauerhaftigkeit des "Eisernen Vorhangs" abzufinden. Der Westen nahm den Bau der Berliner Mauer 1961 hin.
Es blieb das Bemühen um Erleichterungen. Wehner hatte die Realitäten frühzeitig erkannt. Schon im Frühjahr 1960 notierte er, es werde wohl keinen direkten Weg zur Wiedervereinigung mehr geben. Was bleibe, sei, in ein "wie auch immer geartetes" Verhältnis zur DDR zu kommen. Es komme darauf an, die beiden Teile Deutschlands durch menschliche Beziehungen möglichst stark zu verklammern. Voraussetzung dafür sei allerdings, dass die SPD an die Regierung komme.
Egon Bahr behauptet in seinem Erinnerungsbuch, Willy Brandt, damals Regierender Bürgermeister von Berlin, habe die Rede vom 30. Juni "unerhört" gefunden.
Es gab Phasen, in denen Wehner auf eine Wandlungsfähigkeit des Ostblocks und der DDR gehofft hatte. 1956 beispielsweise schwebte ihm eine Liberalisierung des Kommunismus nach jugoslawischem Vorbild vor.
Die "Kofferfälle"
Egon Bahr im August 1972. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00085290)
Egon Bahr im August 1972. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00085290)
Die Ostverträge der Regierung Brandt befürwortete Wehner vehement. Als Fraktionsvorsitzender ab 1969 verteidigte er die Ostpolitik. Wenn sie stockte, half er nach. So auch 1973, nachdem die DDR die Ausreisen gestoppt hatte. Mit diesem Thema war Herbert Wehner spätestens seit 1963 befasst. Als der damalige CDU-Minister für gesamtdeutsche Fragen, Rainer Barzel, vorsichtig mit den ersten Freikäufen und Familienzusammenführungen begonnen hatte, versicherte er sich der Unterstützung des zuständigen Ausschussvorsitzenden Wehner. Als dieser selbst das Ministerium übernahm, trat er in direkten Kontakt zu Anwalt Wolfgang Vogel, welcher die "humanitären Fälle" auf DDR-Seite regelte – und betrieb diese menschlichen Bemühungen engagiert weiter.
Unmittelbar nach Abschluss des Grundlagenvertrags zwischen Bundesrepublik und DDR, am 21. Dezember 1972, führte der westdeutsche Unterhändler Bahr ein Gespräch mit seinen Verhandlungspartnern aus der DDR. Darin einigte er sich mit der anderen Seite darauf, man solle mit der bisherigen Praxis aufhören, die Ausreisen über Anwälte zu regeln und das Thema zum Gegenstand offizieller Verhandlungen zwischen beiden deutschen Staaten machen.
Bahr behauptet nun (erneut ohne Belege), Herbert Wehner habe Ende 1972 innerhalb weniger Tage diese "drohende Übereinkunft" zwischen Bundesrepublik Deutschland und DDR torpediert und damit selbst dafür gesorgt, dass seine Prophezeiung eintraf, solche Verhandlungen würden zum "Stillstand" führen.
Richtig ist: Die DDR hatte schon vor dem 21. Dezember, im Herbst 1972, die über die Anwälte geregelten Ausreisen gestoppt, auch bereits genehmigte.
Für ein Torpedieren der offiziellen Verhandlungen durch Wehner gibt es in den gründlich ausgewerteten Quellen weder Belege noch finden sich Hinweise, die in eine solche Richtung deuten. Ein Blick in die Terminkalender zeigt, dass das von Bahr behauptete Gespräch Brandt-Bahr-Wehner nach dem 21. Dezember so schnell nicht stattgefunden haben kann. Denn Herbert Wehner reiste just an diesem Morgen in seinen alljährlichen Weihnachtsurlaub auf die schwedische Insel Öland ab. Und sie kehrten erst am 12. Januar 1973 zurück. Ein Treffen Wehners mit Bahr ist erst unter dem 1. Februar eingetragen.
Im Frühjahr 1973 beriet Wehner sich mit Wolfgang Vogel sowie mit Willy Brandt und fuhr mit seiner späteren Frau Greta nach Ost-Berlin. Es war die erste und einzige DDR-Reise Wehners in seiner Zeit als aktiver Politiker, und sie fiel ihm nicht leicht. Schließlich galt er den Kommunisten als "Verräter". Es hatte Kampagnen und Anschläge gegen ihn gegeben.
Honecker aber kannte Wehner von früher. 1934 hatten sie im Saargebiet gemeinsam gegen den Anschluss an Nazi-Deutschland gearbeitet, und der spätere SED-Chef, damals Jugendfunktionär, schaute bewundernd zu dem Älteren auf. So gelang es am 31. Mai 1973, den deutsch-deutschen Karren flott zu machen. Häftlingsfreikäufe und Familienzusammenführungen über die Anwälte wurden wieder in Gang gesetzt, besonders heikle Fälle zwischen Wehner und Honecker geklärt. Damit wurde zugleich ein Informations- und Diskussionsweg eingerichtet. Dieser führte direkt von Honecker über Vogel und Wehner zu Brandt – und zurück.
Bahrs Versuch, die menschlichen Erleichterungen auf die offizielle diplomatische Ebene zu heben, war ein Fehler, dessen Folgen er allerdings nicht selbst abgewendet hat, sondern letztlich Herbert Wehner.
Die Reise nach Moskau
Bahr behauptet, Herbert Wehner habe sich "Ende Oktober 1973" in Moskau im Gespräch mit dem ZK-Sekretär für internationale Angelegenheiten Boris Ponomarjow "noch schlimmer als gegenüber den Journalisten geäußert". Sein Moskauer "Kanal" habe Bahr über Wehner, mit Bezug auf dessen angebliche Äußerungen über Brandt, gemeldet: "Das ist ein Verräter."
Die Reise einer überparteilichen bundesdeutschen Parlamentsdelegation nach Moskau fand nicht erst Ende Oktober, sondern schon vom 24. September bis 1. Oktober 1973 statt. Über das Gespräch Wehners mit Ponomarjow gibt es im Dresdner Archiv der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung eine Aufzeichnung. Darin heißt es, dass Wehner seinem sowjetischen Gesprächspartner erklärte, Willy Brandt stehe fest zu den abgeschlossenen Verträgen. Außerdem wies Wehner wiederholt darauf hin, dass es niemanden gebe, der Brandt ablösen könne und ein besserer Kanzler wäre als er.
Bahr schreibt zu angeblichen Äußerungen Herbert Wehners vor Journalisten in Moskau: "Die Agenturen hatten getickert: ‚Brandt führt nicht. Der Herr badet gerne lau. Der Regierung fehlt ein Kopf.’"
Zu der Äußerung "Der Herr badet gerne lau" schreibt ein Mitreisender, nämlich der Spiegel-Redakteur Hermann Schreiber: Diese Äußerung fiel nicht in Moskau, sondern auf dem Rückflug, "unter sechs Augen und eher mild gestimmt".
Ein persönlicher Grundlagenvertrag?
Egon Bahr im März 2013 bei der Präsentation seines Buches "Das musst du erzählen - Erinnerungen an Willy Brandt" auf der Leipziger Buchmesse. (© picture-alliance)
Egon Bahr im März 2013 bei der Präsentation seines Buches "Das musst du erzählen - Erinnerungen an Willy Brandt" auf der Leipziger Buchmesse. (© picture-alliance)
Bahr behauptet, Herbert Wehner habe im Herbst 1973 Papiere geschrieben, die "seinen persönlichen Grundlagenvertrag" mit Erich Honecker dargestellt und "das politische Zentrum aus dem Kanzleramt" auf eine "Entscheidungsebene Wehner/Honecker verlagert" hätten.
Das trifft nicht zu. So war es: Herbert Wehner stenographierte am 17. September 1973 eine durch Wolfgang Vogel mündlich übermittelte Mitteilung Honeckers. Bereits einen Tag später, am 18. September, berichtete er Willy Brandt ausführlich darüber.
Bahrs Behauptung, in den Aufzeichnungen Wehners komme "Brandt gar nicht mehr vor" stimmt ebenso wenig wie sein unmittelbar zuvor geäußerter Vorwurf, die Papiere seien mit "Beleidigungen Brandts" verbunden gewesen. Abgesehen davon, dass zwischen "Beleidigungen" und einem Nicht-Vorkommen Brandts ein Widerspruch besteht: Der Name "Willy Brandt" kommt in Herbert Wehners Papier vom 2. Dezember 1973 viermal vor, allerdings an keiner Stelle im Zusammenhang mit irgendeiner Beleidigung.
Weiter meint Bahr, davon habe Brandt "nie erfahren"; ihm sei das Wissen darüber erspart geblieben.
Die Verdächtigung Bahrs, Wehner habe sich durch Kontakte hinter Brandts Rücken in die Hand Honeckers begeben, ist unbegründet. Willy Brandt hat mit Herbert Wehner über die Aufzeichnungen gesprochen, und er war einverstanden damit. Das Gespräch fand am 16. Dezember statt. Anschließend bescheinigte Brandt Wehner die "grundsätzliche Übereinstimmung mit Deinen Punkten" vom 2. Dezember.
Im Willy-Brandt-Archiv findet sich zu Wehners Papieren ein handschriftlicher Vermerk Brandts an den Chef des Bundeskanzleramts, er möge alles durchsehen und danach "Bahr + Gaus (möglichst gemeinsam) ihre etwaigen Bemerkungen machen lassen".
Bahr erweitert seine Behauptung, Wehner habe bei seinen Kontakten zu Honecker Brandt hintergangen, auf den Zeitraum "bis zum Rücktritt Brandts".
Unter den Schriftstücken aus der Zeit zwischen Herbert Wehners Reise in die DDR und dem Rücktritt von Willy Brandt sind zahlreiche Aufzeichnungen Wehners für Brandt. In diesen gibt der Fraktionsvorsitzende akribisch wieder, was er über Vogel von Honecker mitgeteilt bekommen hat.
Brandts Rücktritt – Wehners Komplott?
Am 24. April 1974 wurde DDR-Kanzleramtsspion Günter Guillaume verhaftet. Knapp zwei Wochen später, am 6. Mai, verkündete Willy Brandt in einer Koalitionsrunde seinen Entschluss zum Rücktritt als Bundeskanzler. Zu diesem Komplex meint Bahr, es sei offen, seit wann Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP), Verfassungsschutzchef Günther Nollau und Wehner den Namen Guillaume gekannt hätten, "ohne ihn Brandt zu nennen". Er spekuliert ferner über den Verdacht, Wehner sei schon vor seinem Gespräch mit Honecker Ende Mai 1973 über den Verdacht informiert gewesen. Das sei "möglich, aber nicht beweisbar".
Es ist nicht nur nicht beweisbar, sondern auch sehr unwahrscheinlich. Herbert Wehner ist im Interview mit dem Spiegel im Sommer 1974 direkt gefragt worden: "Wußten Sie von dem Verdacht gegen Guillaume, als Sie bei Honecker waren?" – und antwortete darauf: "Überhaupt nicht, nein."
Aus der Zeit vor der Verhaftung Guillaumes gibt es in den vorliegenden Niederschriften und Notizen über den Kontakt Brandt-Wehner-Vogel-Honecker keinerlei Hinweise auf den Fall. Es ist nicht einmal geklärt, ob Honecker über den Spion im Bilde war.
In den nach seinem Rücktritt entstandenen "Notizen zum Fall G" schrieb Brandt, Bahr habe am 6. Mai 1974 erfahren, dass Wehner und Honecker seit der Enttarnung Guillaumes viermal miteinander kommuniziert hätten. Eine Woche später habe Bahr behauptet, am 2. Mai sei ein Brief von Honecker über Wehner an den Bundeskanzler geleitet worden (Brandt: "ich habe ihn nicht erhalten!"). Außerdem, so Brandt weiter, habe von Honecker schon am 6. Mai – also noch vor seinem Rücktritt – ein Brief mit einer Einladung für Helmut Schmidt vorgelegen, worauf am 13. Mai 1974 von Wehner geantwortet worden sei.
Vermutlich wurde Brandt hier von Bahr auf die falsche Fährte geführt. Aufzeichnungen bzw. Notizen über vier Gespräche gibt es in den Archivalien nicht. Ein Brief Honeckers vom 2. Mai 1974 ist nicht bekannt. Außer Bahrs Behauptung weist nichts auf seine Existenz hin. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Brandt einen solchen Brief nicht erhalten hat.
Unter dem Datum des 3. Mai 1974 liegt allerdings eine stenographische Notiz Herbert Wehners über eine Mitteilung von Wolfgang Vogel vor. Darin findet die Spionageaffäre nur beiläufig Erwähnung, als es heißt, Honecker habe "[d]iese Überlegungen nach 'seinem' Urlaub + nicht nach Fall 'G.'" angestellt.
Eine Niederschrift Honeckers für Wehner vom 6. Mai 1974 gibt es. Sie enthält jedoch weder eine Einladung an Helmut Schmidt noch irgendwelche Hinweise auf ein Zusammenspiel Wehner-Honecker gegen Brandt. Vielmehr bedauert Honecker darin, seine Hände in Unschuld waschend, "das Unvermögen der zuständigen Stelle der DDR, den Mann rechtzeitig aus dem Verkehr zu ziehen".
Der Rat zum Rücktritt
Zu dem Vier-Augen-Gespräch, welches Brandt und Wehner am 4. Mai in Bad Münstereifel führten, schreibt Bahr: "Eine klare Unterstützung hat Brandt von Wehner nicht gehört."
Anders Egon Bahr. Er hat, so schreibt er selbst, Willy Brandt bis zum Schluss geraten, bei seinem Rücktritt zu bleiben. Denn, so begründet er diesen Rat: "Meine Liebe zum Freund überwog die Verbundenheit mit dem Staat."
Bahr meint heute, anders als damals, der Rücktritt von Willy Brandt sei objektiv falsch gewesen, "im Interesse des Landes unnötig und für die Geschicke Europas nicht nützlich."
Es lag nicht an Herbert Wehner, sondern auf Willy Brandt, den Kanzler, kam es an. Sein Rücktritt war nur insofern nötig als er ihn für nötig erachtete.
Wehners Sicht
Herbert Wehner ist für Bahr "ein machtorientierter Mensch, den das Gewissen nicht drückte".
Dessen ungeachtet sind ihm die Schwierigkeiten mit Willy Brandt nahe gegangen. So schrieb Wehner nach Weihnachten 1973 von der schwedischen Insel Öland an den amerikanischen Journalisten David Binder, der ihm menschlich verbunden war, die folgenden Zeilen:
"Unser Weihnachten hier war still und schön. Ein wenig wehmütig – vielleicht – weil wir – nicht nur geographisch – ziemlich an den Rand abgedrängt worden sind."
In dieser Stimmung blickte er auch auf die beiden Ost-Reisen des Jahres 1973 zurück:
"Was von meinen eigenen Erkundungs-Vorstößen im Jahre 1973 geblieben ist, außer dem vielfältigen Ärger und Mißverstehen, vermag ich jetzt noch nicht einigermaßen abschließend zu sagen. Mir wäre wohler gewesen, dies wäre mir erspart geblieben. Aber in beiden Fällen (Ost-Berlin und Moskau) war mir gar keine Wahl geblieben. In beiden Fällen habe ich mich aber über das Einverständnis von W[illy] Br[andt] getäuscht, das ich als gegeben angesehen hatte (und nach ernsthafter Selbstprüfung auch hatte als gegeben ansehen dürfen, so daß ich mich sozusagen berechtigt und verpflichtet gefühlt hatte). Ich fürchte, dieser Irrtum wird noch lange nachwirken."
Anderthalb Jahrzehnte vor Gorbatschows "Perestroika" gab es kaum Anzeichen für eine Möglichkeit, den Ost-West-Konflikt grundlegend zu überwinden – und damit auch neue Bedingungen für eine deutsche Wiedervereinigungspolitik vorzufinden. Hätte es solche Möglichkeiten gegeben, hätte Wehner – wie gewiss auch Willy Brandt oder Helmut Schmidt – entschlossen zugegriffen. Was die damaligen Realitäten aber den Deutschen erlaubten, wollte Wehner möglich machen. "Worum es mir gegangen ist", schrieb er an Binder, "möchte ich so zusammenfassen: Verträge als Grundlage einer auf lange Jahre sich erstreckenden Kette von Bemühungen, die zwischenstaatlichen Verhältnisse allmählich so zum beiderseitigen Vorteil der Beziehungen zu behandeln, wie solche Beziehungen überhaupt zwischen so grundverschiedenen Staaten erreichbar sind. Ohne die schlechtverstandene Formel vom ‚Wandel durch Annäherung’ hineinspielen zu lassen. Dabei denke ich mehr an Berlin als viele, die es dauernd im Munde führen."
Herbert Wehner betrieb 1973 und 1974 weder Intrige noch Kumpanei mit Honecker noch gar einem "Hochverrat". Die schriftlichen Quellen machen den roten Faden von Wehners Ostpolitik deutlich sichtbar: Ihm ging es darum, Brandts Politik zu stärken, die innerdeutsche und Berliner Grenze so durchlässig zu machen wie es nur irgend ging und damit für menschliche Erleichterungen im geteilten Deutschland zu sorgen.
Zitierweise: Christoph Meyer, Der Mythos vom Verrat. Wehners Ostpolitik und die Irrtümer von Egon Bahr, in: Deutschland Archiv Online, 19.12.2013, http://www.bpb.de/175147