Der Staatsakt wurde am 10. November 1988 im Plenarsaal des Deutschen Bundestags, dem damaligen Provisorium im Bonner Wasserwerk, vollzogen. Die Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome 1938
Intellektuell und akademisch war wenig zu beanstanden an dem Text, den Jenninger vortrug. Mit dem Vortrag des komplizierten Manuskripts, das ein Mitarbeiter, gestützt auf die Ergebnisse historischer Forschung, in langer Mühe ausgearbeitet hatte, war der Politiker überfordert. Die Rede selbst enthielt aber auch Schwächen. Den falschen Zungenschlag zu Beginn der Ansprache haben die wenigsten bemerkt, die Delegation nämlich der Erinnerung als jüdisches Problem des Gedenkens, abgesetzt gegen "auch wir Deutschen erinnern uns". Kritik und Bestürzung des Auditoriums kristallisierten sich dann an eintönig vorgetragenen Zitaten aus dem Wörterbuch des Unmenschen, an scheinbar affirmativen Wendungen, an nicht eindeutig erkennbarer Distanz zum dargestellten historischen Befund, wenn der Bundestagspräsident vom Faszinosum der Jahre 1933 bis 1938 sprach, vom "politischen Triumphzug Hitlers", von "den staunenerregenden Erfolgen", die eine "nachträgliche Ohrfeige für das Weimarer System" gewesen seien. Und schließlich die rhetorischen Fragen an die Juden, die das Publikum missverstehen musste wegen der Unzulänglichkeit des Vortrags: "Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt, die ihnen nicht zukam? Mußten sie nicht endlich einmal Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht sogar verdient, in ihre Schranken verwiesen zu werden?"
Die Zuhörer mochten glauben, der Redner hätte sich diese Denkfiguren zu Eigen gemacht. Nicht wenige Parlamentarier verließen demonstrativ den Saal. Jenninger schied am folgenden Tag aus dem Amt. Er bedauerte, dass seine Rede missverstanden worden sei. Seine persönliche Integrität stand jederzeit außer Zweifel. Tief enttäuscht ergriff er im Bundestag nie mehr das Wort.
Intention und Vortrag
Der Wortlaut der Gedenkrede ist seither oft analysiert worden und er wird im Deutschunterricht und in der Rhetorik-Ausbildung als Material benutzt. Die Intention war eindeutig und wurde unmittelbar nach dem Begrüßungszeremoniell deutlich ausgesprochen: Man habe sich im Deutschen Bundestag zusammengefunden, "um hier im Parlament der Pogrome vom 9. und 10. November 1938 zu gedenken, weil nicht die Opfer, sondern wir, in deren Mitte die Verbrechen geschahen, erinnern und Rechenschaft ablegen müssen, weil wir Deutsche uns klarwerden wollen über das Verständnis unserer Geschichte und über Lehren für die politische Gestaltung unserer Gegenwart und Zukunft."
Sieben Jahre später berichtete Ignatz Bubis eher beiläufig anlässlich einer Podiumsdiskussion, er habe 1989 Passagen der Rede Jenningers bei zwei Gelegenheiten vorgetragen, bei Gedenkfeiern in der Frankfurter Synagoge zur Befreiung von Auschwitz und zu den Novemberpogromen. Nicht nur habe niemand Anstoß genommen, es sei auch von niemandem bemerkt worden, dass er aus dem ominösen Text vorgetragen habe. Diese Eröffnung wurde als mediale Sensation aufgemacht.
Druck von vielen Seiten – Rücktritt aus falschen Gründen
In seiner Rücktrittserklärung sagte Jenninger, die Reaktionen auf seine Ansprache vor dem Bundestag hätten ihn erschreckt und bedrückt. Er bedauere zutiefst, dass seine Rede von vielen Zuhörern nicht so verstanden worden sei, wie er sie gemeint habe. Es tue ihm leid, wenn er andere in ihren Gefühlen verletzt habe. Es war ihm aber auch wichtig, seine persönliche Integrität zu betonen. Während seiner ganzen politischen Karriere habe er sich "in besonderer Weise für die Aussöhnung mit den Juden und für die Lebensinteressen des Staates Israel engagiert". Stets sei er ein kompromissloser Gegner jeder Form totalitärer Herrschaft gewesen, "nicht zuletzt wegen der Erfahrungen meiner Eltern unter dem NS-Regime, die gegen die Diktatur eingestellt waren und dafür Nachteile in Kauf nehmen mußten".
Zur Schadensbegrenzung war erheblicher Druck aus den Reihen der Parteifreunde von CDU und CSU auf Jenninger ausgeübt worden. Bundeskanzler Kohl überließ das Geschäft des Drängens dem amtierenden Fraktionsvorsitzenden Theo Waigel. Den Nationalkonservativen in der Fraktion war Jenninger tatsächlich inhaltlich zu weit gegangen, weil er sich nicht mit erinnern, gedenken und mahnen begnügen, sondern erklären wollte, wie einig die deutschen Partei- und Volksgenossen einst mit dem "Führer" gewesen waren. Jenninger hatte erstmals versucht, mit der Lebenslüge aufzuräumen, nach der Adolf Hitler mit einer verbrecherischen Entourage Macht über die Deutschen gewonnen und das Volk (angeblich gegen dessen Wissen und Willen) ins Verderben geführt habe. Dass er nach dem Debakel seiner Rede das Amt des Bundestagspräsidenten aufgeben müsse, wurde Jenninger eindringlich klar gemacht. Dass er den Widerstand so rasch aufgab, spricht für sein Politikverständnis, nicht für seine Einsicht. Denn in der ARD-Sendung "Bericht aus Bonn" hatte der demissionierte Politiker am 11. November 1988, dem Tag des Rücktritts erklärt: "Nicht alles darf man beim Namen nennen in Deutschland".
Das fatale Diktum stand im vollkommenen Gegensatz zum aufklärerischen Bemühen der misslungenen Rede. Jenninger nahm den Text in eine Sammlung seiner Reden auf und kommentierte ihn im Nachwort wie folgt: "Auf Seite 171 steht der Satz: ‚Unsere Kinder und Enkel werden eines Tages fragen, warum habt ihr den Nationalsozialismus nicht verhindert und warum habt ihr nicht zu einem Zeitpunkt, als Handeln noch möglich war, das Menschenmögliche getan?‘ Genau auf diese Frage versuchte ich in meiner Rede am 10. November 1988 vor dem Deutschen Bundestag eine Antwort zu geben, die aber leider viele nicht hören wollten und die nicht überall Zustimmung gefunden hat."
Nachspiel
Der Eklat hatte eine politische Vorgeschichte und ein groteskes Nachspiel im Parlament. Die Fraktion der Grünen hatte als Gedenkredner den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Heinz Galinski, vorgeschlagen. Als Jenninger darauf beharrte, als Parlamentspräsident zu sprechen, wurde Widerstand angekündigt, der sich gleich zu Beginn seiner Rede durch störende Zwischenrufe bemerkbar machte. In vorderster Reihe der Störer tat sich die Abgeordnete Jutta Oesterle-Schwerin (in der Presse als Deutsch-Israelin apostrophiert) hervor. Für die Sitzung des Bundestags am Nachmittag des 10. November 1988 hatte sie wohl spontan eine persönliche Erklärung angekündigt. Das war die Rache der Grünen, auch dafür, dass ihre Fraktion nicht zu den Beratungen über den eingetretenen Schaden durch Jenningers Rede eingeladen war. Frau Oesterle-Schwerin, schon wegen ihrer vormittäglichen Kundgebungen gegen Jenninger mit Unmut aus den Reihen der CDU/CSU empfangen, sagte, sie sei bekanntlich gegen die Gedenkstunde gewesen: "Ich war der Meinung, dass ein Bundestag, der sich in dieser Legislaturperiode geweigert hat, die überlebenden Opfer, die Sinti und Roma, die Zwangssterilisierten und die Homosexuellen, angemessen zu entschädigen, nicht das Recht hat, eine solche Gedenkstunde zu veranstalten." Die Zurufe steigerten sich zum Tumult, nachdem die Abgeordnete sich einigermaßen beleidigend über Jenninger ausgelassen und seine Rede als Beweis dafür bezeichnet hatte, "daß der Antisemitismus auch im Herzen von vielen Mitgliedern dieses Hauses noch vorhanden ist." Vizepräsidentin Annemarie Renger verbat sich solche Beleidigung des Hohen Hauses, die Provokation war aber kalkuliert. Auf mehrmaligen Bitten zur Sachlichkeit, Wortentzug und die Aufforderung das Podium zu verlassen reagierte die Abgeordnete nicht. Sie war offenbar entschlossen, sich von Saaldienern wegschleppen zu lassen. Die Sitzung musste unterbrochen werden, um den Radau zu beenden.
Philipp Jenninger war als Politiker ebenso hoch konservativ wie integer, tüchtig und loyal. Er gehörte zur engsten Umgebung Helmut Kohls und er war wohl der Prototyp des redlichen Funktionärs im zweiten Glied, wie er benötigt wird, um den Apparat in Bewegung zu halten. Auch als Diplomat hat er sich nach seinem Sturz bewährt, als Botschafter der Bundesrepublik in Österreich 1991 bis 1995 und beim Vatikan 1995 bis 1997. Nicht eben schwierige Posten, aber ehrenvolle Kompensationen für das, was ihm im November 1988 widerfuhr, der Sturz vom zweithöchsten Amt der Bundesrepublik, womit er mit unüblicher Noblesse umging. Ein Artikel zu seinem 70. Geburtstag warf die Frage auf, weshalb Philipp Jenninger damals sein Amt verlor, "während der Politiker Möllemann noch immer stellvertretender Vorsitzender der FDP ist." Jenninger habe, so die Süddeutsche Zeitung 2002, im Deutschen Bundestag "eine gescheite, politisch korrekte Rede über Fragen gehalten … wie es in Deutschland zur Hitlerei und zur Judenverfolgung kommen konnte. Wohingegen Jürgen W. Möllemann sich ganz offensichtlich um Stimmen bei Leuten bemüht, die wieder verstehen können, dass und warum man etwas gegen Juden haben sollte."
Philipp Jenninger und die jüdische Schauspielerin Ida Ehre während der Gendenkveranstaltung im Deutschen Bundestag. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00192391, Foto: Lothar Schaack)
Philipp Jenninger und die jüdische Schauspielerin Ida Ehre während der Gendenkveranstaltung im Deutschen Bundestag. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00192391, Foto: Lothar Schaack)
Ein Film
Zitierweise: Wolfgang Benz, Unglücklicher Staatsakt - Philipp Jenningers Rede zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome 1938, in: Deutschland Archiv Online, 04.11.2013, Link: http://www.bpb.de/171555